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Leo Trotzki 19321013 Die Lehren des Verrates von Mill

Leo Trotzki: Die Lehren des Verrates von Mill

Brief an die Sektionen.

[Nach dem maschinenschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 988, International Institute of Social History, Amsterdam]

Der Fall Mill stellt eine jener Episoden dar, die im Allgemeinen vollkommen unvermeidlich sind im Prozess der Auslese und Erziehung von Kadern. Die Linke Opposition steht unter einen furchtbaren Druck. Nicht alle sind ihm gewachsen. Umgruppierungen und persönliche Desertionen wird es auch weiterhin nicht wenige geben. Ich möchte in diesem Briefe aus der Episode mit Mill einige einfache und, wie mir scheint, vollkommen unbestreitbare Lehren ziehen.

Lenin sprach von Ultraradikalismus als einer Kinderkrankheit. Doch muss man dessen eingedenk sein, dass der Ultraradikalismus nicht die einzige Krankheit des politischen Kindesalters ist. Es gibt auch andere. Bekanntlich legen sich Kinder schwer Rechenschaft ab über den Charakter ihrer Krankheit und sogar über deren Topographie. Etwas ähnliches kann man auch in der Politik antreffen. Es ist eine ziemlich hohe Reife nötig, damit zwei Gruppen bereits im Augenblick ihrer Entstehung mehr oder minder klar die Kardinalpunkte ihrer Meinungsverschiedenheiten festlegen. Zumeist pflegen junge Gruppierungen, gleich erkrankten Kinder, sich auf Arm- oder Beinschmerzen zu berufen, während in Wirklichkeit der Schmerz im Leibe sitzt. Einzelne Personen oder Grüppchen, ungenügend gestählt für die jahrelange zähe organisatorische und erzieherische Arbeit; enttäuscht darüber, dass die Erfolge nicht von selbst vom Himmel fallen, pflegen sich gewöhnlich nicht Rechenschaft abzulegen darüber, dass die Quelle ihrer Unzulänglichkeit in ihnen selber, in ihrer Lockerheit, ihrer Weichheit, ihrer kleinbürgerlichen Sentimentalität liegt. Sie suchen die Schuldigen ihrer Unzulänglichkeit außerhalb ihrer selbst und entdecken sie meist im schlechten Charakter des X oder Y. Nicht selten enden sie so, dass sie mit Z, mit dem sie in nichts übereinstimmen, einen Block gegen Y schließen, mit dem sie angeblich in allem übereinstimmen. Wundern oder empören sich dann ernste Revolutionäre über ihr Verhalten, beginnen sie zu versichern, man spinne gegen sie eine „Intrige". Dieser verderbliche Weg, der in verschiedenen Sektionen mehr als einmal zu beobachten war, ist in der Episode Mill zu Ende geführt und diese daher besonders lehrreich.

Auf welche Weise wurde Mill Mitglied des administrativen Sekretariats? Darüber habe ich in meinem Notiz für die Presse gesprochen. Die sachlichen Umstände erforderten die Anwesenheit einer Person im Sekretariat, eng verbunden mit dem russischen oppositionellen Zentrum, fähig, russische Dokumente zu übersetzen, Korrespondenz zu führen usw. Mill erwies sich als der einzige praktisch mögliche Kandidat. Er erklärte seine volle Solidarität mit der russischen Opposition, nahm an dem Kampf gegen Landau, Rosmer, usw. teil. Alle Genossen werden sich erinnern, wie Mill sodann, im Verlaufe durchaus nicht prinzipieller Konflikte mit der führenden Gruppe der französischen Ligue, plötzlich versuchte, einen Block mit Rosmer zu schließen, der bereits die Reihen der Ligue verlassen hatte.

Was bedeutete diese Tatsache? Wie war es möglich, dass ein verantwortlicher Arbeiter innerhalb 24 Stunden seine Stellung in einer höchst wichtigen Frage änderte aus Erwägungen persönlicher Natur? Mill selbst erklärte weiterhin, er habe keinerlei politische Meinungsverschiedenheiten mit der russischen Opposition, nur „missfallen“ ihm diese und jene französischen Genossen. Mit anderen Worten, Mill griff zu den gleichen Argumenten, die er noch gestern bei Rosmer grausam verurteilt hatte. Rosmer hatte sogar auf der Gegenüberstellung von Ideen und Menschen eine völlig anekdotenhafte Theorie aufgebaut, die ganz unzweifelhaft beweist, dass Rosmer mit der Komintern brach, nicht weil er sich auf einen höheren Gesichtspunkt erhoben hatte, sondern weil er im Grunde nicht herangewachsen war zum Verständnis der revolutionären Politik und der revolutionären Partei.

Die einzige Schlussfolgerung, die man aus Mills unwürdiger Haltung ziehen konnte, lautete: für Mill sind Prinzipien offenbar überhaupt nicht von Bedeutung; persönliche Erwägungen, Sympathien und Antipathien bestimmen seine Politik in höherem Grade als Prinzipien und Ideen. Die Tatsache, dass Mill einen Menschen, den er als Nichtmarxist erklärt hatte, den Block vorschlagen konnte gegen Genossen, die er für Marxisten gehalten hatte, bewies klar die politische und moralische Unzuverlässigkeit Mills, seine Unfähigkeit, die Fahnentreue zu halten. Hatte er heute im kleinen Maßstabe verraten, so konnte er morgen im großen Maßstabe verraten. Das ist die Schlussfolgerung, die damals jeder Revolutionär ziehen musste.

Die russische Opposition, die mehr als die übrigen Sektionen für Mills Einbeziehung in das administrative Sekretariat verantwortlich war, schlug unverzüglich seine Entfernung aus diesem vor. Doch was geschieht? Dieser natürliche, gebieterische, der ganzen Sachlage entsprechende Vorschlag stieß bei einigen Genossen auf Widerstand, An erster Stelle standen die Genossen der spanischen Sektion, die es sogar für möglich hielten, Mill als Vertreter der spanischen Sektion im Internationalen Sekretariat vorzuschlagen. Dabei erklärten sie, sie hätten keinerlei politische Meinungsverschiedenheiten mit der Leitung der Internationalen Linksopposition.

Dieser so unerwartete Schritt machte seinerzeit bei vielen von uns einen deprimierenden Eindruck: Wir fragten uns: wodurch lassen die spanischen Genossen sich leiten, während sie Mill aufs Schild heben? Es ist klar, sie sahen in Mill einen Genossen, den man „verletzt“ hatte und sie eilten, ihn in Schutz zu nehmen. Mit anderen Worten, in einer politischen Frage von ausnehmender Wichtigkeit ließen sie sich nicht von politischen, nicht von revolutionären, sondern von persönlichen, sentimentalen Erwägungen leiten.

Hatte Mill versucht, mit dem Deserteur Rosmer einen Block gegen die französische Ligue zu schließen, so schlossen die führenden spanischen Genossen einen Block mit Mill gegen die russische, französische und eine Reihe von anderen Sektionen, obwohl sie mit diesen nach ihren eigenen Worten keine Meinungsverschiedenheiten hatten. Wir sehen, in welches Dickicht man sich verirren kann, lässt man sich in großen Fragen nicht von Erwägungen der revolutionären Politik, sondern von Impressionismus, Sentimentalität. persönlichen Sympathien und Antipathien leiten!

Die Tatsache, dass Mill „auf Arbeitssuche“ mit den Stalinisten in Unterhandlungen trat und damit endete, dass er sich verpflichtete, in der Presse die Linke Opposition zu „entlarven*, hat nunmehr endgültig offenbart, dass Mill ein verfaulter Kleinbürger ist. Das wird gewiss niemand in unseren Reihen bestreiten. Aber das allein genügt nicht; man muss verstehen, dass Mills unerwartete Wendung auf die Seite Rosmers seinerzeit nur die „Generalprobe" seiner jetzigen Wendung auf die Seite der Stalinisten war. Beiden Verraten liegt die gleiche Unzulänglichkeit des Kleinbürgers zugrunde, der in die Sphäre der revolutionären Politik geraten war.

Ich verweile bei der Sache mit solcher Ausführlichkeit selbstverständlich nicht Mills wegen, sondern wegen der Frage der Auslese und Erziehung der Kader der Linken Opposition. Dieser Prozess ist bei weiten nicht abgeschlossen, obwohl wir gerade auf diesem Gebiete auf ernste Erfolge blicken können.

Die Spanische Opposition macht gegenwärtig eine sehr schwere Krise durch. Die auf der letzten Konferenz gewählte Leitung ist auseinandergefallen, wobei sich keinerlei prinzipielle Gründe für diesen Zerfall feststellen lassen: für jedes Mitglied des Zentralkomitees verweist man uns auf irgendeinen besonderen persönlichen Grund. Indes war es für den, der seinerzeit sich ernsthaft in die Stellung des Zentralkomitees der spanischen Opposition zur Episode Mill hineingedacht hatte, schon damals klar, dass die spanische Opposition einer Krise entgegengeht.

In der Tat, wenn die Leiter der spanischen Opposition sich nicht Rechenschaft ablegten über die prinzipielle Bedeutung des Kampfes, den wir gegen Rosmer, Landau usw. führten; wenn sie es für möglich hielten, sich mit Mill gegen die Grundkader der Internationalen Linken zu verbinden; wenn sie dabei wiederholten, sie hätten keinerlei Meinungsverschiedenheiten mit uns und damit ihrer eigenen Vorgehensweise jegliche Rechtfertigung nahmen – konnten wir nicht umhin, uns mit Besorgnis zu sagen, die Leiter der spanischen Opposition werden ihrer Sektion kaum eine richtige Orientierung geben; Wo es aber an durchdachter Orientierung gebricht, dort treten unvermeidlich die persönlichen Momente und Stimmungen hervor. Menschen verschiedenen Schlages, Charakters, Temperaments, verschiedener Erziehung in eins zu verschmelzen, das vermögen nur klare revolutionäre Prinzipien. Im entgegengesetzten Falle ist der Verfall der Organisation unvermeidlich. Auf persönlichen Sympathien, auf Freundschaft und Sippschaft lässt sich nur ein Zirkel lebloser Räsonneure von Typus Souvarines oder politischer Invaliden von Typus Rosmers aufbauen, und auch das nicht für lange.

Ich muss, so unangenehm dies auch sei, hier noch einen „delikaten" Punkt berühren, denn es heischt dies das Interesse der Sache: auf Unausgesprochenem und Konventionellem kann man keine richtigen revolutionären Beziehungen aufbauen.

Als wir in Briefen die führenden spanischen Genossen fragten, von welchen prinzipiellen Motiven, politischen oder organisatorischen Erwägungen sie sich leiten ließen, als sie zur Verteidigung Mills gegen die russische, deutsche, französische, belgische Sektion usw. auftraten, erhielten wir ungefähr folgende Antwort: „Wir haben den Recht auf eine eigene Meinung“, „wir lassen uns nicht kommandieren“ usw. Diese unerwartete Antwort schien uns ein im. höchsten Grade besorgniserregendes Symptom:

Nehmen wir an, dass irgendjemand unter uns wirklich die Neigung zu kommandieren besäße. Solchen Neigungen muss man Widerstand entgegensetzen, je kräftiger, desto besser. Aber die Notwendigkeit des entschiedensten Kampfes gegen jegliche Kommandogewohnheiten würde die spanischen Genossen nicht von der Verpflichtung befreien, ihr fraktionelles Hervortreten für Mill gegen die überwältigende Mehrheit der Sektionen politisch zu begründen. In dem Verlangen nach prinzipiellen Beweggründen für diese oder jene Handlung liegt keineswegs Kommando. Jedes Mitglied der Organisation hat das Recht, eine solche Frage – warum – an die verantwortlichen Institutionen der linken Opposition zu richten. Sich einer konkreten Antwort zu entledigen durch den nackten Hinweis auf das Recht, eine eigene Meinung zu haben, heißt, die gegenseitigen revolutionären Verpflichtungen durch halb liberale, halb sentimentale Gemeinplätze ersetzen, nach einer solchen Antwort konnte man nicht anders als sich neuerdings sagen: Einige führende spanische Genossen haben leider keinen genügend festen gemeinsamen Boden mit der internationalen Linksopposition; daher die Unachtsamkeit in Bezug auf die Geschichte der Linken Opposition, auf den von ihr durchgemachten Kampf, die von ihr vollzogene Kaderauslese; daher die Neigung, sich von persönlichen Eindrücken, psychologischen Wertschätzungen, individuellen Kriterien leiten zu lassen, daher der Hinweis auf die „Freiheit“ der Meinung statt des Versuchs, seine Meinung marxistisch zu begründen.

Unnötig zu sagen, wie weit wir von den Gedanken sind, irgendeinen der spanischen Genossen Mill gleichzusetzen. Doch bleibt es eine Tatsache, dass die führenden spanischen Genossen nicht rechtzeitig verstanden heben, weshalb wir Mill gegenüber unversöhnlich auftraten und weshalb wir das gleiche von den anderen forderten. Möge nun wenigstens diese ernste Lehre zu unserer Annäherung und nicht zur weiteren Entfremdung beitragen!

13. Oktober 1932

G. Gurow

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