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Leo Trotzki 19320625 Brief an die Züricher Arbeiter

Leo Trotzki: Brief an die Züricher Arbeiter

[Nach Permanente Revolution, 2. Jahrgang 1932, Nr. 14 (Mitte Juli) S. 3 f.]

In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni fanden in Zürich stürmische Zusammenstöße der Arbeiter mit der Polizei statt. Ich habe von diesem Ereignis aus den Telegrammen der bürgerlichen Presseagenturen, also in sehr tendenziöser, der Arbeiterschaft feindlicher Form, erfahren. Aber auch ohne die näheren Details zu kennen, konnte man sich leicht den allgemeinen Charakter dieser Ereignisse vorstellen. Die Zusammenstöße der Arbeiter mit der Polizei, besonders der Streikenden und der Arbeitslosen, ziehen durch die ganze Geschichte des Kapitalismus hindurch. Die gegenwärtige schreckliche Krise welche die ganze Verfaultheit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung enthüllt, macht die Bourgeosie außerordentlich nervös und bewegt sie, bei der geringsten Unruhe Polizei und Armee in Anwendung zu bringen. Andrerseits, wächst die berechtigte Empörung der Arbeiter gegen das bürgerliche Regime, wächst und sucht einen revolutionären Ausweg. Wer auch an der Spitze des Züricher Streiks und der Demonstration gestanden hätte, der Charakter des blutigen Zusammenstoßes wird dadurch nicht geändert. Der Kapitalismus bringt die Arbeiter zu Hunger, zu Elend und zur Verzweiflung; der Kapitalismus treibt sie auf die Straße: der Kapitalismus bändigt sie durch bewaffnete Macht: die Presselakaien des Kapitalismus verleumden die Arbeiter: und die kapitalistischen Richter verurteilen die «Anführer» zu Gefängnis, wenn die Kugeln des Kapitalismus dieselben schon nicht früher getötet haben.

So sah die einfache und unbestreitbare «Erklärung» aus, die ich, fern von Zürich, mir für die Züricher Ereignisse vom 15.-16. Juni zurechtgelegt habe. Heute, am 25. Juni, erhielt ich von Freunden den Aufruf «der sozialdemokratischen Partei Zürich», betitelt «Die Abrechnung mit den kommunistischen Feiglingen». In diesem Dokument ladet die Züricher Sozialdemokratie, die an der Spitze der städtischen Selbstverwaltung steht, die volle Verantwortung für das blutige Gericht über die Streikenden und die Demonstranten auf sich. Der Aufruf schiebt die Schuld für die blutigen Konflikte nicht dem Kapitalismus, sondern dem Kommunismus zu. Um ihre Handlungen vor der Züricher Arbeitermasse zu rechtfertigen, schreibt die Sozialdemokratie (Aus dem russischen zurückübersetzt. Die Red.):

«Lenin und Trotzki wurden unter solchen Umständen mit dieser Art von Menschen von ultralinken, syndikalistischen und anarchistischen Tendenzen fertig. Sie unterdrückten diese Putschisten auf schonungslose und blutige Weise.»

Dieser Aufruf hat mich bewogen, mich mit diesem Briefe an die Züricher Arbeiterschaft zu wenden. Das Ziel dieses Briefes ist, die Verleumdung zu entlarven. Lenin und ich sind schon so manches Mal Objekte der Verleumdung gewesen. Ihr werdet wahrscheinlich wissen, dass man uns beschuldigt hat, im Dienste des deutschen Generalstabs gestanden zu haben. Und doch kenne ich keine Verleumdung, die entsetzlicher und niederträchtiger wäre, als die, die in dem Aufruf der Züricher Sozialdemokratie zum Ausdruck kommt.

Das ganze Leben von Lenin war darauf gerichtet, die bürgerliche Gesellschaft, ihren Staat, ihr Recht, ihre Gesetze ihr Gericht, ihre Polizei, ihre Gefängnisse und ihre Armee umzustürzen. Wie kann man also den Namen Lenin erwähnen, um Repressionen der Bourgeoisie gegen die Arbeiter zu rechtfertigen. Ich protestiere auch gegen die Anwendung meines Namens, denn im Laufe von 35 Jahren meines bewussten Lebens habe ich gedient und diene nach Maßgabe meiner Kraft, der Sache, der Befreiung der Arbeiterklasse.

- Aber die Sowjetmacht, werden die Herrn sozialdemokratischen Journalisten erwidern, hat doch Repressionen gegen die Anarchisten und die linken Sozialrevolutionäre in Anwendung gebracht, die einen Aufstand zu machen versuchten? Gewiss! Der Unterschied – ein ganz kleiner Unterschied, nicht wahr, Kameraden Arbeiter? – bestand jedoch darin, dass es sich bei uns nicht um die Verteidigung des bürgerlichen, sondern des proletarischen Staates handelte. Die Bolschewiki haben zunächst den Oktoberaufstand (1917) organisiert, mit dessen Hilfe das Proletariat die Bourgeoisie gestürzt hat, ihr die Fabriken und Banken entrissen, den Gutsbesitzern den Boden wegnahm und ihn den Bauern übergab, die Parasiten aus den Palästen gejagt und diese Paläste den proletarischen Kindern zur Verfügung gestellt, die Ausbeuter der Wahlrechte für verlustig erklärt, die Macht und die Waffen in den Händen der Arbeiter konzentriert u. somit den ersten proletarischen Staat sicherstellte. Darin besteht eben das Regime der proletarischen Diktatur. Ja, dieses Regime haben wir tatsächlich mit Waffen in den Händen verteidigt. Zu seiner Verteidigung haben wir die rote Armee geschaffen. Die Sozialdemokratie der ganzen Welt beschuldigte und verdammte uns. Die deutsche Sozialdemokratie unterstützte den Hohenzollern, der die Sowjetrepublik zu erdrosseln versucht hat. Aber die Bolschewiki ließen sich nicht erdrosseln. Mit eiserner Hand beschützten sie den Arbeiterstaat. Die inneren Feinde der proletarischen Diktatur waren vor allem die ihres Eigentums beraubten Bourgeois, die Offiziere und die bürgerlichen Studenten, Herren in der Art des Schweizer Konradi, der meinen Freund Worowski ermordet hat. Die russischen Sozialdemokraten (die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre) haben den Kampf gegen den Arbeiterstaat direkt und indirekt unterstützt. In den Fällen, wo sie gegen ihn eine bewaffnete Hand erhoben, schonten wir sie nicht.

Aber die Züricher Sozialdemokratie betrügt und belügt Euch, wenn sie sich auf Lenin und Trotzki beruft zur Verteidigung der blutigen Gewalttat über die Arbeiter, die sich gegen den kapitalistischen Staat erhoben haben. Natürlich, ist in beiden Fällen eine Gewalttat vorhanden. Wo Klassen einen unversöhnlichen Kampf gegeneinander führen, da kommt es am Ende stets zu Gewalttaten. Es wird immer so sein, solange die Klassen nicht verschwunden sind. Aber die ganze Frage besteht darin, im Dienst welcher Klasse steht die Gewalttat.

An einer der Sitzungen der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk am 14. Januar 1918, hat General Hoffmann, der faktische deutsche Oberkommandant auf der östlichen Front, protestiert gegen die Gewalttaten, die von der Sowjetregierung angewendet wurden. Ich werde mir erlauben, hier aus dem Protokoll einen wörtlichen Auszug aus der Antwort anzuführen, die ich ihm gab:

«Der Herr General hat darauf hingewiesen, dass unsere Regierung sich auf die Macht stützt und gewalttätig gegenüber allen Andersdenkenden verfährt, die sie als Konterrevolutionäre, stempelt. Der Herr General ist vollständig im Rechte, wenn er behauptet, dass unsere Regierung sich auf die Macht stützt. Wir kennen in der Geschichte bis dato keine anderen Regierungen. Solange die Gesellschaft aus kämpfenden Klassen bestehen wird, wird der Staat notgedrungen ein Machtwerkzeug sein und wird den Apparat der Gewalttätigkeit anwenden müssen … Das was die Regierungen anderer Länder in unsren Handlungen in Erstaunen setzt und abstößt, ist die Tatsache, dass wir nicht die Streikbrecher, sondern die Kapitalisten, die die Arbeiter einem Lookout aussetzen, verhaften lassen, die Tatsache, dass wir nicht die Bauern, die Land fordern, niederschießen, sondern dass wir diejenigen Gutsbesitzer und Offiziere verhaften, die Bauern niederzuschießen versuchen.»

Die Führer der Züricher Sozialdemokratie stehen dem General Hoffmann sehr nahe, insofern sie von Gewalttaten überhaupt sprechen, ohne darauf einzugehen, im Dienste welcher Klasse diese Gewalttat steht. Und das ist auch nicht zu verwundern: die Sozialdemokratie kann nicht offen und ehrlich diese Frage stellen, denn ihre Führer selber stehen im Dienste des kapitalistischen Regimes. In privaten, kleinen, unwichtigen Sachen, wie z. B. auf dem Gebiete der städtischen Selbstverwaltung, sucht die Sozialdemokratie bei dem Kapital zu Gunsten der Arbeiterschaft etwas herauszuhandeln. um unter der Arbeitermasse ihre Autorität aufrechtzuerhalten. Aber da, wo es sich um die Grundinteressen der bürgerliehen Ordnung und des Privateigentums handelt, um das Fundament der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, da stellt sich die Sozialdemokratie in der Schweiz, in Deutschland, in Österreich, in Frankreich, in der ganzen Welt, unwandelbar auf die Seite der Ausbeuter. Das hat sie auch ganz besonders deutlich in den Juniereignissen in Zürich bewiesen.

Da die Herrn sozialdemokratischen Führer sich erlaubt haben, zu ihrer Rechtfertigung sich auf Lenin und mich zu berufen, werde ich zum Schlüsse folgendes sagen: obwohl ich über die Züricher Ereignisse nur auf Grund der bürgerlichen Berichte urteilen kann, denen man, wenn es sich um die Arbeiterbewegung handelt, im besten Falle nur in einem Zehntel Glauben schenken kann, so kann ich doch mit absoluter Sicherheit behaupten: mit meinem ganzen Mitgefühl, absolut und vollständig, bin ich auf der Seite derer, die am Streik teilnahmen, gegen die polizeilichen Repressalien protestierten und zu Opfern der neuen Gewalttaten geworden sind. Unabhängig von den taktischen Anschauungen der Züricher Kommunisten, bin ich auf der gleichen Seite der Barrikade wie sie. Wenn sie auch den einen oder den anderen Fehler begangen haben sollten. – ich weiß nicht davon, – sind es Fehler unsrer Klasse, sind es Fehler der proletarischen Revolution, die den Kopf gegen die kapitalistische Sklaverei erhebt. Mit welchen Pfauenfedern der «Demokratie» die Sozialdemokraten sich auch decken, traten sie und treten in den Züricher Ereignissen als direkte und unmittelbare Agenten des Klassenfeindes auf. Ihre verräterische Tätigkeit suchen sie durch eine Verleumdung auf die proletarische Revolution zu vertuschen. Sie bestehlen zugunsten der Bourgeoisie die Autorität des Sowjetstaates, indem sie die Gewalttat der Revolution und die Gewalttat der Reaktion gleichstellen.

Ich will hoffen, dass jeder Züricher Arbeiter, auch der Sozialdemokrat, die stattgefundenen Ereignisse und die Rolle, die die sozialdemokratischen Führer darin gespielt haben, bis zu Ende durchdenken wird, um daraus die nötigen politischen Schlüsse zu ziehen. Dann erst wird man sagen können, dass die Juniopfer nicht umsonst gebracht wurden.

Mit kameradschaftlichen Gruß

L. Trotzki

Prinkipo, 25. Juni 1932.

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