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Leo Trotzki 19321019 Die Stalinisten ergreifen Maßnahmen

Leo Trotzki: Die Stalinisten ergreifen Maßnahmen

Zum Ausschluss Sinowjews, Kamenews u.a.

[nach dem Text, erschienen als Anhang der Broschüre Sowjetwirtschaft in Gefahr, Herausgeber: Linke Opposition der KPD Verleger: Anion Grylewicz, S. 30-40]

Telegraf, und Rundfunk trugen über die ganze Welt die Nachricht, dass Sinowjew und Kamenew aus der Partei ausgeschlossen sind und mit ihnen noch über zwanzig Bolschewiki. Nach der offiziellen Mitteilung hätten die Ausgeschlossenen die Wiederherstellung des Kapitalismus in der Sowjetunion angestrebt. Das politische Gewicht der neuen Repressalien ist an und für sich bedeutend. Ihre symptomatische Bedeutung ist aber gewaltig.

Sinowjew und Kamenew waren im Laufe einer Reihe von Jahren die nächsten Schüler und Mitarbeiter Lenins. Besser als irgendjemand kannte Lenin ihre Schwächen; aber er verstand ihre starken Seiten auszunutzen. In seinem, dem Tone nach so vorsichtigen «Testament», in dem Lob und Tadel gleichmäßig gedämpft sind, um nicht die einen allzu sehr zu stärken, oder die anderen zu schwächen, hielt es Lenin für notwendig die Partei daran zu erinnern, dass das Verhalten von Sinowjew und Kamenew im Oktober «nicht zufällig» war. Die weiteren Ereignisse haben diese Worte nur zu deutlich bestätigt. Nicht zufällig war jedoch auch die Rolle, welche Sinowjew und Kamenew in der Leninschen Partei spielten. Und ihr heutiger Ausschluss erinnert an ihre alte und nicht zufällige Rolle.

Sinowjew und Kamenew waren Mitglieder des Politbüros, welches zu Lenins Zeiten die Schicksale der Partei und der Revolution unmittelbar leitete. Sinowjew war Vorsitzender der Kommunistischen Internationale. Gleich Rykow und Zjurupa war Kamenew in der letzten Lebensperiode Lenins sein Stellvertreter im Amte des Vorsitzenden des Sowjets der Volkskommissare. Nach Lenins Tode führte Kamenew den Vorsitz im Politbüro und im Sowjet für Arbeit und Verteidigung, dem höchsten Wirtschaftsorgan des Landes.

Im Jahre 1923 eröffneten Sinowjew und Kamenew eine Kampagne gegen Trotzki. Zu Anfang des Kampfes gaben sie sich kaum Rechenschaft über dessen Folgen, was natürlich nicht von ihrer politischen Weitsichtigkeit zeugt. Sinowjew ist vor allem ein Agitator von außergewöhnlichem Talent, aber fast nur Agitator. Kamenew, nach Lenins Formulierung – «ein kluger Politiker», aber ohne starken Willen und leicht sich anpassend an das intellektuelle, kulturell-spießerische, bürokratische Milieu.

Die Rolle von Stalin in diesem Kampfe hatte einen bedeutend organischeren Charakter. Der Geist der kleinbürgerlichen Provinz, das Fehlen theoretischer Vorbereitung, Unkenntnis Europas, Beschränktheit des Horizonts, – das alles charakterisierte Stalin, ungeachtet seines Bolschewismus. Seine Feindschaft zum Trotzkismus hatte viel tiefere Wurzeln als bei Sinowjew und Kamenew, und suchte schon lang nach einem politischen Ausdruck. Selbst zu theoretischen Verallgemeinerungen unfähig, stieß Stalin hintereinander Sinowjew, Kamenew, Bucharin vorwärts und wählte aus ihren Reden und Artikeln das aus, was ihm für seine Zwecke am geeignetsten dünkte.

Der Kampf der Mehrheit des Politbüros gegen Trotzki, in bedeutendem Maße wie eine persönliche Verschwörung beginnend, entfaltete schon sehr bald seinen politischen Inhalt. Dieser war weder einfach noch einheitlich. In der Linken Opposition sammelten sich um den autoritätsvollen bolschewistischen Kern viele Organisatoren des Oktoberumsturzes, Kämpfer des Bürgerkriegs, eine bedeutende Schicht von Marxisten aus der studierenden Jugend. Aber hinter dieser Avantgarde zog sich in der ersten Zeit ein Schwanz von allerlei Unzufriedenen, Unangepassten, bis zu den beleidigten Karrieristen. Nur der schwere Gang des weiteren Kampfes hat die Opposition allmählich von ihren zufälligen und ungebetenen Begleitern befreit.

Unter dem Banner der «Troika» – Sinowjew-Kamenew-Stalin – sammelten sich viele «alte Bolschewiki», besonders die, welche Lenin noch im April 1917 ins Archiv abzuliefern vorschlug; aber auch viele ernste Illegalitätsarbeiter, starke Parteiorganisatoren, aufrichtig glaubend, dass eine Gefahr der Ersetzung des Leninismus durch den Trotzkismus heranrückt. Je weiter jedoch, umso geschlossener erhob sich gegen die «permanente Revolution» der Wall der wachsenden und erstarkenden Sowjetbürokratie. Sie war es auch, die späterhin Stalin das Übergewicht über Sinowjew und Kamenew sicherte.

Der Kampf innerhalb der «Troika», ebenfalls in bedeutendem Maße als persönlicher Kampf beginnend – die Politik wird von Menschen und durch Menschen gemacht, und nichts Menschliches ist ihr fremd, – entfaltete seinerzeit bald seinen prinzipiellen Inhalt. Der Vorsitzende des Petrograder Sowjets, Sinowjew, der Vorsitzende des Moskauer Sowjets, Kamenew, waren bestrebt, sich auf die Arbeiter der beiden Hauptstädte zu stützen. Die Hauptstütze Stalins war in der Provinz und im Apparat: in der rückständigen Provinz eroberte der Apparat früher als in den Hauptstädten die Allmacht. Der Vorsitzende der Komintern, Sinowjew, schätzte seine internationale Position. Stalin blickte mit Verachtung auf die kommunistischen Parteien des Westens. Für seine nationale Beschränktheit fand er 1924 die Formel: Sozialismus in einem Lande. Sinowjew und Kamenew stellten ihm ihre Zweifel und Einwände gegenüber. Aber Stalin schien es genügend, sich auf diejenigen Kräfte zu stützen, welche von der «Troika» gegen den «Trotzkismus» mobilisiert worden waren, um Sinowjew und Kamenew automatisch zu erledigen.

Die Vergangenheit Sinowjews und Kamenews, die Jahre ihrer gemeinsamen Arbeit mit Lenin, die internationale Schule der Emigration, – das alles musste sie jener Welle der Selbstgenügsamkeit, die letzten Endes die Oktoberrevolution hinweg zu spülen drohte, feindlich gegenüberstellen. Das Ergebnis des neuen Kampfes in der Spitze war für viele völlig überraschend: zwei der wütendsten Inspiratoren der Hetze gegen den «Trotzkismus» erwiesen sich im Lager der «Trotzkisten».

Um das Zustandekommen des Blocks zu erleichtern hat die Linke Opposition – gegen die Warnungen und Einwände des Autors dieser Zeilen – einzelne Formulierungen ihrer Plattform abgeschwächt und sich zeitweilig von der offiziellen Beantwortung der schärfsten theoretischen Fragen zurückgehalten. Schwerlich, dass das richtig war. Der Linken Opposition von 1925 kam es nicht zu, Zugeständnisse im Wesentlichen zu machen. Wir blieben uns selber treu. Sinowjew und Kamenew kamen zu uns. Überflüssig zu sagen, in welchem Maße der Übergang der geschworenen Feinde von gestern auf die Seite der Opposition von 1925 die Überzeugung unserer Reihen in unser eigenes historisches Recht gestärkt hat.

Jedoch sahen Sinowjew und Kamenew auch diesmal nicht alle politischen Folgen ihres Schrittes voraus. Wenn sie im Jahre 1923 hofften, mittels einiger Agitationskampagnen und organisatorischer Manöver die Partei von der «Hegemonie Trotzkis» zu befreien, alles andere beim alten lassend, so schien es ihnen jetzt, dass sie, im Bunde mit der Opposition von 1923, schnell mit dem Apparat fertig werden und sowohl ihre persönlichen Positionen als auch den Leninschen Parteikurs wiederherstellen könnten.

Sie irrten sich von neuem. Die persönlichen Gegensätze und Gruppierungen in der Partei waren schon völlig zu Instrumenten der unpersönlichen sozialen Kräfte, Schichten und Klassen geworden. Die Reaktion gegen die Oktoberumwälzung hatte ihre eigene innere Gesetzmäßigkeit, deren schwerer Rhythmus nicht einfach durch Kombinationen und Manöver übersprungen werden konnte.

Sich von Tag zu Tag verschärfend, näherte sich der Kampf zwischen dem Oppositionsblock und der Bürokratie seinen letzten Grenzen Die Sache ging schon nicht mehr um eine Diskussion, wenn auch unter der Knute, sondern um einen Bruch mit dem offiziellen Sowjetapparat, d. h. um die Perspektive eines schweren Kampfes für eine Reihe von Jahren, mit großen Gefahren und unbestimmtem Ausgang.

Sinowjew und Kamenew schreckten zurück. Wie sie im Jahre 1917, am Vorabend des Oktober, vor dem Bruch mit der kleinbürgerlichen Demokratie zurückschreckten, so 10 Jahre später vor dem Bruch mit der Sowjetbürokratie. Und das war umso mehr «nicht zufällig», als die Sowjetbürokratie zu drei Vierteln aus eben denselben Elementen bestand, die im Jahre 1917 die Bolschewiki mit dem unvermeidlichen Zusammenbruch des «Oktober-Abenteuers» schreckten.

Die Kapitulation Sinowjews und Kamenews vor dem 15. Parteitag, im Augenblick der organisatorischen Zertrümmerung der Bolschewiki-Leninisten, empfand die Linke Opposition als einen ungeheuren Verrat. Seinem Wesen nach war es auch ein solcher. Und diese Kapitulation hat gleichfalls ihre eigene nicht nur psychologische, sondern auch politische Gesetzmäßigkeit. In einer Reihe grundlegender Fragen des Marxismus (Proletariat und Bauernschaft, «demokratische Diktatur», permanente Revolution) standen Sinowjew und Kamenew zwischen der Stalinschen Bürokratie und der Linken Opposition. Die theoretische Formlosigkeit rächte sich wie immer unvermeidlich in der Praxis.

Bei all seinem agitatorischen Radikalismus entzog Sinowjew sich immer den tatsächlichen Konsequenzen der politischen Formulierungen. Gegen die Stalinsche Politik in China ankämpfend, widersetzte er sich bis zum Schluss dem Bruch zwischen der Kommunistischen Partei und der Kuomintang. Stalins Bündnis mit Purcell und Citrine entlarvend, blieb er vor dem Bruch mit dem anglo-russischen Komitee in Unentschlossenheit stehen. Sich dem Kampfe gegen die thermidorianischen Tendenzen anschließend, gab er sich selbst von vornherein den Schwur, es auf keinen Fall bis zum Ausschluss aus der Partei kommen zu lassen. In dieser Halbheit war sein unvermeidlicher Zusammenbruch eingeschlossen. «Alles, bis auf den Ausschluss aus der Partei» bedeutete, gegen den Stalinismus in den Grenzen zu kämpfen, die Stalin erlaubt.

Nach der Kapitulation machten Sinowjew und Kamenew entschieden alles, um das Vertrauen der Spitzen zurückzugewinnen und sich aufs Neue im offiziellen Milieu zu assimilieren. Sinowjew versöhnte sich mit der Theorie des Sozialismus in einem Lande, entlarvte von neuem den «Trotzkismus» und versuchte sogar Stalin persönlich zu beweihräuchern. Nichts wollte helfen. Die Kapitulanten duldeten, schwiegen, warteten. Aber bis zum 5-jährigen Jubiläum der eigenen Kapitulation haben sie es doch nicht gebracht: sie erwiesen sich als in eine «Verschwörung» verwickelt, aus der Partei ausgeschlossen, vielleicht ausgewiesen oder verbannt.

Erstaunlich: Sinowjew und Kamenew litten nicht für ihre eigene Sache und nicht unter eigener Fahne Das grundlegende Verzeichnis der nach dem Urteil vom 9. Oktober Ausgeschlossenen besteht aus ausgesprochenen Rechten, das heißt Anhängern von Rykow-Bucharin-Tomski. Bedeutet es, dass der linke Zentrismus sich mit dem rechten Zentrismus gegen den bürokratischen Kern verbündet hat? Beeilen wir uns nicht mit Schlussfolgerungen.

Die bedeutendsten Namen des Verzeichnisses sind nach Kamenew und Sinowjew – Uglanow und Rjutin, zwei ehemalige Mitglieder des ZK. Uglanow als General-Sekretär des Moskauer Komitees, Rjutin als Leiter der Agitprop, leiteten in der Hauptstadt den Kampf gegen die Linke Opposition, alle Ecken und Winkel vom «Trotzkismus» reinigend. Besonders wütend hetzten sie in den Jahren 1926-27 Sinowjew und Kamenew als «Verräter» der herrschenden Fraktion. Als Uglanow und Rjutin infolge des Stalinschen Linkszickzacks sich als die wichtigsten praktischen Organisatoren der Rechts-Opposition herausstellten, waren alle offiziellen Reden und Artikel gegen sie nach einem und demselben Schema gebaut: «Die bedeutenden Verdienste Uglanows und Rjutins im Kampfe mit dem Trotzkismus können von niemand geleugnet werden; aber ihre Plattform ist doch kulakisch und bürgerlich-liberal». Die Stalinisten stellten sich so als ob sie nicht merkten, dass gerade wegen dieser Plattform der Kampf geführt wurde. Prinzipielle Positionen besaßen damals, wie auch jetzt, nur die Linken und die Rechten. Die Stalinisten lebten politisch von Almosen der einen und der anderen.

Bereits im Jahre 1928 begannen Uglanow und Rjutin zu erklären, dass die Linke Opposition in der Frage des Parteiregimes recht gehabt habe, – ein umso lehrreicheres Geständnis, als kein anderer sich solcher Erfolge in der Befestigung des Stalinregimes rühmen konnte, wie Uglanow und Rjutin. Die «Solidarität» in der Frage der Parteidemokratie konnte jedoch das Herz der Linken Opposition gegenüber den Rechten nicht erweichen. Die Parteidemokratie ist kein abstraktes Ideal; am wenigsten ist sie dazu bestimmt, als Deckung thermidorianischer Tendenzen zu dienen. Indessen stellten im Lager der Rechten Uglanow und Rjutin, zum mindesten in jenen Jahren, den grellsten thermidorianischen Flügel dar.

Unter den anderen Teilnehmern der Verschwörung nennt der Beschluss der ZKK auch andere ausgesprochene Rechte, wie Slepkow und Marezki, rote Professoren bucharinscher Schule, Führer des Komsomol und der «Prawda», Schöpfer zahlreicher programmatischer Resolutionen des ZK, Verfasser unzähliger Artikel und Broschüren gegen den «Trotzkismus».

In der Proskriptionsliste befinden sich Ptaschny und Gorelow, mit einem Hinweis auf ihre ehemalige Zugehörigkeit zur «trotzkistischen Opposition». Geht, hier die Rede wirklich um zwei wenig bekannte linke Kapitulanten, die sich späterhin den Rechten anschlossen, oder haben wir eine Fälschung vor uns, mit der Absicht die Partei zu betrügen – darüber zu urteilen haben wir keine Möglichkeit. Ersteres ist nicht ausgeschlossen, aber das zweite durchaus wahrscheinlich.

In der Aufzählung der Teilnehmer fehlen die Hauptführer der Rechtsopposition. Die Telegramme der bürgerlichen Zeitungen meldeten, dass Bucharin «seine Stellung in der Partei endgültig wiederhergestellt habe» und sogar für den Posten von Bubnow, der zur GPU übergeht, als Volkskommissar für Aufklärung vorgemerkt sein soll. Rykow sei auch wieder in Gunst, trat mit einer Rede im Rundfunk auf u. a. m. Die Tatsache, dass in der Liste der «Verschwörer» weder Rykow, noch Bucharin, noch Tomski sich befinden, macht in der Tat irgendwelche zeitweilige bürokratische Begünstigungen der ehemaligen Führer der Rechtsopposition wahrscheinlich. Von einer Wiederherstellung ihrer alten Positionen in der Partei kann jedoch nicht die Rede sein.

Die Gruppe im Ganzen wird des Versuchs beschuldigt, eine «bürgerlich-kulakische Organisation zur Wiederherstellung des Kapitalismus in der UdSSR, und, im besonderen, des Kulakentums» zu schaffen. Eine erstaunliche Formulierung! Organisation zur Wiederherstellung des «Kapitalismus, und im besonderen (!) des Kulakentums». Dieses «Besondere» verrät das Ganze, oder deutet es zumindestens an. Dass einige der Ausgeschlossenen, wie Slepkow und Marezki, ihrem Lehrer Bucharin folgend, in der. Periode des Kampfes gegen den «Trotzkismus» die Idee des «Hineinwachsens ‘des Kulaken in den Sozialismus» entwickelten, ist völlig unbestreitbar. In welcher Richtung sie sich seitdem fortentwickelt haben, ist uns unbekannt. Doch ist es sehr leicht möglich, dass ihr heutiges Verbrechen nicht so sehr darin besteht, dass sie den Kulaken «wiederherstellen» wollen, als vielmehr darin, dass sie den Sieg Stalins auf dem Gebiet der «Liquidierung des Kulakentums als Klasse» nicht … anerkennen.

In welchem Verhältnis zum Programm der «Wiederherstellung des Kapitalismus» stehen jedoch Sinowjew und Kamenew? Über ihre Beteiligung am Verbrechen meldet die Sowjetpresse: «Wissend von der Verbreitung konterrevolutionärer Dokumente, haben sie es vorgezogen, anstatt die Agenten der Kulakenagentur unverzüglich zu entlarven, dieses (?) Dokument zu beurteilen (!) und damit als direkte Beteiligte der antiparteilichen, konterrevolutionären Gruppe aufzutreten». Sinowjew und Kamenew haben also «vorgezogen das Dokument zu erörtern», anstatt «unverzüglich zu entlarven». Die Ankläger entschließen sich nicht einmal zu behaupten, Sinowjew und Kamenew hätten überhaupt nicht die Absicht gehabt «zu entlarven». Nein, ihr Verbrechen besteht darin, dass sie vorzogen «zu beurteilen», bevor sie «entlarvten». Wo, wie und mit wem besprachen Sie? Wäre das auf einer Geheimsitzung der rechten Organisation geschehen, – hätten die Ankläger nicht versäumt, darüber Mitteilung zu machen. Augenscheinlich, Sinowjew und Kamenew haben «vorgezogen» unter vier Augen «zu besprechen». Haben sie im Ergebnis der Besprechung ihre Sympathie der Plattform der Rechten erklärt? Wenn es auch nur eine Andeutung auf eine derartige Sympathie gäbe, – wir hätten darüber aus dem Beschluss erfahren. Die Verschweigung zeugt vom Gegenteil: Sinowjew und Kamenew haben allem Anschein nach die Plattform der Rechten einer Kritik unterworfen, anstatt Jagoda anzurufen. Da sie aber nicht angerufen haben, so schreibt ihnen die «Prawda» den Gedanken zu: «Der Feind meines Feindes – ist mein Freund».

Die grobe Überspannung der Anklage gegenüber Sinowjew und Kamenew erlauben mit Bestimmtheit den Schluss zu ziehen, dass der Schlag sich besonders gegen sie richtete. Nicht darum, weil sie in der letzten Zeit irgendeine politische Aktivität an den Tag legten. Uns ist nichts darüber bekannt, und, was wichtiger ist, aus dem Urteil geht hervor, dass auch das ZKK nichts weiß. Aber die objektive politische Lage hat sich derart verschlechtert, dass Stalin keine legalen Anwärter auf die Führung dieser oder jener Oppositionsgruppe im Bestande der Partei weiter dulden kann.

Die Stalinsche Bürokratie verstand natürlich schon längst, dass die von ihr verstoßenen Sinowjew und Kamenew sich für oppositionelle Strömungen in der Partei außerordentlich «interessieren» und allerlei Dokumente lesen, die nicht für Jagoda bestimmt sind. Im Jahre 1928 hat Kamenew sogar geheime Verhandlungen mit Bucharin über die Möglichkeit eines Blocks geführt. Die Protokolle dieser Verhandlungen wurden von der Linken Opposition damals veröffentlicht. Jedoch entschlossen sich die Stalinisten nicht, Sinowjew und Kamenew auszuschließen. Sie wollten sich nicht ohne äußerste Not durch neue, skandalöse Repressalien kompromittieren. Es begann eine Periode teils wirklicher, teils scheinbarer wirtschaftlicher Erfolge. Sinowjew und Kamenew schienen nicht unmittelbar gefährlich.

Jetzt hat sich die Lage grundlegend geändert. Zwar lauten die Zeitungsartikel, die den Ausschluss erklären: «da wir wirtschaftlich außerordentlich erstarkt sind, da die Partei völlig einheitlich geworden ist, können wir jetzt nicht das geringste «Versöhnlertum» dulden». In dieser Erklärung stechen die weißen Fäden viel zu grob nach außen. Die Notwendigkeit des Ausschlusses von Sinowjew und Kamenew aus einem offensichtlich fiktiven Grunde zeugt, im Gegenteil, von einer außerordentlichen Schwächung Stalins und seiner Fraktion. Sinowjew und Kamenew mussten schleunigst erledigt werden, nicht darum, weil ihr Verhalten sich geändert hätte, sondern deshalb, weil sich die Situation geändert hat. Die Gruppe Rjutin wurde in diesem Falle, unabhängig von ihrer wirklichen Arbeit, nur zum Zwecke der Servierung herangezogen. In Vorahnung «dessen, dass sie bald zur Rechenschaft gezogen werden können, «ergreifen die Stalinisten Maßnahmen».

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Im allgemeinen kann man nicht leugnen, dass diese Kombinierung des Gerichtes über die Rechten (die Stalins Politik 1923-28 inspirierten), mit zwei wirklichen oder angeblichen ehemaligen «Trotzkisten» und mit Sinowjew und Kamenew, die des Wissens und Nichtmeldens schuldig sind – ein völlig würdiges Produkt der politischen Schöpfungen Stalins, Jaroslawskis und Jagodas darstellt. Ein klassisches Amalgam von thermidorianischem Typus! Das Ziel der Kombination besteht darin, die Karten zu vermischen, die Partei zu desorientieren, die ideologische Verwirrung zu vergrößern, und damit den Arbeitern zu erschweren, sich zurechtzufinden und einen Weg zu finden. Die zusätzliche Aufgabe besteht darin, Sinowjew und Kamenew, ehemalige Führer der Linksopposition, zu erniedrigen, indem man sie wegen der «Freundschaft» mit der Rechtsopposition ausschließt.

Von sich selbst erhebt sich die Frage: wie haben alte Bolschewiki, kluge Leute und erfahrene Politiker dem Gegner die Möglichkeit gegeben, ihnen einen derartigen Schlag zu versetzen? Wie konnten sie, nachdem sie sich von der eigenen Plattform losgesagt hatten, um in der Partei zu verbleiben, letzten Endes aus der Partei wegen einer angeblichen Verbindung mit einer fremden Plattform hinausfliegen? Man ist gezwungen zu antworten: auch dieses Ergebnis kam nicht zufällig. Sinowjew und Kamenew versuchten die Geschichte zu überlisten. Selbstverständlich ließen sie sich in erster Linie von Sorgen um die Sowjetunion, um die Einheit der Partei und keineswegs um das eigene Wohlergehen leiten. Aber sie stellten ihre Aufgaben nicht in der Ebene der Revolution, der russischen wie der internationalen, sondern in der viel tieferen Ebene der Sowjetbürokratie.

In ihren schwersten Stunden, am Vorabend der Kapitulation, beschworen sie uns, ihre damaligen Verbündeten, «der Partei entgegenzukommen». Wir antworteten, dass wir der Partei völlig entgegenkommen, aber in einem anderen, höheren Sinne, als dies Stalin und Jaroslawski brauchen. – Aber das ist doch Spaltung? Das ist doch die Gefahr des Bürgerkriegs und des Sturzes der Sowjetmacht? – Wir antworteten: Ohne unserem Widerstand zu begegnen, würde die Politik Stalins die Sowjetmacht zum unvermeidlichen Untergange verurteilen. Dieser Gedanke ist auch in unserer Plattform ausgedrückt. Es siegen die Prinzipien. Die Kapitulation siegt nicht. Wir werden alles tun, damit der Kampf um die Prinzipien unter Berücksichtigung der gesamten, äußeren wie inneren Situation geführt wird. Jedoch kann man nicht alle Varianten dieser Entwicklung voraussehen. Aber mit der Revolution Versteck zu spielen, List gegenüber Klassen, Diplomatie gegenüber der Geschichte anzuwenden, ist unsinnig und verbrecherisch. In derart schwierigen und verantwortungsvollen Situationen muss man sich von der Regel leiten lassen, die die Franzosen durch die herrlichen Worte ausgedrückt haben: Fais ce que doit, advienne que pourra! (Tue, was du musst, und komme, was da kommen mag!).

Sinowjew und Kamenew sind als Opfer der Nichteinhaltung dieser Regel gefallen.

*

Wenn man den völlig demoralisierten Teil der Kapitulanten von der Art Radeks und Pjatakows beiseite lässt, die in der Eigenschaft als Journalisten oder Beamte jeder siegreichen Fraktion dienen werden (unter dem Vorwande, dass sie dem Sozialismus dienen), so stellen die Kapitulanten, als politische Gruppe genommen, gemäßigte innerparteiliche «Liberale» dar, welche in einem bestimmten Augenblick sich zu weit nach links (oder nach rechts) verschlugen, dann aber auf Kompromisse mit der herrschenden Bürokratie eingingen. Der heutige Tag wird dadurch gekennzeichnet, dass dieser Kompromiss, der endgültig zu sein schien, zu krachen und zu explodieren beginnt, noch dazu in einer äußerst scharfen Form. Die gewaltige symptomatische Bedeutung des Ausschlusses von Sinowjew und Kamenew, Rjutin und anderer geht daraus hervor, dass in den neuen Zusammenstößen der Spitzen sich tiefe Verschiebungen in den Massen widerspiegeln.

Welche politischen Voraussetzungen bedingten die Periode der Kapitulationen der Jahre 1929-30? Die bürokratische Drehung des Steuers nach links; die Erfolge der Industrialisierung; das schnelle Wachstum der Kollektivierung. Der Fünfjahresplan ergriff die Arbeitermassen. Es eröffnete sich eine weite Perspektive. Die Arbeiter versöhnten sich mit dem Verlust der politischen Selbständigkeit in Erwartung naher und entscheidender sozialistischer Erfolge. Die Bauernarmut erwartete von den Kollektiven eine Änderung ihres Schicksals. Das Lebensniveau der niederen Bauernschichten hatte sich erhöht, allerdings; größtenteils auf Kosten des Grundkapitals der Landwirtschaft. Dies waren die ökonomischen Voraussetzungen und die politische Atmosphäre der Kapitulationsepidemie.

Das Anwachsen der wirtschaftlichen Disproportionen, die Verschlechterung der Lage der Massen, das Wachsen der Unzufriedenheit, sowohl der Arbeiter, wie auch der Bauern, die Zersetzung im Apparat selbst, – dies sind die Voraussetzungen für die Belebung aller Arten von Oppositionen. Die Schärfe der Widersprüche und die gespannten Zweifel in der Partei stoßen immer mehr die gemäßigtem vorsichtigen, stets kompromissbereiten «Parteiliberalen» auf den Weg des Protestes. Die in die Sackgasse getriebene Bürokratie antwortet unverzüglich mit Repressalien, die größtenteils vorbeugend sind.

Die offene Stimme der Linken Opposition hören wir noch nicht. Kein Wunder: die gleichen bürgerlichen Zeitungen, die von den angeblich bevorstehenden Begünstigungen Rykows und Bucharins berichten, melden gleich zeitig von «neuen Massenverhaftungen unter den «Trotzkisten». Die Linke Opposition war im Laufe von 5 Jahren in der UdSSR so furchtbaren polizeilichen Verfolgungen ausgesetzt, ihre Kader sind in so außergewöhnliche Verhältnisse gestellt, dass es ihr unermesslich schwerer ist als den legalen «Liberalen» ihren Standpunkt offen zu formulieren und in die heranreifenden Ereignisse organisatorisch einzugreifen. Die Geschichte der bürgerlichen Revolutionen erinnert uns daran, dass im Kampfe gegen den Absolutismus die Liberalen, auf Grund ihrer legalen Vorteile, stets als erste im Namen des «Volkes» auftraten; erst der Kampf zwischen der liberalen Bourgeoisie und der Bürokratie hat der kleinbürgerlichen Demokratie und dem Proletariat den Weg geebnet. Selbstverständlich, es handelt sich hierbei lediglich um eine geschichtliche Analogie; doch scheint es uns dennoch, dass sie immerhin etwas erklärt.

Die Resolution des Septemberplenums des ZK rühmt sich durchaus unpassend und unzeitgemäß: «Nachdem sie den konterrevolutionären Trotzkismus zerschlagen und das antileninistische kulakische Wesen der rechten Opportunisten entlarvt hatte, hat die Partei … gegenwärtig entscheidende Erfolge errungen…» Schon die allernächste Zukunft wird offenbaren, dass die rechte und die linke Opposition nicht nur nicht zerschlagen und vernichtet sind, sondern im Gegenteil, politisch überhaupt nur sie existieren. Namentlich die offizielle Politik der letzten 3-4 Jahre hat die Vorbedingungen für einen neuen Aufschwung der rechts-thermidorianischen Tendenzen geschaffen. Das Bestreben der Stalinisten, Rechte und Linke auf einen Haufen zu werfen, wird bis zu einem gewissen Grade dadurch erleichtert, dass die einen wie die anderen in der gegebenen Etappe vom Rückzug reden. Das ist unvermeidlich: Die Notwendigkeit eines geordneten Rückzugs von der Linie des bürokratischen Vorstoßes ist gegenwärtig eine unmittelbare Lebensaufgabe des proletarischen Staates. Die zentristischsten Bürokraten träumen von nichts anderem, als davon, einen möglichst geordneten Rückzug ohne endgültigen Verlust ihres Prestiges durchzuführen. Aber sie können sich nicht darüber täuschen, dass ein Rückzug unter Bedingungen der Lebensmittelknappheit und sonstiger Not ihnen allzu teuer zu stehen kommen kann. Daher weichen sie schleichend zurück und beschuldigen die Opposition der Rückzugstendenzen.

Die reale politische Gefahr besteht darin, dass die Rechten, die Fraktion des permanenten Rückzugs, die Möglichkeit erhalten haben zu erklären: das haben wir schon immer verlangt. Die Dunkelheit, in der die Partei lebt, erlaubt den Arbeitern nicht, sich schnell in der Dialektik des wirtschaftlichen Prozesses zurechtzufinden und das beschränkte, zeitweilige, konjunkturelle «Recht» der Rechten, bei der Falschheit ihrer Grundposition richtig einzuschätzen.

Umso wichtiger ist eine klare, selbständige, weit vorausblickende Politik der Bolschewiki-Leninisten. Aufmerksam alle Prozesse im Lande und in der Partei verfolgen. Die einzelnen Gruppierungen nach ihren Ideen und sozialen Verbindungen richtig einschätzen. Von einzelnen taktischen Übereinstimmungen mit den Rechten nicht zurückschrecken. Wegen taktischer Übereinstimmungen die entgegengesetzte Richtung der strategischen Linien nicht vergessen.

Der politische Differenzierungsprozess wird sich im Sowjetproletariat auf der Linie der Fragen vollziehen: wie zurückziehen? Bis zu welcher Grenze zurückweichen? Wann und wie zum neuen Angriff übergehen? In welchem Tempo angreifen? So wichtig diese Fragen an und für sich auch sind, sie allein sind ungenügend. Wir machen keine Politik in einem einzelnen Land. Das Schicksal der Sowjetunion wird sich in unlöslicher Verknüpfung mit der Weltentwicklung entscheiden. Es ist notwendig, vor den russischen Arbeitern von neuem die Probleme des Weltkommunismus in vollem Umfange aufzustellen.

Nur das selbständige Auftreten der Linken Opposition und die Vereinigung des entscheidenden proletarischen Kerns unter ihrem Banner können die Partei, den Arbeiterstaat und die Kommunistische Internationale wiederbeleben.

Prinkipo, den 19. Oktober 1932.

L. Trotzki

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