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Leo Trotzki 19320614 Brief an Alois Neurath

Leo Trotzki: Brief an Alois Neurath

[Nach dem maschinenschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 921, International Institute of Social History, Amsterdam]

Büyükada, den 14. Juni 1932

Werter Genosse Neurath:

Besten Dank für Ihre Mitteilungen und für die Beilagen zu Ihrem Briefe. Ich bin selbstverständlich ganz Ihrer Meinung, dass alles getan werden muss, damit die oppositionellen Arbeiter wieder in die Partei hineinkommen. Wenn ich Sie recht verstehe, fordert man jetzt in der Tschechoslowakei keine prinzipielle Selbstverleugnung von den oppositionellen Arbeitern. Das wundert mich ein wenig. Wenn aber dem so ist, so sollen die betreffenden Genossen keine Minute verlieren. Jedenfalls müssten sie natürlich auch die ideelle Vereinigung miteinander bewahren und eine systematische und zielbewusste Einwirkung auf die Partei ausüben können. Ist das unter den gegebenen Verhältnissen möglich?

Was die Linke Opposition im Allgemeinen anbelangt, so war ich immer der Meinung, dass wir uns auf längere Sicht einstellen müssen. Wir nähern uns aber gerade jetzt einer großen Krise und Wendung innerhalb der Arbeiterbewegung und insbesondere dem Kommunismus. Der arme Brandler spricht ja immer vom „ultralinken“ Kurs, ohne zu merken, dass wir den Anfang einer neuen tiefen Schwenkung gerade jetzt beobachten können und zwar gleichzeitig auf allen Gebieten. In der Sowjetunion faselt man noch immer über die Vernichtung der Klassen im Laufe der nächsten 4-5 Jahre – gleichzeitig aber stellt man den Markt wieder her. Die Unvermeidlichkeit dieses Rückzugs hatten wir vor 2 Jahren vorausgesagt. Da man aber den Rückzug als einen Vormarsch darstellt und die unvermeidliche soziale Differenzierung der Bauernschaft durch die wieder hergestellten Marktverhältnisse mit Phrasen über die „klassenlose Gesellschaft“ vertuscht und verdeckt, so öffnet man wiederum der thermidorianischen Gefahr Tor und Tür auf einer höheren politischen Stufe.

Man wagt nicht, gegen die Kriegsgefahr im eigenen Namen und offen eine internationale Kampagne zu beginnen, sondern man versteckt sich hinter die Initiative zweier pazifistischer Schriftsteller, Romain Rolland und Barbusse. Hinter ihnen steht die Komintern und die beiden Initiatoren stützen sich gleichzeitig auf Vandervelde und Cachin. Darüber werden Sie in der nächsten Zeit einen Artikel von mir bekommen mit dem wichtigsten Tatsachenbestand. In Deutschland verbietet man noch immer die Einheitsfront mit der Sozialdemokratie und mit den Gewerkschaften gegen den Faschismus, – auf der Weltbühne dagegen versteckt man sich hinter zwei Pazifisten, die kommunistische und sozialdemokratische Organisationen einladen, den Vandervelde als Friedensengel zitieren und die volle Unterstützung der Komintern genießen. Wir treten wiederum ein in die Periode der Kuomintangpolitik und des Anglo-Russischen Komitees, jedoch auf einer höheren historischen Stufe. Der Schweif ist noch immer „ultralinks“ gerichtet, die Nase aber schon weit nach rechts. Der arme Brandler sieht wie immer nur den Schweif. Das gibt ihm eben die Möglichkeit, nur das „Ultralinke“ im Zentrismus zu sehen und nicht den Zentrismus selbst, der gerade jetzt aus seiner hysterisch-linken Phase in die opportunistische hinüber schwenkt. Es ist auch kein Zufall, dass die Komintern in Amerika mit der Lovestone-Gruppe längere Verhandlungen pflegt zwecks Wiederaufnahme, denn die opportunistische Phase wird die Base abgeben für die Wiederherstellung des zentristisch-rechten Blocks.

Die Kämpfe von 1923 bis 1925 innerhalb der russischen Partei haben sich im geschlossenen Raume entwickelt und nur konfuse, meistens bewusst deformierte Nachklänge sind ins Ausland gedrungen. Auch war die linke Opposition nicht selten von Elementen vertreten, die mit unseren Ideen nicht viel gemeinsam hatten. Zum erste Mal entfaltet sich jetzt wirklich im Weltmaßstabe ein theoretischer und politischer Kampf, in dem alle Bestandteile im Voraus eine ganz scharf umrissene Ausgangsposition inne haben und wo alle die zweifelnden und ehrlich suchenden Elemente der revolutionären Arbeiterbewegung die Möglichkeit haben, die strittigen Ideen auf Grund der schwerwiegenden geschichtlichen Tatsachen zu prüfen. Das schafft für die Linke Opposition einen ganz anderen Widerhall. Ich zweifle gar nicht, dass1 sehr viele von denjenigen, die uns jetzt beschimpfen und verleumden, sich bemühen werden, zu beweisen, dass sie es eigentlich gar nicht so schlecht gemeint hätten.

Nun zu Brandler Brief. Er hat recht, dass meine Unterschrift unter den Thesen von Radek und Pjatakow steht, die meine Ansichten über die Ereignisse nicht richtig widerspiegeln, in manchen Teilen ihnen vielleicht entgegengesetzt sind. (ich habe den Text leider nicht.) Wie ist das möglich geworden?

Das Plenum der Exekutive wurde gegen Ende des Jahres 1923 zusammengerufen, wo die revolutionäre Situation in Deutschland schon hoffnungslos verpasst war. Ich war krank und befand mich auf dem Lande, ungefähr 40 Kilometer von Moskau entfernt. Die deutschen Delegierten (Ich erinnere mich an Remmele, Koenen, es waren ihrer aber 5 oder 6) kamen zu mir aufs Land, um meine Meinung über die Lage in Erfahrung zu bringen. Sie alle, wie übrigens auch Brandler, waren der Meinung, dass die revolutionäre Situation sich immer noch verschärfen und in der nächsten Zukunft zum Ausbruch kommen werde. Diese Einstellung hielt ich für katastrophal für das Schicksal der Partei und stelle diese Frage über alle anderen. Sinowjew wie das russische Polbüro im Ganzen, bestätigt den Kurs auf bewaffneten Aufstand in Deutschland. Ich konnte das nicht anders als verhängnisvoll ansehen. Radek wandte sich an mich telefonisch aus Moskau in der letzten Stunde mit der Anfrage, ob ich bereit wäre, seine Thesen mit meinem Namen zu unterstützen. Das telefonische Gespräch fand statt ½ Stunde vor dem Auftreten Radeks auf dem Plenum. Ich antwortete ihm: „Wenn Ihre Thesen offen aussprechen, dass die deutsche Situation sich in der Ebbe und nicht in der Flut befindet und dass man sich strategisch darauf einstellen muss, so bin ich bereit, Ihre Thesen zu unterstützen, ohne sie gelesen zu haben." Es gab auch keine andere praktische Möglichkeit mehr. Auf Radeks Versicherung, dass diese Meinung in den Thesen ganz klar zum Ausdruck gebracht sei, habe ich telefonisch meinen Namen gegeben. Gleichzeitig aber sicherte ich mich dadurch, dass ich meine Auffassung über die deutsche Lage, über ihre Entwicklungsphasen und Perspektiven in einer Reihe von Aufsätzen und Referaten ganz präzise formuliert habe. Man kann meine Haltung gegenüber den Radekschen Thesen für taktisch richtig oder falsch halten. Ein Außenstehender, der weder die Umstände kennt noch meine damaligen Schriften gelesen hat, kann natürlich durch meine Unterschrift unter die Thesen Radeks (der auch sich verteidigen musste und damit auch Brandler) in Verwirrung gebracht werden. Aber Brandler kennt die Umstände sehr gut und wenn er sich auf Radeks Thesen beruft, so ist das eine absichtliche Irreführung seinerseits.

Ich muss aber hinzufügen, dass ich Brandler im russischen Zentralkomitee persönlich in Schutz genommen habe, denn ich war immer gegen die Politik der Sündenböcke. Dass dieser Bock aber die Neigung hat, rechtswärts zu springen, darüber habe ich mir auch damals keine Illusionen gemacht. Was Brandler in meinen Augen politisch vollständig disqualifiziert ist seine Haltung der chinesischen Revolution und dem anglo-russischen Komitee gegenüber.

Ist Brandler in Bezug auf die Thesen von Radek formell im Recht, so kann ich jedoch überhaupt nicht verstehen, was er meint, wenn er sagt, ich hätte im Jahr 1926 ihm, Brandler, ein Zeugnis von Sinowjew über seine, Brandlers, strategische Makellosigkeit angeboten. Ich erfahre jetzt zum ersten Male über diese Geschichte. War es schriftlich? War es mündlich? Es will mir scheinen, dass ich mit Brandler im Jahr 1926 weder im schriftlichen noch mündlichen Verkehr stand. Kaum hab ich ihn überhaupt während dieser Zeit zu sehen bekommen. Radek pendelte jedenfalls zwischen der Linksopposition und Brandler. Er hatte Zweifel in den wirtschaftlichen Fragen und berief sich ständig auf die Autorität Brandlers als Beamter in der WSNCh (der Oberste Rat der Volkswirtschaft). Brandler behauptet nämlich, dass eine beschleunigte Industrialisierung unmöglich sei. Während der Herausarbeitung der Plattform stellte Sinowjew die Forderung auf, Radek müsse seine zweideutige Haltung dem Brandlerianischen Opportunismus gegenüber aufgeben. Ich habe diesen Vorschlag mit größter Bereitwilligkeit unterstütze und wir haben an Radek ein freundliches Ultimatum gestellt. Er bat sich 24 oder 48 Stunden Bedenkzeit aus. Es fällt mir jetzt ein, dass er diese Zeit möglicherweise ausgenutzt hat, um Brandler für unsere Plattform zu gewinnen. Dies ist eine verspätete Hypothese meinerseits, aber auch die einzige Erklärung für die kunterbunte Behauptung Brandlers. Dass unser Block mit Sinowjew prinzipienlos war, kann ich auf keinen Fall zugeben. Der prinzipielle Boden des Blocks war unsere Plattform, die ich auch heute noch als das wichtigste programmatische Dokument des nachleninistischen Bolschewismus ansehe.

Wie die Brandlerianer den Trotzkismus im Jahre 1923 angesehen haben, beweist die beiliegende Rezension aus der „Roten Fahne“. Ein deutscher Genosse hat mir neulich das interessante Dokument zugeschickt. Die „Rote Fahne“ war damals in den Händen der Brandlerianer (Boettcher und Thalheimer). Ich nehme an, dass Thalheimer die Rezension geschrieben hat. Brandler, hat es wenigstens toleriert. Bei den Ungenauigkeiten der Rezension will ich nicht verbleiben. Ich stand nicht im linken Flügel der Menschewiki. Von 1904 bis 1917 befand ich mich organisatorisch außerhalb beider Fraktionen und nannte mich niemals Menschewik. Das tut aber nicht viel zur Sache. Sie wissen übrigens, welchen Vorschlag mir das Brandlersche ZK einstimmig noch im September 1923 gemacht hat. Es handelte sich um schicksalsschwere Dinge und die Begründung des Vorschlags war eine dementsprechende, – Doch nun genug darüber.

L. Trotzki


1Handschriftliche Einfügung schwer zu entziffern, möglicherweise „zu nicht allzu fernem Zeitpunkt“

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