Leo Trotzki‎ > ‎1932‎ > ‎

Leo Trotzki 19320500 „Fundamente des Sozialismus"

Leo Trotzki: „Fundamente des Sozialismus"

(Ein nicht ernst zu nehmender Mensch über eine ernste Frage.)

[Nach Permanente Revolution, 2. Jahrgang Nr. 22 (2. Septemberwoche 1932), S. 2 f.]

Die deutsche liberale Zeitung, das «Berliner Tageblatt» widmete im Mai dem wirtschaftlichen Aufbau der UdSSR eine besondere Nummer. Der politische Artikel ist von Radek geschrieben. Auf die Frage, in welcher Richtung die Entwicklung der Sowjetunion verläuft, antwortet Radek: «In den 14 Jahren, die uns von der Oktoberrevolution trennen, sind in Russland die Grundlagen des Sozialismus geschaffen worden, in ungeheuren Kämpfen, in ununterbrochenem Ringen wird eine neue Gesellschaft gebildet». In so allgemeiner Form rufen diese Worte natürlich keinerlei Widerspruch hervor, besonders, wenn sie in den Spalten einer bürgerlichen Zeitung verkündet werden. Aber Radek bleibt dabei nicht stehen. Von dem unstillbaren Bedürfnis getrieben, die Aufrichtigkeit seiner Buße zu beweisen, schreibt er weiter: «Diese These wird nicht nur von den offenen Feinden der Sowjetunion verworfen, sondern sie wird auch angefochten von Leo Trotzki mit der Bemerkung, man kompromittiere den Sozialismus, wenn man in einer Zeit, wo es in Russland an Milch fehle, von der Schaffung der Fundamente des Sozialismus spreche. Eine solche Bemerkung zeigt nur, dass dem Verfasser die Maßstäbe abhanden gekommen sind, die er früher zur Beurteilung historischer Ereignisse anzuwenden verstand. Radek. der sich von der eigenen Plattform lossagte, beschuldigt andere, die historischen Maßstäbe verloren zu haben! Worin jedoch sollen sie bestehen? Wir bringen die Antwort wörtlich:

«Die Milch ist ein Produkt der Kuh und nicht des Sozialismus, und man muss schon den Sozialismus mit dem Bilde des Landes verwechseln, in dessen Flüssen Milch fließt, um nicht zu verstehen, dass sich ein Land auf eine viel höhere Stufe der Entwicklung erheben kann, ohne dass sich dabei vorübergehend die materielle Lage der Volksmassen bedeutend hebt».

«Berliner Tageblatt» 8. Mai 1932.

Lassen wir einstweilen den scherzhaften Ton der Ausführungen beiseite. Versuchen wir den ernsthaften Kern aus ihm herauszuschälen. Die Antwort Radeks enthält vor allem einen theoretischen Kniff, zu dem, es ist richtig, öfters auch Stalin seine Zuflucht nimmt, wenn man ihn an die Wand gedrückt hat. Es handelt sich nun das Wörtchen «Fundament» des Sozialismus. Die jetzigen Führer der Sowjetunion erklärten offiziell, dass das Land «in den Sozialismus eingetreten ist». Diese Behauptung nannten und nennen wir eine verbrecherische bürokratische Scharlatanerie. Über das Eintreten in den Sozialismus schweigt Radek sich aus. Statt dessen teilt er mit, dass in der Sowjetunion die Grundlagen, oder die Fundamente des Sozialismus gelegt sind. Dem kann man zustimmen oder nicht zustimmen, je nachdem, was man unter «Fundament» versteht. Radek lässt uns in Bezug hierauf nicht ohne Antwort: «Wenn wir überzeugt sind», sagt er, «dass in Russland schon die Fundamente des Sozialismus gelegt worden sind, so basiert unser Urteil in erster Linie auf der Tatsache, dass die besitzende Klasse verschwunden und die Produktionsmittel in den Händen des proletarischen Staates konzentriert sind», in diesem Sinn ist das Fundament unbestreitbar gelegt. Aber bei einer derartigen Formulierung verschwindet das Streitobjekt überhaupt. Radek lässt seine Beweisführung darin gipfeln, dass in Russland schon der proletarische Umsturz erfolgt ist. Es kann nichts schaden, die ehrenwerten Leser des «Berliner Tageblatt» daran zu erinnern. Das Schlimme liegt jedoch darin, dass der proletarische Umsturz und die Expropriation der besitzenden Klassen sich schon im Jahre 1917-1918 ereignete. Der Eintritt in den Sozialismus wurde indessen in den Jahren 1930-31 bekannt gemacht. Man hat ihn uns nicht bekannt gemacht auf Grund der Expropriation der Expropriateure (diese Tatsache wussten wir auch schon früher), sondern auf Grund der Resultate der durchgängigen Kollektivierung und Vernichtung des Kulakentums, als Klasse. Warum denn gibt Radek die erste Grabenlinie, die «Stalinsche Linie», kampflos preis? Warum weicht er, während er so tapfer die Feindseligkeiten gegen Trotzki eröffnet, sogleich in die hinterste Etappe zurück, und verschanzt sich hinter der von niemand bedrohten Linie vom Jahre 1918?

Unzweifelhaft, in den ersten Jahren nach dem Oktoberumsturz haben wir zehnmal und hundertmal gesagt: «das Fundament des sozialistischen Aufbaus ist bei uns gelegt». Und das war richtig. Aber das bedeutete; lediglich: die politischen und besitzrechtlichen Voraussetzungen für die sozialistische Umbildung sind gegeben. Und weiter nichts.

Wenn man mit Radek irgend wie ernstlich über ernsthafte Dinge sprechen könnte, würden wir versuchen, ihm klar zu machen, dass es unmöglich ist, sich im Jahre 1932 als Antwort auf die Frage, wohin die Entwicklung der Sowjetunion führt, auf das politische «Fundament» des sozialistischen Aufbaus zu berufen. Die Mangelhaftigkeit einer bloßen Berufung hierauf zeigte sich zum ersten Mal in großem Maßstab zu Beginn des Jahres 1921, als die Frage der gegenseitigen Beziehungen zur Bauernschaft akut wurde. Die Herstellung eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses zwischen Stadt und Dorf wurde damals angekündigt als die Herstellung des wirklichen Fundaments des sozialistischen Anfbaus. Darin lag die Hauptaufgabe der Neuen ökonomischen Politik. Die theoretische Formel des Zusammenschlusses ist sehr einfach: die nationalisierte Industrie hat der Bauernschaft die ihr nötigen Produkte in solcher Menge, solcher Qualität und zu solchen Preisen zu liefern, dass der Faktor der außenwirtschaftlichen Nötigung, d.h. der administrativen Erfassung der bäuerlichen Arbeitsprodukte, aus den Wechselbeziehungen des Staates und der Hauptmasse der Bauernschaft ausgeschaltet oder auf ein Minimum zurückgeführt wird. Es ist die Rede natürlich nicht von den Kulaken, in Bezug auf die eine besondere Aufgabe besteht: ihre ausbeuterische Tätigkeit einzuschränken, und sie zu hindern, sich zur herrschenden Macht des Dorfes zu machen. Die Herstellung eines freiwilligen «Tausch»-verhältnisses zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen Stadt und Dorf hätte dem politischen Verhältnis des Proletariats und der Bauernschaft eine unerschütterliche Festigkeit gegeben. Bis zum Sozialismus wäre natürlich auch in diesem Fall noch ein langer und schwieriger Weg geblieben. Aber auf diesem Fundament – auf dem Fundament eines für den Bauern annehmbaren Zusammenschlusses von Stadt und Dorf – hätte man die Wirtschaft in Sicherheit weiter führen können, ohne sich fest zu fahren und ohne zurückzubleiben, indem man auf dem Weltmarkt manövriert und sich nach dem Verlauf der Entwicklung der Revolution im Westen und Osten gerichtet hätte. Der Weg hätte nicht zum nationalen Sozialismus gerührt, aber er ist auch niemand notwendig. Es hätte genügt, wenn die einstweilen isolierte Wirtschaft der Sowjetunion eines der vorbereitenden Elemente der künftigen internationalen sozialistischen Gesellschaft geworden wäre.

Wer im Jahre 1932 vom «Fundament des Sozialismus» spricht, der hat kein Recht auf die Linie von 1918 zurückzuweichen, ohne auch nur zu versuchen, sich bei der Linie von 1921 aufzuhalten, d.h., ohne Antwort auf die Frage zu geben: ist es in den seit der Einführung der neuen ökonomischen Politik der vergangenen 12 Jahren gelungen, den Zusammenschluss des Proletariats und der Bauernschaft im Leninschen Sinn des Wortes zu verwirklichen? Würden bei der «durchgängigen Kollektivierung» solche Beziehungen zwischen Stadt und Dorf gewährleistet, bei denen die außerwirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen, wenn nicht verschwunden sind, so doch offenbar verschwinden werden? Darin besteht die ganze Frage. Und auf diese Grundfrage muss einstweilen eine verneinende Antwort gegeben werden. Die durchgängige Kollektivierung zeigte sich nicht als Bekrönung und Entwicklung des erreichten Zusammenschlusses, sondern als administrative Verdeckung des Fehlens eines solchen. Diese Frage zu verschweigen, sie zu umgehen, mit Worten um sie spielen, heißt die größten Gefahren für die Diktatur des Proletariats herbeiführen… Aber natürlich, nicht von Radek ist eine Untersuchung des Problems des Zusammenschlusses von Proletariat und Bauernschaft zu erwarten…

Von Radek sind nur journalistische Streiche zu erwarten. Man kann nicht ohne Widerwillen, bemerken wir zum Schluss, die Mätzchen beobachten, die Radek in den Spalten einer liberalen Zeitung zum Besten gibt. Der Sozialismus ist nicht das Land, in dessen Flüssen Milch fließt. Fordert vom Sozialismus keine Milch. «Milch ist ein Produkt der Kuh». Wenn man bedenkt, dass gerade um der Kühe willen in der Sowjetunion sich soeben ein Kampf abspielt, der zuweilen tragische Formen annimmt, so werden die Faxereien Radeks völlig unerträglich. Man muss an die bei aller Zurückhaltung schonungslose Einschätzung denken, die Radek auf dem VII. Parteitag von Lenin zuteil wurde, zur Zeit des Streits um den Frieden von Brest-Litowsk. Anlässlich der Bemerkung Radeks, dass Lenin «Raum aufgibt, um Zeit zu gewinnen», erwiderte Lenin: «Ich kehre zu Genossen Radek zurück, und möchte hier bemerken, dass es ihm gelungen ist, zufällig eine ernsthafte Phrase zu machen… Diesmal kam es so, dass man bei dem Gen. Radek eine völlig ernste Redewendung zu hören bekam.»

Lenin gab unzweideutig zu verstehen, dass eine ernsthafte Redewendung Radek nur zufälligen und als seltenste Ausnahme entschlüpfen kann. Mit den Jahren wurde die Sache in dieser Hinsicht nicht im geringsten besser. Der Haare wurden weniger, die Leichtfertigkeit nahm zu. Stalin erklärte: «wir sind in den Sozialismus eingetreten».- Nicht zu früh prahlen, widersprach die Opposition, denn noch reicht den Kindern die Milch nicht. Da tritt ein Possenreißer auf, klingelt mit den Schellen und erklärt: die Milch ist ein Produkt der Kuh, aber nicht des Sozialismus. Im Tone Radeks könnte man mit einem russischen Sprichwort antworten: «von einem Bock soll man keine Milch erwarten». Auch ein kahl gewordener Bock bringt nur Sprünge fertig, nichts weiter. Dies der Grund, weshalb wir es vorziehen bei einem ernsteren Anlass zu ernsten Fragen zurückzukehren.

Kommentare