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Leo Trotzki 19300528 Was ist Zentrismus?

Leo Trotzki: Was ist Zentrismus?

[Nach Die Aktion, 20. Jahrgang, Heft 1/2 (August 1930) Spalte 1-6]

In der Zeitung „Cri du Peuple", dem Organ der Monattisten und der städtischen Clique der Popisten (POP – Parti ouvrier paysan – Arbeiter-Bauern-Partei), wendet sich Chambellan in einem Offenen Brief an die „Zentristen" – die Aufklärungs-Funktionäre der linken unitären Opposition. Ich gehe nicht auf diesen Brief ein, in dem, wenn überhaupt etwas, nur das völlige Fehlen einer revolutionären Idee interessant ist. Mich interessiert nur ein Punkt: Chambellan nennt die Kommunisten-Aufklärer „Zentristen". Sein Gedanke – ich setze voraus, dass hier doch ein Gedanke ist – ist scheinbar folgender: Auf der einen Seite stehen die Anhänger der syndikalistischen Autonomie, d. h. die Freunde Monattes mit den Popisten, auf der anderen Seite – die Anhänger der bürokratischen Unterwerfung der Gewerkschaften unter die Partei, d. h. die offizielle unitare Leitung und in der Mitte stehen die kommunistischen Oppositionellen, die nicht genügend energisch für die „Autonomie" kämpfen und die sich nicht entschließen, mit dem Kommunismus zu brechen. Das eben sind die „Zentristen", denn sie stehen im Zentrum. Da aber die linke Opposition im Kampf mit dem Zentrismus groß geworden ist, so feiert Chambellan den ersten Sieg vor dem Kampf, indem er sie auf diesem Widerspruch festnagelt. Für einen Naturforscher gibt es nichts Unbedeutendes in der Natur. Für einen Marxisten nichts Unbedeutendes in der Welt der Politik: die leichtsinnige Klassifikation Chambellans kann einige revolutionäre Begriffe näher feststellen helfen. Gerade das wollen wir hier tun.

Von Grund aus ist es falsch zu denken, dass der Begriff „Zentrismus" geometrisch oder topographisch, wie in den Parlamenten, bestimmt wird. Für Marxisten werden politische Begriffe nach materiellen und nicht nach formellen Gesichtspunkten bestimmt, d. h. nach dem Klasseninhalt der Ideen und Methoden.

Alle drei Grundtendenzen der zeitgenössischen Arbeiterbewegung: Reformismus, Kommunismus und Zentrismus folgen notwendig aus der objektiven Lage des Proletariats im heutigen, imperialistischen Regime der Bourgeoisie.

Der Reformismus ist die Strömung, die auf dem Boden der privilegierten Spitzen des Proletariats sich entwickelt und deren Interessen widerspiegelt. Die Arbeiter-Aristokratie und Bürokratie ist eine sehr breite und mächtige Schicht, besonders in einigen Ländern, größtenteils kleinbürgerlich in Lebenshaltung und Denkungsweise, aber genötigt, sich an das Proletariat anzupassen, auf dessen Rücken sie emporgekommen ist. Die Spitzen dieser Schicht gelangen durch den bürokratischen und parlamentarischen Apparat der Bourgeoisie zu den Höhen der Macht und des Wohlstandes. In der Person irgendeines Thomas, MacDonald, Hermann Müller, Paul Boncour usw. haben wir einen konservativen Groß-Bourgeois, teilweise mit kleinbürgerlicher Denkungsart, öfter aber mit kleinbürgerlicher Heuchelei, auf die proletarische Basis berechnet. Mit anderen Worten wir haben in einem sozialen Typus 3 Klassenschichten. Das Verhältnis dieser Elemente ist so: Der Großbürger beherrscht den Kleinbürger und der Kleinbürger betrügt den Arbeiter. Ob der Großbürger bei sich in der Bank oder im Ministerium sitzt und den Thomas nur durch den Eingang „für Dienstboten und Lieferanten" einlässt oder ob er den Bürger Thomas selbst an seinem Reichtum und an seinen Ideen teilnehmen lässt, – diese Frage ist zwar zweiter Ordnung, aber lange nicht gleichgültig. Die imperialistische Phase der Entwicklung, die alle Widersprüche sehr verschärft, zwingt meistens die Bourgeoisie, das leitende Häufchen der Reformisten zu direkten Aktionären ihrer Trust- und Regierungskombinationen zu machen. Dieser Umstand stellt eine neue, unvergleichlich höhere Stufe der Abhängigkeit des Reformismus von der imperialistischen Bourgeoisie dar, und drückt einen krassen Stempel auf die Psychologie und Politik des Reformismus, indem er ihn zur direkten Verwaltung der Staatsgeschäfte der Bourgeoisie tauglich macht.

Von der oberen Schicht der Reformisten kann man am wenigsten sagen, sie haben „nichts zu verlieren als ihre Ketten". Im Gegenteil, die sozialistische Umwälzung bedeutet für alle diese Premiers, Minister, Bürgermeister, Deputierten, Konzern-Führer und Lenker eine Expropriation ihrer privilegierten Stellung. Diese Kettenhunde des Kapitals schützen eigentlich nicht das Eigentum an sich, sondern vor allem ihr Eigentum. Das sind tollwütige Feinde der Befreiungsrevolution des Proletariats. Im Gegensatz zum Reformismus verstehen wir unter revolutionär-proletarischer (marxistisch-kommunistischer) Politik ein System von Ideen und Methoden des Kampfes, die auf revolutionären Sturz des bürgerlichen Staates gerichtet sind, durch vorläufige Vereinigung des Proletariats unter der Fahne seiner Diktatur und der sozialistischen Umänderung der Gesellschaft. Die Initiative zu dieser Aufgabe kann nur die vorderste, bewussteste und aufopferungsvollste Minderheit der Arbeiterklasse auf sich nehmen, die, auf das bestimmte, wissenschaftlich begründete und eng formulierte Programm sich stützend, allmählich auf Grund der Kampferfahrungen die Majorität des Proletariats für die sozialistische Revolution gewinnt. Der Unterschied zwischen der Partei, die durch Ideen-Auslese geschaffen wird, und der Klasse, die automatisch durch den Gang der Produktion formiert wird, kann nicht unter dem kapitalistischen System verschwinden, das die ausgebeuteten Massen zum ideologischen Vegetieren verurteilt. Erst nach dem Siege des Proletariats, bei wirklichem wirtschaftlichem und kulturellem Aufstieg der Massen, d. h. während des Prozesses der Liquidierung der Klassen wird die Partei allmählich in den Werktätigen aufgehen, bis sie mit dem Staat völlig verschwindet. Von der proletarischen Revolution reden und dabei die Rolle der kommunistischen Vorhut leugnen, können nur Schwätzer oder selbstgefällige Kämpfer hoffnungsloser Sekten.

Das sind die zwei Grundströmungen in der internationalen Arbeiterklasse: einerseits Sozial-Imperialismus, andererseits der revolutionäre Kommunismus. Zwischen diesen beiden Polen liegt eine Menge aller möglichen Übergangsströmungen und Gruppierungen, die ununterbrochen ihre Phasen verändern und immer im Zustand der Veränderung, der Häutung, der Bewegung sich befinden: entweder vom Reformismus zum Kommunismus, oder vom Kommunismus zum Reformismus. Diese zentristischen Strömungen haben keine bestimmte soziale Basis und können ihrem Wesen nach keine haben. Während der Reformismus die Interessen der privilegierten Spitzen der Arbeiterklasse ausdrückt, der Kommunismus aber die Fahne des wirklichen Proletariats ist, das sich von der geistigen Beeinflussung der reformistischen Spitzen befreit, spiegelt der Zentrismus die Übergangsprozesse im Proletariat wieder, die Schwankungen seiner verschiedenen Schichten, die Schwierigkeiten des Übergangs zu revolutionären Positionen. Eben darum sind die zentristischen Massenorganisationen nie im Gleichgewicht und nie langlebig.

Es ist wahr, in der Arbeiterklasse bildet sich eine bestimmte Schicht, der sozusagen beständigen Zentristen, die nicht mit dem Reformismus bis zu Ende gehen wollen, die aber organisch unfähig sind, den revolutionären Weg einzuschlagen. Solch ein klassischer Typus eines ehrlichen Arbeiter-Zentristen war in Frankreich der alte Bourderon. Ein noch leuchtenderer und glänzenderer Vertreter desselben Typus ist in Deutschland der alte Ledebour. Aber die Massen bleiben nie lange im Zwischenstadium: Nachdem sie zeitweise den Zentristen zugehörten, gehen sie zu den Kommunisten oder kehren zu den Reformisten zurück, oder werden zeitweise indifferent. So hat sich der linke Flügel der französischen sozialistischen Partei in die kommunistische Partei verwandelt, wobei die zentristischen Führer am Wege liegen gelassen wurden. So ist die Unabhängige Partei in Deutschland verschwunden, indem sie ihre Anhänger an die Kommunisten abgab, oder sie den Sozialdemokraten zurückgab. So ist die „Zweieinhalbinternationale" von der Bühne verschwunden. Dieselben Prozesse sehen wir in der Gewerkschaftsbewegung: Die zentristische „Unabhängigkeit" der britischen Trade-Unions von Amsterdam verwandelte sich im Moment des Generalstreiks in die vollkommen gelbe Amsterdamer Politik des Verrats.

Das Verschwinden der oben als Beispiel genannten Organisationen bedeutet durchaus nicht, dass der Zentrismus sein letztes Wort gesagt hat, wie einige kommunistische Bürokraten denken, die ideologisch selbst sehr nahe dem Zentrismus stehen. Bestimmte Massenorganisationen oder Strömungen verschwanden, nachdem die unmittelbare Nachkriegsphase in der Arbeiterbewegung Europas beendet war. Die Verschärfung der heutigen Weltkrise und die neue wirkliche Radikalisierung der Massen werden unbedingt neue zentristische Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften ebenso wie in den unorganisierten Massen hervorrufen. Nicht ausgeschlossen ist es, dass diese zentristischen Massenströme jemanden von den alten zentristischen Führern emporheben werden, aber wiederum nicht auf längere Zeit:. Die Politiker des Zentrismus innerhalb der Arbeiterbewegung ähneln einer Henne, die Entenküken ausbrütet und dann vorwurfsvoll am Ufer gackert: Ist es nicht gewissenlos von den Kindern, die ehrliche „autonome" Henne zu verlassen und auf den Wassern des Reformismus oder Kommunismus zu schwimmen? Wenn Chambellan sich umsieht, wird er ohne Schwierigkeit einige ehrbare Hennen finden, die gerade jetzt mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig, die Eier des Reformismus ausbrüten.

Gerade die Arbeiter-Bürokratie hatte in der Vergangenheit, wann und wo sie nur konnte, sich mit dem leeren Prinzip der „Autonomie", der „Unabhängigkeit" usw. gedeckt, auf diese Weise ihre eigene Unabhängigkeit von den Arbeitern schützend: denn wie kann der Arbeiter seine Bürokratie kontrollieren, wenn sie nicht unter einem bestimmten prinzipiellen Banner steht? Wie bekannt, haben sich die deutschen und britischen Gewerkschaften unabhängig von irgendwelchen Parteien erklärt; die amerikanischen Tradeunions prahlen auch heute damit. Aber die oben gezeigte Evolution des Reformismus, die ihn endgültig mit dem Imperialismus verbunden hat, erschwert den Reformisten die Möglichkeit, das Etikett der Autonomie mit der früheren Freiheit zu gebrauchen. Desto eifriger greifen die Zentristen nach der Fiktion der Autonomie. Ihre Natur besteht eben darin, dass sie die Autonomie ihrer eigenen Unentschlossenheit und Halbheit wie vom Reformismus, so auch vom Kommunismus schützen. Auf diese Weise ist die Idee der Autonomie, die in der Geschichte der Welt-Gewerkschaftsbewegung hauptsächlich das Banner des Reformismus war, jetzt zum Banner des Zentrismus geworden. Aber welchen Zentrismus?

Oben ist schon gesagt, dass der Zentrismus entweder nach links zum Kommunismus oder nach rechts zum Reformismus sich bewegt.

Wenn Chambellan sich die Geschichte seiner eigenen Gruppe, wenn auch nur vom Anfang des imperialistischen Krieges bis zum heutigen Tage, ansieht, wird er leicht einer Bestätigung dieser Worte finden. In der jetzigen Zeit rücken die „autonomen" Gewerkschaften sichtlich von links nach rechts, vom Kommunismus zum Reformismus. Sie haben sogar das Etikett des Kommunismus weggeworfen. Das macht sie eben mit den Popisten verwandt, die dieselbe Entwicklung durchmachen, nur noch hemmungsloser. Der Zentrismus, der nach links rückt und die Massen vom Reformismus trennt, erfüllt in gewissem Sinne eine fortschrittliche Funktion, was uns natürlich nicht hindern darf, auch in diesem Falle unversöhnlich die Halbheit des Zentrismus zu entlarven, um so schnell wie möglich die fortschrittliche Henne am Ufer zurückzulassen. Wenn aber der Zentrismus versucht, die Arbeiter von der kommunistischen Fahne wegzuziehen, um unter der Maskierung der Autonomie die unabwendbare Entwicklung zum Reformismus zu erleichtern, dann erfüllt er keine fortschrittliche, sondern eine reaktionäre Rolle. Das ist jetzt die Rolle des Komitees im Kampf um die Autonomie. „Aber das ist doch beinahe dasselbe was die Stalinisten sagen" – wird Chambellan die Worte seines Artikels wiederholen. Es wird sich hier kaum lohnen, auf die Frage einzugehen, wer einen ernsteren und tieferen Kampf gegen die falsche Politik der Stalinisten führt: die Gruppe Chambellan oder die internationale linke kommunistische Opposition. Aber die Richtung unseres Kampfes ist direkt entgegengesetzt der Richtung des Kampfes der Autonomisten, denn wir drängen auf den Weg des Marxismus und Chambellan und seine Freunde auf den Weg des Reformismus. Natürlich machen sie es nicht bewusst, oh nein! Wir werfen ihnen nicht Überfluss an Bewusstsein vor. Der Zentrismus führt nie eine bewusste Politik. Würde eine Henne bewusst Enteneier brüten? Niemals! Wie ist es möglich – höre ich jetzt die Entgegnung –, zu gleicher Zeit solche Antipoden wie Chambellan und Monmousseau den Zentristen zuzuzählen? Das kann nur dem paradox erscheinen, der den paradoxen Charakter des Zentrismus nicht versteht, der nie er selbst bleibt und sich beinahe niemals im Spiegel erkennt, wenn man ihn ihm sogar vor die Nase hält.

Die Zentristen des offiziellen Kommunismus haben in den letzten 2 Jahren eine scharfe Zickzacklinie von rechts nach links gemacht. Monatte und seine Freunde von links nach rechts. Die Führer der Komintern und der Profintern mussten Hals über Kopf die Welle einholen, die sie verpasst hatten. Durch ihre abenteuerlichen Sprünge erschrocken, beeilen sich die Zentristen von Chambellans Typus der neuen Welle, die sich am Horizont bemerkbar macht, den Rücken zu kehren. In solchen Zwischenperioden, zwischen zwei Fluten, trifft die Desorganisation zuerst das Lager des Zentrismus, indem sie völlig auseinandergehende Bewegungen in ganz verschiedenen Richtungen erzeugt. Nichtsdestoweniger stellt Chambellan, oder, um der Sache näherzukommen, stellen Monatte, und Monmousseau zwei Seiten ein und derselben Medaille dar. Ich halte es für notwendig, daran zu erinnern, wie die heutigen Führer der Unitaren Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei die gewerkschaftlichen Fragen noch vor 6 Jahren ansahen, als sie schon am Ruder der offiziellen Partei standen und, beiläufig gesagt, als sie schon ihren Kampf gegen den „Trotzkismus" angefangen hatten. Im Januar 1924, nach dem bekannten blutigen Meeting im Gewerkschaftshause, haben die Leiter der Unitaren Confédération, die sich beeilten, nicht nur jede Verantwortung für die Handlungen der Partei, sondern auch irgendwelche Solidarität mit ihr abzuleugnen, in der feierlichen „Deklaration der Allgemeinen Unitaren Confédération der Arbeit" geschrieben:

„ … Ebenso besorgt um die organisatorische und administrative Autonomie der Parteien und Sekten, wie um die Autonomie der Confederation, haben die verantwortlichen Stellen der CGTU keinen Grund gehabt, die Frage des Meetings, das die Seine-Föderation der kommunistischen Partei und Jugend unter ihrer Verantwortung organisiert hatten, zu besprechen …

Wie auch der Charakter der Versammlungen und der Aktionen von Parteien, Sekten und Außengruppierungen sein mag, die Exekutivkommission und das Büro der Confédération haben ebenso wenig heute wie gestern die Absicht, ihre Macht in irgendwelche andere Hände zu übergeben. Sie werden die Kontrolle und Führung über die Tätigkeit der C. gegen alle äußeren Anschläge zu beschützen wissen.

Die CGTU hat weder das Recht, noch die Pflicht, eine Zensur gegen die äußeren Gruppierungen, ihre Programme und Ziele auszuüben; sie kann keine von ihnen verbieten, ohne damit die notwendige Neutralität gegen die verschiedenen Parteien zu verletzen."

So lautet wahrhaftig dieses unvergleichliche Dokument, das für immer ein Denkmal kommunistischer Klarheit und revolutionären Mutes bleiben wird. Unter dem Dokument lesen wir folgende Unterschriften:

Monmousseau, Semard, Rakomon, Dudillier, Berrard.

Es scheint mir, dass die linken Kommunisten nicht nur die „Deklaration" im vollen Wortlaut drucken, sondern ihr auch die Popularität verschaffen müssten, die sie verdient. Niemand weiß, welche Überraschungen noch bevorstehen. In den Jahren, die nach der Unterschrift der Deklaration, in welcher Monmousseau, Semard und Cie. ihre strengste Neutralität gegenüber dem Kommunismus und anderen Sekten kundgaben, verflossen sind, haben sie nicht wenig opportunistische Heldentaten begangen. Im Besonderen haben sie gehorsam die Politik des anglo-russischen Komitees mitgemacht, die ganz auf der Fiktion der Autonomie aufgebaut war: die Partei MacDonald und Thomas ist eins – lehrte Stalin –, aber die Trade-Unions von Thomas und Purcell – etwas ganz, ganz anderes. Nach dem Thomas mit Hilfe seines Purcell die kommunistischen Zentristen genarrt hatte, erschraken die letzteren vor sich selbst. Gestern noch wollte Monmousseau, dass die Gewerkschaften gleich unabhängig von allen und jeden Parteien und Sekten wären. Heute will er, dass die Gewerkschaften einfache Schatten der Partei wären, damit die Gewerkschaften in Sekten verwandelnd. Was ist der heutige Monmousseau oder Monmousseau Nr. 2? Das ist der vor sich selbst erschrockene und auf die linke Seite gewendete Monmousseau Nr. 1. Was ist Chambellan? Das ist der gestrige Kommunist, der vor Monmousseau Nr. 2 erschrak und sich in die Arme von Monmousseau Nr. 1 geworfen hat. Ist es nicht klar, dass wir Varianten einer Art oder zwei Stadien einer Verwirrung vor uns haben? Monmousseau schreckt die Arbeiter mit dem Gespenst von Chambellan. Chambellan schreckt die Arbeiter mit dem Gespenst Monmousseaus. Aber im Grunde genommen schaut jeder von ihnen in den Spiegel und droht sich selbst mit der Faust.

So sieht die Sache aus, wenn man die Frage etwas ernster betrachtet, als es der „Cri du Peuple" („Schrei des Volkes") tut, in dem übrigens mehr Schrei als Volk ist. Der Kommunismus ist nicht eine der „Parteien oder Sekten". Der Kommunismus ist die um das Programm der sozialistischen Revolution versammelte Avantgarde der Arbeiterklasse. Eine solche Organisation gibt es in Frankreich noch nicht. Es gibt ihre Elemente, teilweise Splitter. Wer den Arbeitern sagt, dass sie solch eine Organisation nicht nötig haben, dass das Proletariat sich selbst führt, dass die Arbeiterklasse reif genug ist, ohne Führung ihrer eigenen Avantgarde auszukommen, – der ist ein Schmeichler, ein Höfling des Proletariats, ein Demagoge, aber kein Revolutionär. Ein Verbrechen ist es, die Wirklichkeit zu versüßen. Man soll den Arbeitern die Wahrheit sagen und sie lehren, die Wahrheit zu schätzen. Chambellan irrt bitter, wenn er denkt, dass die linken Kommunisten im „Zentrum", zwischen Monmousseau und ihm, Chambellan, stehen. Nein, sie stehen über beiden. Die Position des Marxismus steht erhöht über allen Variationen des Zentrismus und über allen Etappen seiner Schwankungen. Nur jene Strömung in der Arbeiterklasse wird in Wirklichkeit die Gewerkschaften befruchten und sie in Massenorganisationen mit tatsächlich revolutionärer Leitung verwandeln können, die die marxistische Auffassung von dem Verhältnis der Klasse und ihrer revolutionären Avantgarde zu Ende denkt und in ihr Blut und Fleisch aufnimmt. In dieser Grundfrage gibt es keinen Platz für Zweideutigkeiten und Konzessionen. Hier ist Klarheit notwendiger als irgendwo sonst.

28. Mai 1930.

L. Trotzki.

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