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Leo Trotzki 19310209 Die erdrosselte Revolution

Leo Trotzki: Die erdrosselte Revolution

Ein französischer Roman über die chinesische Revolution

[Nach Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S. 119-130, verglichen mit dem französischen Text]

Andre Malraux' Buch „Die Eroberer“ hatte ich von verschiedener Seite erhalten, ich glaube in vier Exemplaren; leider habe ich es mit einer Verspätung von anderthalb oder zwei Jahren gelesen. Das Buch ist der chinesischen Revolution gewidmet, d. h. dem größten Thema der letzten fünf Jahre. Der dichte und schöne Stil, das scharfe Auge des Künstlers, die originelle und kühne Beobachtung – alles verleiht dem Roman eine außerordentliche Bedeutung. Wenn ich mich hier dazu äußere, so nicht, weil das Buch eine hohe Begabung erkennen lässt, obgleich dieser Umstand nicht irrelevant ist, sondern weil es eine höchst wertvolle Quelle politischer Unterweisungen darstellt. Stammen sie von Malraux? Nein, sie fließen ohne Wissen des Autors und gegen seine Absicht aus der Erzählung selbst – was den Beobachter und Künstler ehrt, nicht jedoch den Revolutionär. Wir sind indessen auch berechtigt, Malraux aus dieser Perspektive zu beurteilen: in seinem eigenen Namen und besonders im Namen Garins, seines zweiten Ich, hält der Autor mit seinen Urteilen über die Revolution nicht zurück.

Das Buch nennt sich Roman. Wir haben in der Tat eine in Romanform gebotene Chronik der ersten, der Kantoner Periode der chinesischen Revolution vor uns. Die Chronik ist nicht vollständig. Der Darstellung fehlt der gesellschaftliche Zugriff. Dagegen erscheinen vor dem Leser nicht nur leuchtende Episoden der Revolution, sondern auch sauber konturierte Silhouetten, die sich wie gesellschaftliche Symbole fest im Gedächtnis einprägen.

Mit kleinen Farbtupfern nach Art der Pointillisten malt Malraux ein unvergessliches Bild vom Generalstreik, freilich weder wie er sich unten abspielt, noch wie er gemacht wird, sondern wie er oben gesehen wird: die Europäer müssen auf ihr Mittagsmahl verzichten, die Europäer kommen um vor Hitze – die Chinesen haben aufgehört, in den Küchen zu arbeiten und die Ventilatoren laufen zu lassen. Das ist kein Vorwurf gegenüber dem Autor: der Ausländer und Künstler hätte anders sein Thema wahrscheinlich nicht anfassen können. Aber man kann ihm etwas anderes, Wichtiges, vorhalten: dem Buch fehlt die natürliche Affinität zwischen dem Verfasser – mag er noch so viel wissen und verstehen – und seiner Heldin, der Revolution.

Die – im übrigen lebhafte – Sympathie des Autors für das aufständische China ist nicht zu bezweifeln. Aber diese Sympathie hat etwas Zufälliges. Sie wird zersetzt von den Exzessen des Individualismus und der ästhetischen Kapriziosität. Bei einer sehr aufmerksamen Lektüre des Buches bereitet es einem bisweilen Verdruss, wenn man im Erzählton einen Anflug gönnerhafter Ironie gegenüber den begeisterungsfähigen Barbaren bemerkt. Dass China rückständig ist, dass einige seiner politischen Demonstrationen den Charakter des Primitiven haben, das zu verschweigen verlangt niemand. Jedoch bedarf es der richtigen Perspektive, die alle Objekte an die rechte Stelle rückt. Die Ereignisse in China, vor deren Hintergrund der „Roman“ Malraux' abrollt, sind für das zukünftige Schicksal der menschlichen Kultur unvergleichlich bedeutungsvoller als der eitle und jämmerliche Lärm der europäischen Parlamente und die Berge von literarischen Produkten der stagnierenden Zivilisationen. Malraux hat anscheinend eine gewisse Scheu, sich das einzugestehen. Im Roman finden sich einige in ihrer Gedrängtheit schöne Seiten, die zeigen, wie der revolutionäre Hass aus der Knechtung, der Unerfahrenheit, der Versklavung entsteht und sich härtet wie der Stahl. Diese Seiten hätten in die Anthologie der Revolution aufgenommen werden können, wenn Malraux die Volksmassen freier und kühner angepackt hätte, wenn er nicht in seine Studie einen Anflug blasierten Überlegenheitsgefühls hätte einfließen lassen, als wolle er sich gleichsam der flüchtigen Bindung, die er mit der Erhebung des chinesischen Volkes eingegangen ist, entschuldigen, und zwar vielleicht sowohl vor sich selbst als auch vor den akademischen Mandarinen in Frankreich und den Opiumhändlern des Geistes.

Borodin ist der Vertreter der Komintern und hat den Posten des „Chefberaters“ bei der Kantoner Regierung inne. Garin, der Liebling des Autors, ist mit der Propaganda beauftragt. Die ganze Arbeit wickelt sich im Rahmen der Kuomintang ab. Borodin, Garin, der russische „General“ Gallen, der Franzose Gerard, der Deutsche Klein u. a. bilden eine originelle Revolutionsbürokratie, die sich über das aufständische Volk erhebt und ihre eigene „revolutionäre“ Politik macht anstatt der Politik der Revolution.

Die lokalen Organisationen der Kuomintang werden so gekennzeichnet: „Vereinigungen einiger offenbar mutiger Fanatiker, einiger Geldleute auf der Suche nach Achtung und Sicherheit, zahlreicher Studenten, Kulis.“ (S. 29 f.) Nicht allein treten die Angehörigen der Bourgeoisie in die Organisation ein, sondern sie haben die Partei völlig in der Hand. Die Kommunisten sind von der Kuomintang abhängig. Man überredet die Arbeiter und Bauern, nichts zu unternehmen, was die von der Bourgeoisie hergekommenen Freunde abschreckt. „Das sind die Vereinigungen, die wir kontrollieren (mehr oder weniger übrigens, täuschen Sie sich nicht!).“ (S. 29) Ein lehrreiches Eingeständnis! Die Bürokratie der Komintern hat versucht, den Klassenkampf in China zu kontrollieren“, wie die Internationale der Banken das ökonomische Leben der rückständigen Länder kontrolliert. Aber eine Revolution lässt sich nicht kommandieren. Man kann lediglich ihren inneren Kräften politisch zum Ausdruck verhelfen. Man muss wissen, mit welcher dieser Kräfte man sein Schicksal verknüpft.

Die Kulis entdecken allmählich, dass sie existieren, einfach, dass sie existieren.“ (S. 31) Das ist treffend gesagt. Aber um zu fühlen, dass sie existieren, müssen die Kulis, Industriearbeiter und Bauern diejenigen, die sie daran hindern, stürzen. Die Fremdherrschaft ist unlöslich mit der Knechtung im Inneren verbunden. Die Kulis müssen nicht nur Baldwin oder MacDonald fortjagen, sondern auch die herrschende Klasse stürzen. Das eine ist ohne das andere nicht zu verwirklichen. So verschmilzt das Erwachen der menschlichen Persönlichkeit in den Massen Chinas, die die Bevölkerung Frankreichs um das Zehnfache übersteigen, unmittelbar mit der Lava der sozialen Revolution. Ein großartiges Schauspiel!

Aber hier betritt Borodin die Szene und erklärt: „In dieser Revolution müssen die Arbeiter die Arbeit der Kulis für die Bourgeoisie übernehmen.“* Der Proletarier findet die soziale Versklavung, von der er sich befreien will, in den Bereich der Politik verschoben. Wer hat diese verräterische Operation durchgeführt? Die Bürokratie der Komintern. Indem sie versucht, die Kuomintang zu „kontrollieren“, hilft sie in Wirklichkeit der Bourgeoisie, in ihrem Streben nach „Achtung und Sicherheitsich die Kulis zu unterwerfen, die existieren wollen.

Borodin, der die ganze Zeit im Hintergrund bleibt, wird im Roman als ein „Mann der Tat“ charakterisiert, als ein „Berufsrevolutionär“, als lebendige Inkarnation des Bolschewismus auf dem Boden Chinas. Nichts ist falscher! Hier ist die politische Biographie Borodins: 1903 emigrierte er im Alter von 19 Jahren nach Amerika; 1918 kehrte er nach Moskau zurück, wo er dank seiner englischen Sprachkenntnisse an der „Verbindung mit den ausländischen Parteien mitarbeitete;“ er wurde 1922 in Glasgow verhaftet; dann wurde er in der Eigenschaft eines Delegierten der Komintern nach China abgeordnet. Borodin, der Russland vor der ersten Revolution verlassen hat und nach der dritten zurückgekehrt ist, erscheint als der vollendete Repräsentant jener Staats- und Parteibürokratie, die die Revolution erst nach ihrem Sieg anerkannt hat. Wenn es sich um junge Männer handelt, so ist das manchmal lediglich eine Frage der Chronologie. Bei Männern zwischen vierzig und und fünfzig ist das schon eine politische Charakteristik. Wenn sich Borodin in Russland glanzvoll der siegreichen Revolution angeschlossen hat, so bedeutet das keineswegs, dass er dazu berufen ist, in China die Revolution zu ihrem Sieg zu führen. Die Männer dieses Schlags eignen sich mühelos Gestik und Tonfall der „Berufsrevolutionäre“ an. Viele von ihnen täuschen durch ihren gönnerhaften Anstrich nicht nur die anderen, sondern sich selbst. Am häufigsten verwandelt sich die unbeugsame Entschlossenheit des Bolschewiken bei ihnen in Zynismus des zu allem bereiten Funktionärs. Wenn man nur ein Mandat des Zentralkomitees hätte! Diesen geheiligten Schutz hatte Borodin immer in seiner Tasche.

Garin ist kein Funktionär, er ist origineller als Borodin und vielleicht sogar dem Typ des Revolutionärs näher. Aber er hat nicht die erforderliche Ausbildung: Dilettant und Gastspieler, gerät er bei den großen Ereignissen hoffnungslos in Verwirrung und zeigt das auf Schritt und Tritt. Zu den Parolen der chinesischen Revolution äußert er sich so: „demokratisches Geschwätz, Rechte des Volkes“ usw. (S. 36) Das hat einen radikalen Ton, aber das ist falscher Radikalismus. Die Parolen der Demokratie sind ekelhaftes Geschwätz im Munde eines Poincaré, Herriot, Léon Blum, den Spitzbuben Frankreichs und Kerkermeistern Indochinas, Algeriens und Marokkos. Aber wenn die Chinesen sich im Namen der „Rechte des Volkeserheben, so ist das ebenso wenig Geschwätz wie die Parolen der französischen Revolution des XVIII. Jahrhunderts. In Hongkong drohten die räuberischen Briten während des Streiks damit, die körperliche Züchtigung wieder einzuführen. „Menschen- und Bürgerrechte“: das bedeutet in Hongkong für die Chinesen das Recht, nicht mit der britischen Knute ausgepeitscht zu werden. Die demokratische Fäulnis der Imperialisten aufdecken, heißt der Revolution dienen; die Parolen aufständischer Unterdrückter Geschwätz nennen, heißt den Imperialisten unfreiwillig helfen.

Eine kräftige Injektion Marxismus hätte den Autor vor den fatalen Irrtümern dieser Art bewahrt. Aber Garin findet im Allgemeinen, dass die revolutionäre Doktrin „doktrinärer Wust“ sei. Er ist nämlich einer von jenen, für die die Revolution lediglich ein ganz bestimmter „Zustand“ ist. Ist das nicht erstaunlich? Aber gerade deswegen, weil die Revolution ein Zustand ist – d. h. eine Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, durch objektive und ganz bestimmten Gesetzen unterworfene Ursachen determiniert –, gerade deswegen kann ein wissenschaftlicher Geist die allgemeine Richtung des Prozesses voraussagen. Allein das Studium der Anatomie und Physiologie der Gesellschaft gestattet, auf den Gang der Ereignisse einzuwirken, indem man sich auf wissenschaftliche Vorhersage stützt und nicht auf Vermutungen eines Dilettanten. Der Revolutionär, der die revolutionäre Doktrin „verachtet“, ist nicht mehr wert als der Kurpfuscher, der die ihm verschlossene medizinische Doktrin verachtet, oder der Ingenieur, der die Technologie ablehnt. Die Männer, die ohne Hilfe der Wissenschaft versuchten, jenen Zustand“, der da Krankheit heißt, zu korrigieren, werden Hexenmeister und Scharlatane genannt und werden vom Gesetz verfolgt. Wenn es für die Hexenmeister der Revolution ein zuständiges Gericht gegeben hätte, wären Borodin ebenso wie seine Moskauer Anstifter wahrscheinlich scharf verurteilt worden. Garin selbst, fürchte ich, wäre bei diesem Prozess nicht ohne Strafe davongekommen.

Zwei Figuren stehen im Roman wie die beiden Pole der nationalen Revolution einander gegenüber: der alte Tscheng-Dai, die geistige Autorität des rechten Flügels der Kuomintang, der Prophet und Heilige der Bourgeoisie, und Hong, der jugendliche Anführer der Terroristen. Beide sind mit großer Kraft gestaltet. Tscheng-Dai verkörpert die alte chinesische Kultur, in die Sprache der europäischen Kultur übersetzt; durch diese gesuchte Kostümierung adelt er die Interessen aller herrschenden Klassen Chinas. Tscheng-Dai wünscht gewiss die nationale Befreiung, aber er fürchtet die Massen mehr als die Imperialisten; die Revolution hasst er mehr als das Joch der Nation. Wenn er ihr entgegengeht, so nur, um sie zu beschwichtigen, um sie zu zähmen, um sie zu erschöpfen. Er verfolgt eine Politik des passiven Widerstandes an zwei Fronten, gegen den Imperialismus und gegen die Revolution: es ist die Politik Gandhis in Indien, die Politik, die die Bourgeoisie in bestimmten Perioden in der einen oder anderen Form überall auf der Welt verfolgt hat. Der passive Widerstand entsteht aus der Tendenz der Bourgeoisie, die Bewegung der Massen zu kanalisieren und die Massen auszuplündern.

Wenn Garin sagt, dass der Einfluss Tscheng-Dais sich über die Politik hinaushebt, kann man nur mit den Achseln zucken. Die verschleierte Politik des „Gerechten“ drückt in China wie in Indien in ihrer sublimen und abstrakt moralisierenden Form die konservativen Interessen der Besitzenden aus. Die persönliche Uneigennützigkeit Tscheng-Dais steht keinesfalls in Widerspruch zu seiner politischen Funktion: die Ausbeuter benötigen „Gerechte“ wie die Kirchenhierarchie Heilige.

Wer wird von Tscheng-Dai angezogen? Der Roman antwortet mit lobenswerter Präzision: „alte Mandarine, Opiumschmuggler oder Photographen, kultivierte Männer, die Fahrradhändler geworden sind, Advokaten der Pariser Fakultät, Intellektuelle jeder Art.“ Hinter ihnen steht eine feste Bourgeoisie, die mit England verbündet ist und die den General Tang gegen die Revolution ausrüstet. In der Erwartung des Sieges schickt sich Tang an, Tscheng-Dai zu seinem Regierungschef zu machen. Alle beide, Tscheng-Dai und Tang, bleiben indes Mitglieder der Kuomintang, der Borodin und Garin dienen.

Als Tang seine Armee die Stadt angreifen lässt und er sich darauf vorbereitet, die Revolutionäre abzuschlachten, und zwar zunächst seine Parteifreunde Borodin und Garin, mobilisieren und bewaffnen letztere mit Unterstützung Hongs die Arbeitslosen. Aber nach dem Sieg über Tang versuchen die Anführer alles beim Alten zu belassen. Sie können die Partei, die auf doppelte Weise mit Tscheng-Dai verbunden ist, nicht zerschlagen, weil sie zu den Arbeitern, Kulis, revolutionären Massen kein Vertrauen haben. Sie sind selbst durch die Vorurteile Tscheng-Dais verseucht, dessen schärfste Waffe sie sind. Um die Bourgeoisie „nicht zu verschrecken“, müssen sie den Kampf mit Hong beginnen. Wer ist das und woher kommt er? „Aus dem Elend(S. 41). Er gehört zu denen, die die Revolution machen, und nicht zu denen, die sich ihr anschließen, wenn sie gesiegt hat. Als er den Einfall hat, den englischen Gouverneur von Hongkong zu töten, hat er nur eine Sorge: „Wenn ich zum Tode verurteilt werde, wird man den jungen Leuten sagen müssen, sie möchten mir nacheifern.“ Hong muss man ein klares Programm vorlegen: die Arbeiter aufwiegeln, zusammenschweißen, bewaffnen und in Opposition zu Tscheng-Dai als ihren Feind bringen. Die Bürokratie der Komintern jedoch sucht Tscheng-Dais Freundschaft, stößt Hong zurück und erbittert ihn. Hong tötet Bankiers und Kaufleute, gerade diejenigen, die die Kuomintang „unterstützen“. Hong tötet die Missionare: „jene, die die Menschen lehren, das Elend zu ertragen, müssen bestraft werden, christliche Priester oder andere … “ (S. 174). Wenn Hong nicht den richtigen Weg findet, so ist das die Schuld Borodins und Garins, die die Bankiers und Kaufleute der Revolution angehängt haben. Hong spiegelt die Masse wider, die schon erwacht ist, die sich aber noch nicht die Augen gerieben und die Hände gelenkig gemacht hat. Mit dem Revolver und dem Dolch versucht er sich für die Masse, die die Agenten der Komintern paralysieren, einzusetzen. Das ist die ungeschminkte Wahrheit über die chinesische Revolution.

Dennoch „pendelt die Kantoner Regierung – und bemüht sich dabei, nicht zu Fall zu kommen – zwischen Garin und Borodin, die Polizei und Gewerkschaften in der Hand haben, und Tscheng-Dai, der nichts hat, jedoch nichtsdestoweniger existiert, hin und her.“ Wir haben ein fast vollständiges Bild des Duumvirats. Die Vertreter der Komintern haben auf ihrer Seite die Arbeitergewerkschaften von Kanton, die Polizei, die Kadettenschule von Wampoa, die Sympathie der Massen, die Hilfe der Sowjetunion. Tscheng-Dai besitzt eine „moralische Autorität“, d. h. er genießt das Ansehen der zu Tode erschrockenen Besitzenden. Tscheng-Dais Freunde sitzen in einer ohnmächtigen Regierung, die von den Kompromisslern wohlwollend gestützt wird.

Aber ist das nicht gerade das Regime der Februarrevolution, das System eines Kerenski, mit dem einzigen Unterschied, dass die Rolle der Menschewiken von Pseudo-Bolschewiken übernommen ist! Borodin ahnt das nicht, weil er als Bolschewik geschminkt ist und seine Schminke für ernst nimmt.

Der Hauptgedanke Garins und Borodins besteht darin, den auf den Hafen Kanton Kurs nehmenden chinesischen und ausländischen Schiffen die Zwischenlandung in Hongkong zu untersagen. Diese Männer, die sich für realistische Revolutionäre halten, hoffen durch die Handelssperre die englische Vorherrschaft in Südchina zu brechen. Sie glauben übrigens keineswegs, dass es nötig ist, vorher die Regierung der Kantoner Bourgeoisie zu stürzen, die nur darauf wartet, sich gegen England zu erheben. Nein, Borodin und Garin klopfen jeden Tag an die Tür der „Regierung“, ziehen den Hut und ersuchen um die Verabschiedung des rettenden Erlasses. Einer seiner Leute erinnert Garin daran, dass diese Regierung im Grunde ein Phantom ist. Garin lässt sich nicht aus der Fassung bringen. „Phantom oder nicht“, entgegnet er, „sie soll bestehen bleiben, weil wir sie brauchen.“ Ebenso braucht auch der Pope die Reliquie, die er selbst aus Wachs und Watte fabriziert. Was verbirgt sich hinter dieser Politik, die die Revolution erniedrigt und schwächt? Die Rücksicht eines Revolutionärs der Kleinbourgeoisie auf einen durch und durch konservativen Bourgeois. Ebenso ist auch der Roteste der französischen Extremisten bereit, vor Poincaré in die Knie zu gehen.

Aber vielleicht sind die Massen von Kanton noch nicht dazu reif, die Regierung der Bourgeoisie zu stürzen? Aus der ganzen Lage ergibt sich die Überzeugung, dass die Scheinregierung ohne den Widerstand der Komintern schon längst durch den Druck der Massen gestürzt worden wäre. Aber nehmen wir an, dass die Kantoner Arbeiter noch zu schwach seien, um ihre eigene Macht zu begründen. Worin besteht allgemein die Schwäche der Massen? In ihrer Bereitschaft, den Ausbeutern zu folgen. In diesem Fall besteht die erste Pflicht der Revolutionäre darin, ihnen zu helfen, ihr sklavisches Vertrauen abzuschütteln. Die Arbeit der Bürokratie der Komintern stand jedoch hierzu in scharfem Gegensatz. Sie hat den Massen die Notwendigkeit ihrer Unterwerfung unter die Bourgeoisie eingeschärft und erklärt, die Feinde der Bourgeoisie seien ihre Feinde.

Tscheng-Dai nur nicht vor den Kopf stoßen! Wenn aber Tscheng-Dai gleichwohl zurückweicht, was unvermeidlich ist, so bedeutet das nicht, dass Garin und Borodin ihre wohlwollende Abhängigkeit von der Bourgeoisie abgeschüttelt haben. Sie werden dann lediglich als neues Objekt ihrer Taschenspielertricks Tschiang Kai-schek wählen, einen Sohn derselben Klasse und einen jüngeren Bruder Tscheng-Dais. Leiter der Militärschule von Wampoa, die die Bolschewiken errichten, beschränkt sich Tschiang Kai-schek nicht auf passiven Widerstand; er ist bereit, blutige Gewalt anzuwenden, nicht in der plebejischen Form – der der Massen –, sondern in einer militärischen, und nur innerhalb der Grenzen, die der Bourgeoisie gestatten, eine uneingeschränkte Macht über die Armee zu behalten. Indem Borodin und Garin die Feinde bewaffnen, entwaffnen sie die Freunde und stoßen sie beiseite. So bereiten sie die Katastrophe vor.

Überschätzen wir aber nicht den Einfluss der revolutionären Bürokratie auf die Ereignisse? Nein. Sie hat sich stärker erwiesen, als sie es selbst dachte, zwar nicht im Guten, aber im Bösen. Die Kulis, die erst anfangen, politisch zu existieren, brauchen eine mutige Führung. Die Revolution braucht die wache Energie von Millionen. Aber Borodin und seine Bürokraten brauchen Tscheng-Dai und Tschiang Kai-schek. Sie knebeln Hong und hindern die Arbeiter daran, sich zu erheben. In einigen Monaten werden sie den Bauernaufstand ersticken, um die bürgerliche Offiziersclique nicht zu verschrecken Ihre Macht besteht darin, dass sie den russischen Oktober, den Bolschewismus, die kommunistische Internationale verkörpern. Die Bürokratie, die die Autorität, das Banner und die materiellen Mittel der größten Revolution usurpiert hat, versperrt einer anderen Revolution den Weg, die ebenfalls alle Chancen hätte, groß zu werden.

Der Dialog zwischen Borodin und Hong ist die fürchterlichste Anklage gegen Borodin und seine Moskauer Anstifter. Hong ist wie immer auf der Suche nach entscheidenden Aktionen. Er verlangt die Bestrafung der exponiertesten Angehörigen der Bourgeoisie. Borodin hat nur diesen Einwand: „Man darf die nicht anrühren, die zahlen.“ „Die Revolution ist nicht so einfach“, meint seinerseits Garin. „Revolution, das heißt die Armee bezahlen,“ entscheidet Borodin. Diese Aphorismen enthalten alle Elemente der Schlinge, mit der die chinesische Revolution erdrosselt wurde. Borodin schützte die Bourgeoisie, die als Gegenleistung die „Revolution“ unterstützte. Das Geld floss der Armee Tschiang Kai-scheks zu. Diese Armee Tschiang Kai-scheks rottete das Proletariat aus und liquidierte die Revolution. Konnte man das wirklich nicht voraussehen? Und hatte man das nicht in Wirklichkeit vorausgesehen? Die Bourgeoisie zahlt freiwillig nur der Armee, die im Kampf gegen das Volk nützt. Die Armee der Revolution erwartet keine Entlohnung: sie zwingt zu zahlen. Das nennt man revolutionäre Diktatur.

Hong greift in den Diskussionen der Arbeiterversammlungen erfolgreich ein und schmettert die „Russen“, die Totengräber der Revolution, nieder. Die Wege Hongs selbst führen nicht ans Ziel, aber er hat gegenüber Borodin recht. „Hatten die Führer der Tai-Ping russische Berater? Und die der Boxer?“ (S. 189) Hätte man die chinesische Revolution von 1924 bis 1927 sich selbst überlassen, wäre sie vielleicht nicht unmittelbar zum Sieg gelangt; aber sie hätte nicht zu Techniken des Harakiri Zuflucht genommen, sie hätte keine schmählichen Kapitulationen erlebt und hätte revolutionäre Kader herangebildet. Zwischen dem Duumvirat von Kanton und dem von Petersburg besteht der tragische Unterschied, dass in China tatsächlich kein Bolschewismus existierte: unter der Bezeichnung „Trotzkismus“ wurde er zur konterrevolutionären Doktrin erklärt und mit allen Mitteln der Verleumdung und Drohung verfolgt. Wo Kerenski in den Junitagen erfolglos blieb, hatte Stalin zehn Jahre später in China Erfolg.

Borodin und alle „Bolschewiken seiner Generation“, versichert uns Garin, „sind durch ihren Kampf mit den Anarchisten geprägt“. Diese Bemerkung war für den Autor notwendig, um den Leser auf den Kampf Borodins mit der Gruppe Hongs vorzubereiten. Historisch gesehen ist sie falsch: der Anarchismus hatte sich nicht deswegen in Russland nicht erheben können, weil die Bolschewiken ihn mit Erfolg bekämpft hätten, sondern weil sie ihm vorher den Boden unten den Füßen fortgezogen hatten. Der Anarchismus, der nicht innerhalb der vier Wände der Intellektuellencafés oder der Zeitungsredaktionen bleibt, sondern in tiefere Schichten vordringt, ist die psychologische Reaktion der niederen Schichten auf die Verzweiflung und stellt die politische Strafe dar für die Betrügereien der Demokratie und den Verrat des Opportunismus. Die Kühnheit des Bolschewismus in der Bezeichnung der revolutionären Probleme und dem Aufweis ihrer Lösungen hat der Entfaltung des Anarchismus in Russland keinen Platz gelassen. Wenn aber auch die historische Studie Malraux' nicht exakt ist, zeigt seine Erzählung doch in bewundernswerter Weise, wie die opportunistische Politik eines Stalin und Borodin dem anarchistischen Terrorismus in China den Weg geebnet hat.

Von der Logik dieser Politik gezwungen, willigte Borodin darin ein, eine Verordnung gegen die Terroristen zu erlassen. Nachdem die echten Revolutionäre durch die Verbrechen der Moskauer Führer auf den Weg des Abenteuers gedrängt sind, erklärt sie die mit dem Segen der Komintern versehene Kantoner Bourgeoisie als illegal. Sie antwortet mit Aktionen des Terrorismus gegen die pseudorevolutionären Bürokraten, die die zahlungsfähige Bourgeoisie beschützt. Borodin und Garin bemächtigen sich der Terroristen und rotten sie aus und verteidigen damit nicht mehr die Bourgeoisie, sondern sich selbst. So erreicht die Politik des Kompromisses verhängnisvoller Weise die höchste Stufe des Verrats.

Das Buch nennt sich „Die Eroberer“. Im Geist des Autors bezieht sich dieser doppeldeutige Titel, in dem sich die Revolution mit Imperialismus schminkt, auf die russischen Bolschewiken oder - genauer – auf eine bestimmte Fraktion innerhalb ihrer. Eroberer? Die chinesischen Massen haben sich in einem revolutionären Aufstand erhoben, unter dem unleugbaren Einfluss des Staatsstreichs vom Oktober als eines Beispiels und dem des Bolschewismus als eines Banners. Aber die Eroberer“ haben nichts erobert. Im Gegenteil, sie haben alles dem Feind ausgeliefert. Wenn die russische Revolution die chinesische Revolution ausgelöst hat, haben die russischen Epigonen sie erstickt. Malraux zieht diese Schlussfolgerung nicht. Er ahnt sie anscheinend nicht einmal. Vor dem Hintergrund seines bedeutenden Buches heben sie sich indessen nur noch deutlicher ab.

Prinkipo, 9. Februar 1931

*Vgl. Brief von Tschen Du-hsiu, Bjulleten Oppositsij, 15/16, S. 21

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