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Leo Trotzki 19310308 In Sachen des Genossen Rjasanow

Leo Trotzki: In Sachen des Genossen Rjasanow

[Nach Die Aktion, 21. Jahrgang, Heft 1/2 (April 1931) Spalte 16-20

Im Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben werden, ist uns über den Ausschluss des Genossen Rjasanow aus der Partei nur das bekannt, was die offiziellen Telegramme der TASS berichten. Rjasanow ist ausgeschlossen worden nicht wegen Differenzen mit der sogenannten Generallinie, sondern wegen „Verrat" an der Partei. Rjasanow wird nicht mehr und nicht weniger beschuldigt als der Beteiligung an der Verschwörung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die wiederum mit der Verschwörung der Industriebourgeoisie verbunden sind. So lautet die offizielle Mitteilung. Unklar erscheint vor allem, weshalb die Sache gegen Rjasanow sich nur auf den Ausschluss aus der Partei beschränkt. Weshalb ist er nicht verhaftet und vom Obersten Gerichtshof unter Anklage des Verrats gegen die Diktatur des Proletariats gestellt? Diese Frage muss in jedem denkenden 'Menschen entstehen, auch wenn ihm die handelnden Personen nicht bekannt sind. (Die letzten Nachrichten besagen, dass Rjasanow im Anklageakt Krylenkos namentlich genannt wird. Als Angeklagter von morgen?) Menschewiki und Sozialrevolutionäre sind Parteien, die die Wiederherstellung des Kapitalismus anstreben. Von den anderen Parteien der kapitalistischen Restauration unterscheiden sich die Menschewiki und Sozialrevolutionäre dadurch, dass sie hoffen, dem bürgerlichen Regime in Russland „demokratische" Formen zu verleihen. Innerhalb dieser Parteien gibt es eine starke Strömung, die die Ansicht vertritt, jedes Regime in Russland, unabhängig von seiner politischen Form, würde fortschrittlicher sein als das bolschewistische Regime. Die Position der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre ist konterrevolutionär im ganz genauen, objektiven, das heißt im Klassensinne dieses Wortes. Diese Position muss zu dem Bestreben führen, die Unzufriedenheit der Massen für die soziale Umwälzung auszunutzen. Die Tätigkeit der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre stellt nichts anderes dar als die Vorbereitung einer solchen Umwälzung. Sind dabei Blocks der Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit der Industriebourgeoisie ausgeschlossen? Keinesfalls. Die Politik der Sozialdemokratie in der ganzen Welt beruht auf der Idee der Koalition mit der Bourgeoisie gegen „Reaktion" und gegen das revolutionäre Proletariat. Die Politik der Menschewiki und Sozialrevolutionäre im Jahre 1917 war völlig aufgebaut auf dem Prinzip der Koalition mit der liberalen Bourgeoisie, und zwar nicht nur der republikanischen, sondern auch der monarchistischen. Parteien, die da glauben, es gäbe für Russland keinen anderen Ausweg außer der Rückkehr zum bürgerlichen Regime, müssen einen Block mit der Bourgeoisie schließen. Diese wiederum kann ihre Unterstützung, darunter auch finanzielle, ihren demokratischen Gehilfen nicht versagen. In diesem Rahmen ist alles klar, denn es ergibt sich aus der Natur der Dinge. Wie aber konnte unter die Beteiligten an der menschewistischen Verschwörung Genosse Rjasanow geraten? Hier steht vor uns ein offenes Rätsel.

Als Syrzow der „Doppelhändigkeit" beschuldigt wurde, musste sich jeder aufgeklärte Arbeiter fragen: wie konnte ein alter Bolschewik, der noch ganz vor kurzem vom Zentralkomitee auf den Posten des Vorsitzenden des Volkskommissariats gestellt war, plötzlich als illegaler Verteidiger jener Ansichten sich erweisen, die er offiziell abgelehnt und verurteilt hat? Aus dieser Tatsache musste man Schlussfolgerungen ziehen auf die äußerste Zweideutigkeit und Verlogenheit des stalinschen Regimes, bei dem man die wahren Ansichten der Regierungsmitglieder erst durch die GPU festzustellen gezwungen ist. In Sachen Syrzow hatte es sich jedoch immerhin um Gegensätze zwischen dem zentristischen und dem rechten Flügel der Partei gehandelt, wenn auch um nichts mehr. Die „Sache" Rjasanow ist unvergleichlich bedeutsamer und erstaunlicher. Rjasanow ist eine unermesslich größere internationale Figur als Syrzow. Die gesamte Tätigkeit Rjasanows verlief auf dem Gebiet von Ideen, Büchern, Herausgeberarbeiten und stand schon allein deshalb unter dauernder Kontrolle von Hunderttausenden von Lesern in der ganzen Welt. Und schließlich – und was das wichtigste ist – Rjasanow wird nicht der Sympathie mit der rechten Abweichung beschuldigt, sondern der Mittäterschaft an einer konterrevolutionären Verschwörung.

Dass viele Mitglieder der WKP, Theoretiker und Praktiker der Generallinie, Menschewiki sind, ohne sich dessen bewusst zu sein; dass viele ehemalige Menschewiki, die den Namen gewechselt haben, aber nicht das Wesen, erfolgreich die verantwortlichsten Posten der Volkskommissare, Gesandten usw. bekleideten; dass schließlich im Rahmen der WKP, neben den Bessedowkis, Agabekows und allerhand überhaupt käuflichen und demoralisierten Elementen, die offene menschewistische Agentur keinen geringeren Platz einnimmt – darüber können keine Zweifel bestehen. Das stalinsche Regime ist Nährbouillon für alle Mikroben der Parteizersetzung. Doch die „Sache" Rjasanow passt nicht in diesen Rahmen. Rjasanow ist kein Parvenü, kein Abenteurer, kein Bessedowski, kein namenloser Agent der Menschewiki, Rjasanows Entwicklungslinie kann man Jahr für Jahr feststellen, nach Tatsachen, Dokumenten, Artikeln und Büchern. In seiner Person haben wir einen Menschen, der über vierzig Jahre an der revolutionären Bewegung teilgenommen hat, und dessen Tätigkeit auf allen Etappen auf die eine oder andere Weise in die Geschichte der proletarischen Partei eingegangen ist. Rjasanow hatte ernstliche Meinungsverschiedenheiten mit der Partei zu verschiedenen Momenten, darunter auch zu Zeiten Lenins, oder richtiger gesagt, gerade zu Zeiten Lenins, als Rjasanow sich aktiv an der laufenden Politik der Partei beteiligte. In einer seiner Reden spricht Lenin direkt über die starken und schwachen Seiten Rjasanows. Lenin hielt ihn nicht für einen Politiker. Unter seinen starken Seiten verstand Lenin Rjasanows Durchdrungenheit von der Idee, seine tiefe Ergebenheit der marxistischen Doktrin, seine ganz besondere Gelehrsamkeit, seine prinzipielle Ehrlichkeit, seine Unversöhnlichkeit in Sachen der Verteidigung des Erbes von Marx und Engels. Gerade deshalb wurde Rjasanow von der Partei an die Spitze des Marx-Engels-Instituts gestellt, das er auch selber geschaffen hat. Die Arbeit Rjasanows hat internationale Bedeutung, nicht nur wissenschaftlich-historische, sondern auch revolutionär-politische. Der Marxismus ist außerhalb der Anerkennung der revolutionären Diktatur des Proletariats undenkbar. Der Menschewismus ist die bürgerlich-demokratische Verneinung dieser Diktatur. Indem er den Marxismus gegen Revisionismus verteidigte, führte Rjasanow durch seine gesamte Tätigkeit einen Kampf gegen die Sozialdemokratie, folglich auch gegen die russischen Menschewiki. Wie ist nun die prinzipielle Position Rjasanows mit seiner Beteiligung an der Verschwörung der Menschewiki in Einklang zu bringen? Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Und wir vertreten die Meinung, dass es eine solche Antwort nicht geben kann. Wir zweifeln nicht eine Minute daran, dass Rjasanow an keiner Verschwörung teilgenommen hat. Wie aber entstand dann die Beschuldigung? Und wenn sie erfunden ist, von wem und zu welchem Zwecke?

Darüber können wir heute nur hypothetische Erklärungen geben, die jedoch auf zureichender Kenntnis der Menschen und der Situation beruhen. Außerdem muss uns zu Hilfe kommen die politische Logik und die revolutionäre Psychologie. Weder die eine noch die andere können durch die Telegramme der TASS abgeschafft werden. Genosse Rjasanow leitete ein riesiges wissenschaftliches Institut. Er brauchte einen großen Stab qualifizierter Mitarbeiter, Menschen, die den Marxismus, die Geschichte der revolutionären Bewegung, die Probleme des Klassenkampfes und fremde Sprachen kennen. Bolschewiki von solchen Qualifikationen nehmen fast ausnahmslos verantwortliche administrative Posten ein und sind für das wissenschaftliche Institut unerreichbar. Unter den Menschewiki dagegen gibt es nicht wenige demobilisierte Menschen, die sich vom Kampfe zurückgezogen haben oder mindestens als solche erscheinen. Auf dem Gebiete der historischen Forschungen, Kommentare, Anmerkungen, Übersetzungen, verantwortlicher Korrekturen usw. stützte sich Rjasanow im großen Maße auf solche in die Reserve übergetretene Menschewiki. Sie spielten im Institut etwa die gleiche Rolle wie die bürgerlichen Ingenieure im Gosplan und anderen Wirtschaftsorganen. Der Kommunist, der irgendein Amt leitet, verteidigt in der Regel „seine" Spezs, nicht selten auch jene, die ihn an der Nase herumführen. Eins der krassesten Beispiele ist der frühere Vorsitzende des Gosplanes, Mitglied des Zentralkomitees, Krschischanowski, der während einer Reihe von Jahren mit Schaume vor dem Munde die minimalistischen Programme und Pläne des ihm unterstellten Stabes der Schädlinge gegen die Opposition verteidigt hat. Der Direktor des Marx-Engels-Instituts konnte nichts anderes tun als für seine Mitarbeiter-Menschewiki eintreten, wenn ihnen Verhaftungen und Verbannungen drohten. Dieses nicht immer glückliche Sich-Einsetzen datierte bei Rjasanow nicht seit gestern. Alle, beginnend mit Lenin, kannten es, viele machten sich darüber lustig, sehr gut jene „Amts"-interessen begreifend, die Rjasanow dabei leiteten. Zweifellos haben einzelne Mitarbeiter-Menschewiki, vielleicht auch deren Mehrheit, das Institut benutzt als Deckung für ihre Konspiration (Aufbewahrung von Archiven und Dokumenten, Korrespondenz, Verbindung mit dem Auslande usw.). Man darf annehmen, dass Rjasanow nicht immer genügende Beachtung den Warnungen schenkte, die von Parteikreisen ausgingen, und zu viel Nachsicht übte mit seinen treubrüchigen Mitarbeitern. Doch wir glauben, dass dies auch die äußerste Grenze dessen ist, was man Rjasanow als Schuld anrechnen kann. Die von Rjasanow mit Hilfe der Menschewiki herausgegebenen Bücher sind vor aller Augen: sie enthalten weder Menschewismus, noch Schädlingsarbeit, zum Unterschiede von den Wirtschaftsplänen Stalin-Krschischanowski.

Geht man jedoch davon aus, dass die Schuld Rjasanows nicht über eine vertrauensselige Gönnerschaft gegen die Spezs-Menschewiki hinausging, woher dann die Beschuldigung des Verrats? Dass die stalinsche GPU fähig ist, untadligen Revolutionären einen Wrangelschen Offizier unterzuschieben, wissen wir aus frischer Erfahrung. Menschinski und Jagoda würden keinen Augenblick Bedenken tragen, Rjasanow irgendein Verbrechen unterzuschieben, wenn es befohlen wird. Aber wer hat befohlen? Wer hat einen Vorteil? Wer braucht den Weltskandal um Rjasanows Namen?

Gerade darüber können wir eine Erklärung bieten, die sich mit unabwendbarer Kraft aus den Umständen ergibt. Rjasanow hatte sich, wie erwähnt, in den letzten Jahren von der aktiven Politik zurückgezogen. Er teilte in dieser Hinsicht das Schicksal vieler alten Parteimitglieder, die sich mit Verzweiflung im Herzen vom inneren Parteileben zurückzogen, sich in Wirtschafts- oder Kulturarbeit einschließend. Allein nur diese Selbstverleugnung ermöglichte Rjasanow, das Institut vor einer Vernichtung während der ganzen nachleninschen Periode zu bewahren. Doch im letzten Jahre erwies es sich bereits als unmöglich, sich auf dieser Position zu halten. Das Leben der Partei, besonders nach dem XVI. Parteitag, verwandelte sich in ein ständiges Examen auf Treue für den einen und einzigen Führer. In jeder Zelle befinden sich jetzt speziell dafür herangeschleppte Agenten des Plebiszits, die bei jedem Anlass alle Zweifelnden und Schwankenden verhören: halten Sie Stalin für den unfehlbaren Führer der Partei, den großen Theoretiker, den Klassiker des Marxismus? Sind Sie bereit, aus Anlass des neuen Jahres dem Führer der Partei Stalin Treue zu schwören? Je weniger die Partei fähig wird, sich selbst mit Hilfe des geistigen Kampfes zu kontrollieren, um so mehr ist die Bürokratie gezwungen, die Partei mit Hilfe von agents provocateurs zu kontrollieren.

Rjasanow konnte während einiger Jahre vorsichtig – sehr vorsichtig, viel zu vorsichtig – schweigen über eine Reihe akuter Fragen. Aber Rjasanow war organisch nicht fähig, niedrig zu handeln, zu kriechen, sich in Ergüssen von Untertänigkeitsgefühlen zu üben. Man kann sich vorstellen, wie er in den Zellensitzungen des Instituts mehr als einmal wutschnaubend Bemerkungen an die Adresse der zahlreichen jungen Schufte aus dem Orden der „roten Professoren" hervorstieß, die in der Regel nur wenig von Marxismus verstehen, aber geübt sind in Sachen der Intrigen, Klatschereien und falscher Denunziationen. Eine solche interne Clique hatte wohl sicherlich längst schon ihren Kandidaten für den Direktorenposten des Instituts gehabt, und was noch wichtiger ist, ihre Beziehungen zur GPU und zum Sekretariat des ZK. Würde Rjasanow irgendwo auch nur mit einigen Worten darauf angespielt haben, Marx und Engels seien nur Vorläufer Stalins gewesen, – alle Ränke der jungen Schufte wären in Nichts zerstoben und kein Krylenko dürfte wagen, Rjasanow wegen seiner Nachsicht mit den Übersetzern-Menschewiki anzuklagen. Doch das unterließ Rjasanow. Und mit weniger konnte sich der Generalsekretär nicht zufrieden geben.

Zur Apparats-Allmacht gelangt, fühlt sich Stalin innerlich schwächer als jemals. Er kennt sich zu gut und fürchtet sich darum vor seiner eigenen Stellung. Er braucht täglich Bestätigungen seiner Anrechte auf die Rolle des Diktators. Das Plebiszitregime ist erbarmungslos, verträgt keine Zweifel, fordert immer neue begeisterte Anerkennungen. So kam die Reihe an Rjasanow. Wurden Bucharin und Rykow Opfer ihrer „Plattform", die sie allerdings zwei- und dreimal verleugnet hatten, so fiel Rjasanow als Opfer … seiner persönlichen Reinlichkeit. Der alte Revolutionär sagte: „Schweigend dienen, mit zusammengebissenen Lippen – gut; ein begeisterter Speichellecker sein – vermag ich nicht." Das ist es, weshalb Rjasanow unter die Parteigerichtsbarkeit der Jaroslawski geriet. Danach servierte Jagoda die Indizien. Zum Abschluss wurde Rjasanow als Parteiverräter und Agent der Konterrevolution erklärt. In der WKP wie in den westlichen Sektionen der Komintern gibt es nicht wenig Kommunisten, die mit innerem Schauder die Arbeit der stalinschen Bürokratie verfolgen, aber zur Rechtfertigung ihrer Passivität sagen: „Was ist zu tun? Man muss schweigen, um die Pfeiler der Diktatur nicht zu erschüttern." Solcher Kompatibilismus ist nicht nur feig, sondern auch blind. Der offizielle Parteiapparat wird aus einem Pfeiler der Diktatur immer mehr ein Werkzeug ihrer Zersetzung. Dieser Prozess ist durch Verschweigen nicht aufzuhalten. Innere Explosionen mehren sich und nehmen eine immer bedrohlichere Form an. Der Kampf gegen das stalinsche Regime ist der Kampf um die marxistischen Grundlagen der proletarischen Politik. Auf diese Grundlagen überzugehen ist unmöglich ohne freie Kritik, freie Diskussion, d. h. ohne Parteidemokratie. Das stalinsche Plebiszitregime ist seinem Wesen nach nicht von langer Dauer. Damit es nicht die Klassenfeinde liquidieren, muss es durch die Bemühungen der fortgeschrittenen Elemente der Kommunistischen Internationale liquidiert werden. Dies ist die Lehre „in Sachen" Rjasanow!

Prinkipo, den 8. März 1931.

Leo Trotzki

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