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Leo Trotzki 19310115 Aus einem alten Brief über die Bordigisten

Leo Trotzki: Aus einem alten Brief über die Bordigisten

[nach Internationales Bulletin der Kommunistischen Linksopposition, No. 17, Juni 1932, S. 7-9]

[Kritische Bemerkungen anlässlich der Resolution der Gruppe Prometeo über den Kampf für demokratische Losungen.]

und nun einige Worte über unsere bordigistischen Freunde.

Lässt man den 3. § ihrer Resolution, der von ihnen selbst ganz mechanisch, ohne jeden Zusammenhang mit dem Text, eingeschoben ist, beiseite, so stellt sich bei ihnen die Sache folgendermaßen dar: Die Demokratie ist ein Prinzip der Ausbeuter; die revolutionären Parteien haben dies früher nicht begriffen; die Russen schwankten 1917 zwischen Demokratie und Diktatur; erst die Bordigisten haben das reine Prinzip der Diktatur entdeckt. Nachdem nun dieses Prinzip entdeckt ist, wird jeder Gebrauch demokratischer Losungen reaktionär: mit andern Worten: die Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung ist ersetzt durch die Metaphysik der Entwicklung eines Sektenzirkels. Der Gedankengang der Bordigisten entspricht durchaus dem Geiste der rationalistischen Aufklärerei des 18. Jahrhunderts; früher herrschten Irrtümer und Vorurteile, nun ist das wahre Prinzip der Gesellschaft entdeckt, auf dessen Grundlage sie fortan bestehen muss; denn da wir Aufklärer dies verstanden haben, bleibt nur die Kleinigkeit – die Gesellschaft umzubauen. Das Kuriosum besteht darin, dass die Aufklärer gerade das Prinzip der Demokratie entdeckten, welches sie formell der gesamten vorangegangenen Entwicklung der Menschheit als absoluten Anfang gegenüberstellten. Die Bordigisten haben nichts entdeckt, sondern einfach der russischen Revolution das Prinzip der Diktatur des Proletariats entlehnt, um es, von jeder historischen Realität befreit, als absolute Wahrheit dem absoluten Irrtum der Demokratie gegenüberzustellen. Dies beweist, dass sie sowohl in der Theorie und Praxis der russischen Revolution, als auch, nebenbei bemerkt, des Marxismus im Ganzen absolut nichts verstanden haben. Sie unterziehen sich nicht der Mühe, zu erklären, was sie denn eigentlich unter Demokratie verstehen. Anscheinend nur den Parlamentarismus. Was aber soll geschehen mit einer solchen Kleinigkeit wie z.B. die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien? Das ist eine rein demokratische Losung. Es handelt sich um die Befreiung einer Nation von einer anderen. (Natürlich werden uns die Bordigisten sofort erklären, dass dies Klassen-Nationen sind, was wir Sünder nie geahnt haben; doch das Wesen der Sache besteht gerade darin, dass es um die Befreiung einer Nation des bürgerlich-feudalen Kolonialtypus von einer andern, des bürgerlich-imperialistischen Typus geht,) Was soll nun mit der demokratischen Losung der nationalen Unabhängigkeit geschehen? An dieser Frage haken unsere weisen Kritiker vorbeigeschaut.

Sollen die Kommunisten gegen Gewaltanwendungen und Schikanen der Polizei kämpfen, die gegen die Presse-, Streik- und Versammlungsfreiheit gerichtet sind. Und was bedeutet das, wenn nicht den Kampf um Demokratie?

Was soll in demselben Indien oder in Ungarn oder in vielen anderen Ländern mit der Agrarfrage geschehen? Wir wissen, dass der Bodenhunger der Bauern sie veranlassen kann, die Diktatur des Proletariats sogar in einem so rückständigen Lande wie Indien zu unterstützen. Doch um diese Möglichkeit zu verwirklichen, bedarf man einer Reihe konkreter historischer Bedingungen, darunter auch eines richtigen Verständnisses für das agrar-demokratische Problem. Die indischen Bauern kennen nicht die Diktatur des Proletariats, und werden sie erst kennen lernen, wenn sie mit ihrer halb bewussten Unterstützung verwirklicht sein wird. Ich sagte: halb bewussten, weil der indische Bauer, bei all seiner Beschränktheit, bei all der Unklarheit seiner politischen Ansichten, doch ganz bewusst den Boden in seine Hände nehmen will und diesen Willen in der Formel zum Ausdruck bringt, dass der Boden nicht den Grundbesitzern sondern dem Volke gehören soll. Das ist ein rein revolutionär-demokratisches Programm, welches die Liquidierung sämtlicher Arten und Überreste des Feudalismus bedeutet. Was werden die Bordigisten dem Bauern sagen? Dein Programm is demokratisch, daher also reaktionär. Wir schlagen Dir ein Programm der proletarischen Diktatur und des Sozialismus vor. Voraussichtlich wird ihnen der Bauer mit irgend einer kräftigen Formel in indischer Sprache antworten. Was wir dagegen dem Bauern sagen? Dein demokratisches Bodenprogramm bedeutet einen gewaltigen historischen Schritt vorwärts, in der gesellschaftlichen Entwicklung. Wir Kommunisten verfolgen ein radikaleres historisches Ziel, aber wir unterstützen voll und ganz deine demokratische Aufgabe und machen sie für die gegenwärtige Periode zu der unsrigen. Nur auf diesem Wege kann man die Bauernschaft dazu bringen, dass sie im Verlaufe ihres eigenen Kampfes die Diktatur des Proletariats unterstützt.

Das Kuriosum besteht darin, dass die Bordigisten hier als eigene Entdeckung denselben Humbug servieren, den die Stalinisten und Sinowjewisten mir als permanente Revolution unterschoben. (Überspringung der Demokratie, der Bauernschaft etc.)

Es ist oben schon bemerkt worden, dass die Bordigisten den umgekehrten parlamentarischen Kretinismus bekunden, indem sie das Problem der Demokratie anscheinend völlig auf die Frage der Nationalversammlung und des Parlaments im Allgemeinen zurückführen. Aber auch in den Grenzen der parlamentarischen Fragestellung sind sie vollkommen im Unrecht. Aus ihrer anti-demokratischen Metaphysik müsste die Taktik des Boykotts gegenüber dem Parlament hervorgehen. Auf diesem Standpunkt stand Genosse Bordiga zur Zeit des II.Kongresses, doch hat er sich später von diesem Standpunkt losgesagt. (Ich glaube überhaupt, dass man Bordiga in der Polemik streng von den Bordigisten trennen sollte. Wir kennen seine Ansichten nicht, da die Bedingungen, unter denen er sich befindet, ihn der Möglichkeit, sich zu äußern, entheben. Doch glauben wir, dass Bordiga kaum die Verantwortung auf sich nehmen würde für die karikaturistischen Ansichten der betreffenden Gruppe seiner Schüler), Nicht übel wäre es, den Bordigisten prompt die Frage zu stellen, ob sie für den Boykott oder für die Beteiligung am Parlament sind. Wenn ein kommunistische Abgeordneter mit Übertretung der Immunität verhaftet wird, werden die Bordigisten dann die Arbeiter zum Protest gegen die Übertretung unserer demokratischen Rechte rufen?

Diese Doktinäre wollen nicht verstehen, dass wir die Vorbereitung der Diktatur zur Hälfte, zu drei Vierteln, in gewissen Perioden sogar zu 99/100 auf den Grundlagen der Demokratie führen, wobei wir jede Fußbreite demokratischer Positionen unter unseren Füßen verteidigen. Aber wenn man die demokratischen Positionen der Arbeiterklasse verteidigen darf, so darf man vielleicht auch für sie kämpfen da wo es sie nicht gibt?

Die Demokratie ist eine Waffe des Kapitalismus, belehren uns unsere Kritiker; jawohl, aber eine widerspruchsvolle Waffe, wie der ganze Kapitalismus widerspruchsvoll ist Die Demokratie dient der Bourgeoisie, aber in gewissen Grenzen dient sie dem Proletariat gegen die Bourgeoisie. Das ganze Unglück besteht darin, dass die Bordigisten die Demokratie und die Diktatur des Proletariats nicht als historische Institutionen auffassen, die einander dialektisch ablösen, sondern, als zwei nackte Prinzipien, von denen eins – das Gute, das andere – das Schlechte verkörpern.

Zum Schluss möchte ich noch auf den 5. Punkt, betreffs Russland, hinweisen, als auf eine unglaubliche Kuriosität. Dort wird behauptet, dass die Bolschewiki die Losung der Nationalversammlung „im Laufe einer sehr kurzen Zeit unterstützten, vom Falle des Zarismus bis zum Versuch der Wiederstellung der kapitalistischen Herrschaft“ In Wirklichkeit hat die Sozialdemokratie vom Anfang ihres Bestehens, d.h. vom Jahre 1883, die Losung der Nationalversammlung vorgeschoben. Diese Losung spielte eine gigantische Rolle in der Erziehung des Proletariats, und der Partei, angefangen mit den ersten Jahren des heutigen Jahrhunderts. Unter dieser Losung entwickelte sich die Revolution von 1905. Die ganze Arbeit der Bolschewiki zwischen den zwei Revolutionen stand im Zeichen der Losungen: 1. demokratische Republik, 2. das Land den Bauern (demokratische Agrarumwälzung), 3) 8-Stunden.Tag (Forderung der Arbeiterdemokratie).

Die Bordigisten werden sicherlich erklären, dass all dies ein durchgehender Fehler war, da es der dunklen Periode angehört, in der die absolute Wahrheit der proletarischen Diktatur noch nicht entdeckt war.

15. Januar 1931

L. Trotzki

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