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Leo Trotzki 19311110 Die Lage in England

Leo Trotzki: Die Lage in England

[Nach Permanente Revolution, 2. Jahrgang Nr. 2 (Mitte Januar 1932), S. 5 f.]

Einer meiner englischen Freunde schrieb mir am 9. Oktober, also vor den Parlamentswahlen, von dem schnellen Anwachsen der Kommunistischen Partei und von einer bestimmten Annäherung der breiten Massen der Unabhängigen Arbeiterpartei an den Kommunismus. Mein Korrespondent schrieb auch von einer Belebung der Minderheit in den Trade-Unions und einer wachsenden Führung von sporadischen Streikbewegungen seitens dieser Minderheit. Diese bruchstückhaften Mitteilungen erlaubten, auf dem Hintergrund der Weltkrise und der tiefen nationalen Krise Englands anzunehmen, dass in den letzten 2-3 Jahren eine ziemlich bedeutende Erstarkung der kommunistischen Bewegung stattfand. Die Wahlen brachten in dieser Beziehung eine volle Enttäuschung. Von den vielen hunderttausend Stimmen, die die Labouristen verloren, zog die Partei im besten Falle 20.000 auf ihre Seite, was bei der Erhöhung der Wahlteilnehmer im Ganzen eine völlig unbedeutende Konjunkturschwankung darstellt, aber nicht eine irgendwie ernsthafte politische Eroberung. Denn wo ist der Einfluss der Partei unter den Arbeitslosen? Unter den Bergarbeitern? In der jungen Arbeitergeneration, die jetzt zum ersten Mal wählte? In der Tat,

das Wahlresultat bildet das fürchterlichste Urteil über die Politik der Partei und der Komintern.

Ich verfolgte die Taktik der englischen Partei im Verlauf des letzten Jahres wenig und nehme es nicht auf mich, zu urteilen, was sie gelernt hat, und ob sie irgend etwas Ernsthaftes gelernt hat. Aber für mich ist es völlig klar, dass, unabhängig von ihren neuen und neuesten Fehlern, die Kommunistische Partei mit ihrer Ohnmacht während mehrerer Jahre die schändliche und verbrecherische Politik der Komintern bezahlt, die geknüpft ist an das englisch-russische Komitee und dann an die «dritte Periode». Diese Fehler waren besonders verderblich namentlich in England.

Jedes Mal ist man aufs neue betroffen, welche schreckliche Last von Untertänigkeit, Konservatismus Frömmigkeit, Ehrerbietung und Demut vor den Höheren, den Titeln, dem Reichtum, der Krone die englische Arbeiterklasse in ihrem Bewusstsein mit sich schleppt, die doch zu gleicher Zeit einer großen revolutionären Empörung fähig ist. (Chartismus, die Vorkriegsbewegung von 1911; die Bewegung nach dem Krieg; die Streikbewegung von 1926).

Das englische Proletariat, das älteste, am meisten der Tradition ergebene, in der Methode des Denkens am meisten rein erfahrungsmäßig urteilende, birgt gleichsam zwei Seelen in seiner Brust; es wendet den historischen Ereignissen gleichsam zwei verschiedene Physiognomien zu.

Die verachtete, käufliche, knechtische Bürokratie der Trade-Unionisten und der Labour Party gibt all dem Ausdruck, was in der Arbeiterklasse an Überlebtem, Niedrigem, in vielem noch der Leibeigenschaft, dem Feudalismus Entstammendem vorhanden ist. Im Gegensatz dazu besteht die Aufgabe der Kommunistischen Partei darin, den potenziellen revolutionären Eigenschaften des englischen Proletariats Ausdruck zu geben, die sehr groß und fähig sind, eine grandiose explosive Gewalt zu entfalten. Anstatt dessen hat, in einer überaus kritischen Periode der englischen Geschichte, in den Jahren 1925-27,

die ganze Politik der britischen Kommunistischen Partei und der Komintern bestanden in einer sklavischen Anpassung an die tradeunionistischen Führer, in ihrer Idealisierung,

in der Vertuschung ihrer Verrätereien und in der Stärkung des ihnen von den Arbeitern entgegengebrachten Vertrauens. Die junge kommunistische englische Partei wurde dadurch tief demoralisiert. Die ganze Autorität der Oktober-Revolution, der sozialistischen Sowjetunion, des Bolschewismus, wurde in jenen Jahren für die Unterstützung und Stärkung der konservativen, servilen Tendenzen in der Arbeiterklasse eingesetzt.

Als die Labouristen, nachdem sie die Stalinisten bis zu Ende ausgenutzt hatten, diese mit einem Fußtritt weg stießen, wurde die Phase des Trade-Unionismus mechanisch ersetzt durch die Phase der ultralinken Sprünge zu Ehren der «3. Periode». Die Losung «Klasse gegen Klasse» wurde jetzt ausgelegt als Losung des Kampfes einer Handvoll Kommunisten gegen «das sozialfaschistische» Proletariat. Während gestern Purcell und Cook Freunde, zuverlässige Verbündete von der UdSSR gewesen waren, verwandelten sich heute die Arbeiter, die für Purcell und Cook stimmten, in Klassenfeinde. Das ist die Bahn der englischen Kommunistischen Partei, richtiger, der Komintern. Kann man einen noch besseren Weg ausdenken, das Prestige des Kommunismus zu lockern und das Vertrauen der aufwachenden Arbeiter zur Partei zu untergraben?

Die Moskauer Bürokratie der Komintern, die jedes Mal mit der Nase an eine neue Sackgasse anstößt, kommandiert die Schwenkung nach links oder nach rechts. Das ist nicht schwierig. Alle diese Kuusinens, Manuilskis, Losowskis und andere Beamte sind nicht nur frei von ernsthafter marxistischer Vorbereitung und jedem revolutionärem Gesichtskreis, sondern auch, – und das ist das Wesentlichste – frei von irgendwelcher Kontrolle der Massen. Ihre Politik hat einen rein kanzleimäßigen Charakter. Ein taktischer Umschwung stellt bei ihnen nur ein neues Zirkular dar. Das ZK der englischen Kommunistischen Partei führt die Befehle nach Maßgabe der Kräfte aus.

Aber alle diese Zirkulare gehen über die entsprechende Politik ins Bewusstsein der Massen ein. Die bürokratischen Bankrotteure denken, dass man der Arbeiterklasse mechanischerweise ihre Leitung aufdrängen kann, auf der einen Seite mit Hilfe der Kasse1 und von Repressionen; auf der anderenmit Hilfe plötzlicher Sprünge, Verwischung der Spuren und Verleumdung. Aber das ist durchaus nicht so. Die englischen Arbeiter denken langsam, denn ihr Bewusstsein ist mit dem Kehricht von Jahrhunderten verschüttet. Aber sie denken. Einzelne Artikel, Aufrufe, Losungen gehen gewöhnlich unbemerkt an ihnen vorbei. Aber eine ganze Periode der Politik (englisch-russisches Komitee und die «3. Periode») geht auf keinen Fall spurlos vorüber, zum mindesten nicht für den vordersten, beweglichsten, kritischsten und revolutionärsten Teil der Arbeiterklasse. Wenn man sich die Erziehung des revolutionären Bewusstseins bildlich als das Einschneiden eines Schraubengewindes vorstellt, so muss man sagen, dass die Leitung der Komintern jedes Mal nicht das Material, nicht das Kaliber und nicht die Richtung nimmt, die nötig ist, und deshalb das Gewinde unterbricht, er zerbröckelt und zerstört. Ohne die geringste Übertreibung kann man versichern dass, wenn seit 1923, aber in England besonders seit 1925, überhaupt keine Komintern existiert hätte, wir dann heute in England eine unvergleichlich bedeutendere revolutionäre Partei hätten. Die letzten englischen Wahlen zeigen das mit schrecklichster Überzeugungskraft.

Hier beginnt die Aufgabe der Linken Opposition. Die englischen Kommunisten, unter denen selbstverständlich viele ergebene, ehrliche und aufopferungsfähige Revolutionäre sind, können nicht anders als entmutigt sein durch die Resultate einer 10-jährigen Arbeit noch dazu unter ausnahmsweise günstigen historischen Bedingungen. Pessimismus, Gleichgültigkeit können sich der besten Revolutionäre bemächtigen, wenn sie nicht die Gründe der eigenen Schwäche verstehen, und keinen Ausweg finden. Kritisch, d. h. im Lichte des Marxismus, den durchlaufenen Weg der Partei zu beleuchten, ihre Zickzacks, ihre Fehler, die theoretischen und sozialen Wurzeln ihrer Fehler bloßlegen,das ist die erste und notwendige Bedingung für die Wiedergeburt der Partei. Man muss im Besonderen, wenn es bisher noch nicht getan wurde, mit der Veröffentlichung der wichtigsten Dokumente der internationalen Linken Opposition in der Frage des englisch-russischen Komitees beginnen. Hier ist die Ausgangsposition für den linken englischen Flügel.

Die Linke Opposition in England, wie auch der Kommunismus überhaupt, hat das Recht, mit einer großen Zukunft zu rechnen:

Der englische Kapitalismus stürzt vor den Augen aller von einer grandiosen geschichtlichen Höhe in den Abgrund. Man kann mit Überzeugung aussprechen, dass die jetzigen Wahlen ein letztes gigantisches Auflodern der nationalen «Größe» der englischen Bourgeoisie darstellen. Aber es ist das Auflodern einer erlöschenden Lampe. Für diese Wahlen wird die offizielle englische Politik in der nächsten Periode teuer bezahlen müssen. Der Bankrott der großen nationalen Nullen aus drei Parteien sowie der weitere Bankrott des englischen Kapitalismus ist vollständig unvermeidlich. Ungeachtet aller Hindernisse durch die heutige Leitung der Komintern gräbt der Maulwurf der englischen Revolution zu gut seine unterirdischen Gänge. Man hat alle Ursache darauf zu hoffen, dass diese Wahlen auch das letzte Auflodern der Hoffnungen von Millionen Arbeitern und Angestellten auf die Kapitalisten, Lords, auf die Gescheiten, Gebildeten und reichen Leute darstellen, der Hoffnung, dass diese, indem sie sich zusammen mit MacDonald vereinigen, das Geheimnis der Rettung Großbritanniens und des sonntäglichen Puddings finden werden. Diese Herrschaften werden keine Geheimnisse entdecken. Denn

es gibt nur ein wirkliches Geheimnis: die proletarische Revolution.

Gerade die jetzigen Wahlen bereiten den Schiffbruch für die konservative und servile Seele des englischen Proletariats und, folglich, den mächtigen Aufschwung seines revolutionären Geistes vor.

Jedoch, unmittelbar bringt der Sieg der konservativen schwere Prüfungen für das englische Proletariat und eine Verstärkung der internationalen Verwicklungen mit sich. BesondersGefahren für die USSR.

Hier sehen wir aufs Neue, wie wenig Nutzen das ununterbrochene Gewinsel über seinen «Schutz» Russland bringt.

Im Lauf von 2-3 Jahren erwartete man diesen Schutz von Purcell, Citrine und Cook, dann nahm die Kommunistische Partei den Schutz in ihre Hände gegen das «sozialfaschistische» Proletariat. Und für diesen Schutz der UdSSR sammelte sie im Ganzen 70.000 Stimmen. Als die Linke Opposition den Bruch des schändlichen Blocks mit Purcell forderte, beschuldigte uns Stalin, dass wir nicht um den Schutz der USSR vor dem englischen Imperialismus besorgt sind. Jetzt kann man das Ergebnis feststellen: Niemand erwies dem verendenden englischen Imperialismus solche Dienste, wie die Stalinsche Schule. In der Tat, das Haupt dieser Schule verdient zwei Hosenbandorden!

Die englische Linke Opposition muss eine systematische Arbeit beginnen. Sie muss ihr Stab-Quartier errichten, sei es auch nur ein ganz kleines, sie muss ihren Verlag gründen, sei er auch noch so bescheiden. Es bedarf einer beständigen, ununterbrochenen, folgerichtigen Arbeit der Analyse, der Kritik und der Propaganda. Man muss seine wenn auch in der ersten Zeit nur wenig zahlreichen Kader heranbilden. Die grundlegenden Kräfte der Geschichte arbeiten für uns. Wenn in England, mehr als irgend wo sonst, der Kommunismus in sehr kurzer Zeit das Bewusstsein der breiten Massen des Proletariats beherrschen kann, so können innerhalb des Kommunismus in ebenso kurzer Frist die Ideen der Linken Opposition, d. h. die Ideen von Marx und Lenin die Vorherrschaft gewinnen.

Aufrichtig wünsche ich den englischen Freunden auf diesem Weg Erfolg.

1„Permanente Revolution“ schreibt „Rasse“, aber da im englischen Text „cash“ steht, war das wohl ein Lesefehler des Setzers

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