Leo Trotzki‎ > ‎1932‎ > ‎

Leo Trotzki 19320628 Hände weg von Rosa Luxemburg

Leo Trotzki: Hände weg von Rosa Luxemburg!

[Nach Permanente Revolution, 2. Jahrgang Nr. 15 (23. Juli 1932), S. 1-3]

Stalins Artikel «Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus» erhielt ich mit großer Verspätung. Als ich ihn hatte, konnte ich mich lange nicht überwinden, ihn durchzulesen, denn derlei Literatur geht der Kehle so wenig ein, wie Sägespäne oder gehackte Borsten. Aber als ich ihn schließlich doch gelesen hatte, kam ich zu dem Ergebnis, dass man an dieser Arbeit allein schon deswegen nicht vorübergehen kann, weil sie eine freche und unverschämte Verleumdung Rosa Luxemburgs enthält. Stalin versetzt die große Revolutionärin ins Lager des Zentrismus! Er zeigt – nicht zeigt natürlich, sondern behauptet, – dass der Bolschewismus von Anfang an die Richtung auf die Spaltung mit dem Kautskyschen Zentrismus eingeschlagen, während Rosa Luxemburg Kautsky von links her gedeckt habe. Bringen wir seine eigenen Worte: «Noch lange vor dem Krieg, ungefähr seit 1903-1904, als sich in Russland die Gruppe der Bolschewiki gebildet hatte und in der deutschen Sozialdemokratie die Linien sich zuerst bemerkbar machten – schlug Lenin die Richtung zum Bruch, zur Spaltung mit den Opportunisten ein, sowohl bei uns, in der russischen sozialdemokratischen Partei, wie auch in der 2. Internationale, in Besonderen in der deutschen Sozialdemokratie.» Wenn dies jedoch nicht gelang, so nur deshalb, weil «die linken Sozialdemokraten in der 2. Internationale und vor allem in der deutschen Sozialdemokratie eine schwache und ohnmächtige Gruppe darstellten, … die das Wort Bruch, Spaltung, fürchteten auch nur auszusprechen.» Dies ist die Grundtendenz des Artikels. Die Bolschewisten, angefangen mit dem Jahr 1903, traten für die Spaltung ein nicht nur mit den Rechten, sondern auch mit dem Kautsky'schen Zentrum: Rosa jedoch fürchtete das Wort «Spaltung» auch nur laut auszusprechen.

Um eine derartige Behauptung aufzustellen, muss man sich in völliger Unkenntnis der Geschichte der eigenen Partei und vor allem, des ideellen Entwicklungsganges von Lenin befinden. In der Voraussetzung Stalins ist auch nicht ein einziges richtiges Wort. In den Jahren 1903-1904 war Lenin natürlich ein unversöhnlicher Gegner des Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie. Aber als Opportunismus sah er nur die «revisionistische» Strömung an, welche theoretisch von Bernstein geführt wurde.

Kautsky befand sich damals im Kampf mit Bernstein. Lenin sah Kautsky als seinen Lehrer an und unterstrich dies überall, wo er konnte. In Lenins Arbeiten aus einer Reihe der folgenden Jahre, finden wir auch nicht die Spur einer prinzipiellen, gegen die Richtung Bebel-Kautsky gerichteten Kritik. Dafür finden wir eine Reihe von Erklärungen des Sinnes, dass der Bolschewismus nicht irgend eine selbständige Strömung sei, sondern nur die Übertragung der Richtung Bebel-Kautsky in die Sprache der russischen Verhältnisse. Man sehe, was Lenin in seiner bekannten Broschüre «Zweierlei Taktik:» Mitte 1905 schrieb: «Wo und wann nannte ich den Revolutionismus Bebels und Kautskys «Opportunismus»? Wo und wann beabsichtigte ich die Gründung irgend einer besonderen Richtung in der internationalen Sozialdemokratie, die nicht identisch ist mit der Richtung Bebels und Kautskys? Wo und wann traten Differenzen zwischen mir einerseits und Bebel und Kautsky andrerseits auf? … Die volle Solidarität der internationalen revolutionären Sozialdemokratie in allen wichtigen Fragen des Programms und der Taktik ist eine unbestreitbare Tatsache. Die Worte Lenins sind so sehr klar, deutlich, kategorisch, dass sie die Frage sofort erschöpfen.

Nach 1½ Jahren, am 7. Dezember 1906 schrieb Lenin in dem Artikel «Die Krise des Menschewismus»: «Wir haben von allem Anfang an (s. «Einen Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück») erklärt: wir gründen keinerlei besondere «bolschewistische» Richtung. Wir verteidigen nur immer und überall den Standpunkt der revolutionären Sozialdemokratie. Aber bis zur sozialen Revolution wird es in der Sozialdemokratie unvermeidlich einen opportunistischen und einen revolutionären Flügel geben.»

Indem Lenin vom Menschewismus als von einem opportunistischen Flügel der Sozialdemokratie sprach, stellte er die Menschewisten nicht mit Kautsky sondern mit dem Revisionismus auf eine Stufe. Den Bolschewismus jedoch betrachtete er als die russische Form des Kautskyanismus. der in seinen Augen in jener Periode mit dem Marxismus zusammenfiel. Das soeben angeführte Zitat beweist apropos, dass Lenin durchaus nicht unbedingt für die Spaltung mit den Opportunisten eintrat: er hielt das Verbleiben von Revisionisten in der Sozialdemokiatie bis zur sozialen Revolution nicht nur für möglich, sondern für «unvermeidlich».

Nach zwei Wochen, am 20. Dezember 1906, begrüßt Lenin triumphierend Kautskys Antwort auf die Umfrage Plechanows über den Charakter der russischen Revolution: «Das, was wir beanspruchten, – die Verteidigung der Position der revolutionären Sozialdemokratie gegen den Opportunismus, keineswegs die Gründung irgend einer «originellen» bolschewistischen Richtung – bestätigt Kautsky vollständig…»

In diesem Umfang ist die Frage, wie wir hoffen, völlig klar. Nach Stalin forderte Lenin schon seit 1901 in Deutschland den Bruch mit den Opportunisten nicht nur des rechten Flügels (Bernstein) sondern auch des linken (Kautsky). Lenin aber weist im Dezember 1906 Plechanow und die Menschewisten mit Stolz darauf hin. dass die Richtung Kautskys in Deutschland und die des Bolschewismus in Russland – identisch sind. So sieht der erste Teil des Ausflugs Stalins in die Geschichte der Ideen des Bolschewismus aus. Die Gewissenhaftigkeit und die Kenntnis des Forschers stehen auf einem Niveau!

Sogleich nach seiner Behauptung bezüglich der Jahre 1903/4 macht Stalin einen Sprung ins Jahr 1916 und beruft sich auf die scharfe Kritik Lenins an der Kriegsbroschüre von Junius, d.h. von Rosa Luxemburg. Jawohl, in dieser Periode hat Lenin dem Kautskyanismus schon einen unversöhnlichen Krieg erklärt, indem er aus seiner Kritik alle notwendigen organisatorischen Schlüsse zog. Es ist zweifellos, dass Rosa Luxemburg die Frage des Kampfes mit dem Zentrismus nicht mit der nötigen Schlussfolgerung stellte, – hier war die Überlegenheit gänzlich auf der Seite Lenins. Aber zwischen dem Oktober 1916, als Lenin über die Juniusbroschüre schrieb, und dem Jahr 1903, als der Bolschewismus entstand, vergingen 13 Jahre; im Laufe eines großen Teils dieser Periode befand sich Rosa Luxemburg in Opposition zu Kautsky und dem Bebelschen Parteivorstand, indem sie ihrem Kampfe gegen den formalen, pedantischen, innerlich faulen «Radikalismus» Kautskys immer schärfere Formen gab.

Lenin nahm an diesem Kampfe keinen Anteil und unterstützte Rosa Luxemburg nicht bis zum Jahre 1914. Leidenschaftlich beansprucht von den russischen Dingen, beobachtete er in internationalen Fragen eine überaus große Vorsicht. In Lenins Augen standen Bebel und Kautsky als Revolutionäre unvergleichlich höher als in den Augen Rosa Luxemburgs, die sie näher, in ihrer Tätigkeit, beobachtete, und die Atmosphäre der deutschen Politik weit unmittelbarer spürte.

Die Kapitulation der deutschen Sozialdemokratie vom 4. August war für Lenin eine völlige Überraschung, Es ist bekannt, dass Lenin die Nummer des «Vorwärts» mit der patriotischen Deklaration der sozialdemokratischen Fraktion für eine Fälschung des deutschen Stabes hielt. Erst als er sich endgültig von der schrecklichen Wahrheit überzeugt hatte, unterzog er seine Beurteilung der Hauptrichtungen der Sozialdemokratie einer Revision, wobei er diese Arbeit leninistisch vollzog, d. h. sie gleich zu Ende führte.

Am 27. Oktober 1914 schreibt Lenin an A. Schljapnikow: «Kautsky hasse und verachte ich jetzt ärger als alle: eine unsaubere, lumpige, selbstzufriedene Heuchelei … Rosa Luxemburg hatte Recht, die längst begriffen hatte, dass Kautsky die «Bedientenhaftigkeit des Theoretikers» hat. – eine Lakaienhaftigkeit, einfacher gesagt, die Lakaienhaftigkeit vor der Mehrheit der Partei, vor dem Opportunismus.» («Leninski sbornik» II. S. 200: Sperrdruck von mir.)

Wenn es keine anderen Dokumente gäbe, (aber es gibt hunderte), allein diese wenigen Zeilen könnten die Geschichte der Frage restlos aufhellen. Lenin hält es für nötig, Ende 1914 einem seiner zu jener Zeit nächsten Mitarbeiter mitzuteilen, dass er ein diesem Moment», jetzt, heute, zum Unterschied von früher, Kautsky «haßt und verachtet.^ Die Schärfe des Ausdrucks beweist untrüglich, in welchem Maße Kautsky die Hoffnungen und Erwartungen Lenins betrogen hatte. Nicht weniger klar ist die zweite Phrase: «Rosa Luxemburg hatte Recht, die langst begriffen hatte, dass Kautskv die Bedientenhaftigkeit des Gelehrten hat.» Lenin zögert nicht, hier jenes «Rechthaben» anzuerkennen, das er früher nicht sah, oder mindestens nicht ganz Rosa Luxemburg zuerkannte.

Solcherart sind die hauptsächlichsten chronologischen Merkzeichen der Frage, die zugleich die wichtigsten Merkzeichen für die politische Biographie Lenins darstellen. Unzweifelhaft die Tatsache, dass seine ideelle Entwicklung eine ununterbrochen emporsteigende Kurve darstellt. Das bedeutet aber auch, dass Lenin nicht als Lenin geboren wurde, wie es von den Susdaler Heiligenbildverfertigern dargestellt wird, sondern sich dazu machte. Lenin erweiterte seinen Gesichtskreis, lernte bei andern und erhob sich über seinen eigenen gestrigen Tag. In dieser Beharrlichkeit des beständigen geistigen Aufstiegs über sich selbst hinaus fand auch seine heroische Seele ihren Ausdruck. Wenn Lenin im Jahre 1905 alles verstanden und formuliert hätte, was für künftige Zeiten erforderlich war, so hätte sein ganzes übriges Leben nur aus Wiederherstellungen bestanden. In Wirklichkeit war es ganz und gar nicht so. Stalin stalinisiert einfach Lenin, indem er ihn gegen nummerierte Schablonen eintauscht.

Im Kampfe Rosa Luxemburgs gegen Kautsky, besonders in den Jahren 1910-1914 hatten die Probleme des Krieges, des Militarismus und des Pazifismus eine hervorragende Bedeutung. Kautsky verteidigte das reformistische Programm: Rüstungsbeschränkung, internationales Schiedsgericht u.s.w. Rosa Luxemburg bekämpfte dieses Programm entschieden als illusorisch. Lenin verhielt sich in dieser Frage schwankend, stand aber während einer gewissen Zeit Kautsky näher als Rosa Luxemburg. Aus den damaligen Unterhaltungen mit Lenin entsinne ich mich, dass auf ihn das folgende Argument Kautskys einen großen Eindruck machte: so wie die Reformen in den inneren Fragen ein Produkt des revolutionären Klassenkampfes darstellen, so kann man auch in den internationalen Beziehungen gewisse Garantien («Reformen») auf dem Weg des internationalen Klassenkampfes erobern. Lenin meinte, dass man diese Position Kautskys völlig unterstützen könne, wenn er nach der Polemik mit Rosa Luxemburg auf die Rechten schlage (Noske u. Cie.). Ich nehme es nicht auf mich jetzt aus dem Gedächtnis zu sagen, in welchem Maß dieser Ideenkreis in den Artikeln Lenins zum Ausdruck gekommen ist: die Frage würde eine besonders gründliche Analyse fordern. Ich kann mich auch nicht entschließen aus dem Gedächtnis festzustellen, wie rasch Lenins Schwanken in dieser Frage sich entschieden hat. Auf jeden Fall fand es seinen Ausdruck nicht nur in Unterhaltungen, sondern auch im Briefwechsel. Der Besitzer eines solchen Briefes ist Karl. Radek.

Ich halte es für nötig hier meine Zeugenaussage in dieser Angelegenheit zu machen, um auf diese Weise zu versuchen, ein für die theoretische Biographie Lenins ausschließlich wertvolles Dokument zu retten. Im Herbst 1926, während unser gemeinsamen Arbeit an der Plattform der linken Opposition zeigte Radek Kamenew, Sinowjew und mir – wahrscheinlich auch andren Genossen – einen Brief Lenins an ihn (vom Jahre 1911?) der eine Verteidigung Kautskys gegen die Kritik der deutschen Linken enthielt. Gemäß des Beschlusses des ZK wäre Radek wie auch jeder andre, verpflichtet gewesen diesen Brief dem Lenininstitut zu übergeben. Aber aus der Befürchtung, dass der Brief in der Stalinschen Fabrik von Falsifikaten versteckt gehalten, wenn nicht vernichtet werde, entschloss sich Radek den Brief auf bessere Zeiten aufzuheben. Dieser Überlegung Radeks konnte man keineswegs die Berechtigung absprechen. Jetzt jedoch beteiligt sich Radek in nicht sehr verantwortlicher aber genügend aktiver Weise an der Herstellung politischer Fälschungen. Es genügt, daran zu erinnern, dass Radek, der zum Unterschied von Stalin mit der Geschichte des Marxismus vertraut ist und auf jeden Fall den Brief Lenins gut kennt, es für möglich fand, öffentlich zu erklären, dass er mit der frechen Einschätzung, die Stalin Rosa Luxemburg angedeihen ließ solidarisch sei. Der Umstand, dass Radek dabei unter dem Prügel Jarowslawskis handelte, mildert seine Schuld nicht, denn nur verächtliche Sklaven können von den Prinzipien des Marxismus im Namen der Prinzipien des Prügels abrücken.

Es handelt sich jedoch für uns jetzt nicht um die persönliche Charakteristik Radeks, sondern um das Schicksal des Leninschen Briefes. Was ist mit ihm geschehen? Versteckt ihn Radek auch jetzt noch vor dem Lenininstitut? Kaum. Wahrscheinlicher übergab er ihn an die schuldige Stelle als einen wesentlichen Beweis einer unwesentlichen Ergebenheit. Welches weitere Schicksal wurde dem Brief zuteil? Wird er im persönlichen Archiv Stalins zusammen mit den seine nächsten Mitarbeiter kompromittierenden Dokumenten aufbewahrt? Oder wurde er vernichtet, wie viele andere wertvollste Dokumente der Vergangenheit der Partei?

Es kann auf jeden Fall auch nicht den Schatten einer politischen Begründung für die Zurückhaltung eines Briefes geben, der vor zwei Jahrzehnten geschrieben wurde über eine Frage, die heute nur historisches Interesse hat. Aber gerade der historische Wert des Briefes ist überaus groß. Er zeigt Lenin so, wie er in Wirklichkeit gewesen ist, aber nicht so, wie ihn bürokratische Dummköpfe nach ihrem Muster und Vorbild schaffen, die die Unfehlbarkeit beanspruchen. Wir fragen: Wo ist Lenins Brief an Radek? Auf den Tisch der Partei und der Komintern mit Lenins Brief!

Wenn man die Differenzen Lenins und Rosa Luxemburgs in ihrem ganzen Umfang nimmt, so war das historische Recht unbedingt bei Lenin. Aber das schließt nicht aus, dass in gewissen Fragen, in bestimmten Perioden Rosa Luxemburg gegenüber Lenin Recht hatte. Auf jeden Fall, entwickelten sich die Differenzen, ungeachtet ihrer Bedeutung und sogar manchmal ihrer äußersten Schärfe, auf Grund der beiden gemeinsamen revolutionären proletarischen Politik.

Als Lenin zurückblickend im Oktober 1918 schrieb («Gruß an die italienischen, französischen und deutschen Kommunisten): «im Moment der Machtergreifung und Gründung der Sowjetrepublik stand der Bolschewismus allein, er zog das Beste aus den ihm nahen Strömungen der sozialistischen Idee an sich», da hatte Lenin zweifellos auch die Richtung Rosa Luxemburgs im Sinn, deren nächste Gesinnungsgenossen, wie Marchlewski. Dserschinski u. andere in den Reihen der Bolschewisten arbeiteten.

Lenin begriff die Irrtümer Rosa Luxemburgs tiefer, als Stalin; aber nicht zufällig wandte Lenin den alten russischen Zweizeiler gerade auf Rosa Luxemburg an: «Manchmal muss der Adler sich tiefer herablassen als die Hühner, aber niemals werden die Hühner sich bis in die Wolken erheben». So ist es! So ist es! Aus demselben Grund sollte Stalin mit seiner bösartigen Mittelmäßigkeit sparsamer umgehen, wenn es sich um Persönlichkeiten solchen Maßstabs handelt wie Rosa Luxemburg.

In dem Artikel: «Zur Geschichte der Frage der Diktatur» (Oktober 1920) schrieb Lenin bezüglich der schon durch Revolution des Jahres 1905 gestellten Fragen der Sowjetmacht und Diktatur des Proletariats: «Solche hervorragenden Vertreter de revolutionären Proletariats und unverfälschten Marxismus, wie Rosa Luxemburg, haben sogleich die Bedeutung dieses praktischen Versuches bewertet und traten auf Versammlungen und in der Presse mit einer kritischen Analyse desselben hervor» Umgekehrt «Leute vom Typus der künftigen Kautskyaner … zeigten ihre völlige Unfähigkeit. die Bedeutung dieses Versuchs zu verstehen.» In wenigen Zeilen anerkennt Lenin völlig die historische Bedeutung des Kampfes Rosa Luxemburgs gegen Kautsky – eines Kampfes, den Lenin selbst bei weitem nicht sogleich nach Verdienst einschätzte. Wenn für Stalin, den Verbündeten Tschiang Kai-scheks und Purcells. Den Theoretiker der «Arbeiter- u. Bauernpartei», der «demokratischen Diktatur», des «Nichtrückstoßens der Bourgeoisie» usw. Rosa Luxemburg die Vertreterin des Zentrismus ist, so ist sie für Lenin die Vertreterin des «unverfälschten Marxismus». Was diese Formulierung aus Lenins Feder bedeutete ist jedem klar, der Lenin auch nur ein wenig kennt.

Wir fügen hier noch hinzu, dass in den Anmerkungen zu den Werken Lenins über Rosa Luxemburg unter anderem das Folgende gesagt wird: «In der Blütezeit des Bernsteinschen Revisionismus, und später des Ministerialismus (Millerand) führt Luxemburg, die ihren Platz auf dem linken Flügel der deutschen Partei einnahm, gegen diese Strömungen einen entschiedenen Kampf … Im Jahre 1907 nahm sie als Delegierte der polnischen und litauischen Sozialdemokratie auf dem Londoner Parteitag der russ. soz.-dem. Arbeiterpartei teil, wo sie in den Grundfragen der russischen Revolution die bolschewistische Fraktion unterstützte. Seit 1907 gab sich Luxemburg gänzlich der deutschen Arbeit hin, wo sie eine linksradikale Stellung einnahm und das Zentrum und den rechten Flügel bekämpfte … Ihre Teilnahme im Januaraufstand machte ihren Namen zum Banner der proletarischen Revolution.»

Natürlich wird der Autor der Anmerkungen schon morgen wahrscheinlich seine Sünde bekennen und erklären, dass er zu Lenins Zeiten im Dämmerzustand schrieb, aber volle Klarheit erst in der Epoche Stalins erhielt. Jetzt werden solcherlei Erklärungen – ein Gemisch von Schleicherei, Idiotismus und Hanswursterei – in der Moskauer Presse jeden Tag abgegeben. Aber an der Sache ändern sie nichts: «was mit der Feder geschrieben ist, wird mit dem Beil nicht abgehauen.» Jawohl, R. Luxemburg wurde zum Banner der proletarischen Revolution.

Wieso und warum jedoch befasste sich Stalin auf einmal – mit so großer Verspätung! – mit der Revision der alten bolschewistischen Einschätzung von Rosa Luxemburg? Ähnlich all seinen früheren theoretischen Unglücksfällen ist auch die letzte, skandalöseste, durch die Logik seines Kampfes mit der Theorie der permanenten Revolution hervorgerufen. In seinem «historischen» Artikel weist Stalin aufs Neue dieser Theorie den Hauptplatz zu. Neues sagt er nicht ein Wort. Wir haben auf seine Beweisgründe längst mit unserem Buch «Die permanente Revolution» geantwortet. Vom historischen Gesichtswinkel aus wird die Frage, wie wir hoffen, genügend beleuchtet in dem im Druck befindlichen zweiten Band der «Geschichte der russischen Revolution» («Die Oktoberrevolution»). Im vorliegenden Fall beschäftigt uns die Frage der permanenten Revolution nur soweit Stalin sie mit dem Namen Rosa Luxemburgs verknüpft. Wir werden sogleich sehen, wie der unglückselige Theoretiker es fertig brachte, sich selbst eine tödliche Falle zu

Nachdem er an die Streitigkeiten der Menschewisten mit den Bolschewisten in der Frage der treibenden Kräfte der russischen Revolution erinnerte und es fertig krachte in wenigen Zeilen eine Reihe von Irrtümern aufzuhäufen, die wir außer Betracht lassen müssen, schreibt Stalin:

«Wie haben sich in diesen Streitigkeiten die linken deutschen Sozialdemokraten, Parvus und Rosa Luxemburg verhalten? Sie schufen das utopische und halbmenschewistische Schema der permanenten Revolution. Im weiteren wurde dieses halhmenschewistische Schema der permanenten Revolution von Trotzki, (teilweise von Marlow) aufgegriffen, und in eine Waffe im Kampf gegen den Leninismus verwandelt.»

So sieht die überraschende Geschichte der Entstehung der Theorie der permanenten Revolution nach dem letzten geschichtlichen Forschungen Stalins aus. Aber, oh weh. Der Forscher hat vergessen seine früheren gelehrten Arbeiten anzusehen. Im Jahre 1925 schon sprach sich der gleiche Stalin in seiner Polemik gegen Radek aus.

«Es ist unrichtig, dass die Theorie der permanenten Revolution … im Jahre 1905 von Rosa Luxemburg und Trotzki aufgestellt wurde. In Wirklichkeit wurde diese Theorie von Parvus und Trotzki aufgestellt. Diese Feststellungen kann man lesen auf Seite 185 der russischen Ausgabe der «Fragen des Leninismus». Es ist zu hoffen, dass sie auch in allen anderssprachigen Ausgaben enthalten ist.

Somit: im Jahre 1925 erklärte Stalin Rosa Luxemburg für unschuldig an der Begehung einer solchen Todsünde, wie es die Teilnahme an der Schaffung der Theorie der permanenten Revolution ist. «In Wirklichkeit wurde diese Theorie von Parvus und Trotzki aufgestellt.» Im Jahre 1931 erfahren wir von dem gleichen Stalin, dass gerade «Parvus und Rosa Luxemburg … das utopische und halbmenschewistische Schema der permanenten Revolution geschaffen haben.» Trotzki aber war nicht schuld an der Schöpfung der Theorie, sie wurde von ihm nur «aufgegriffen», und zugleich auch von … Martow! Wiederum ist Stalin auf frischer Tat ertappt. Schreibt er über Fragen, von denen er nichts versteht? Oder aber spielt er in den Grundfragen des Marxismus bewusst mit gefälschten Karten? Eine solche alternative Fragestellung ist unrichtig. In Wirklichkeit ist das Eine und das Andre der Fall. Die stalinschen. Fälschungen sind bewusst, soweit sie in jedem gegebenen Moment von völlig berechneten persönlichen Interessen diktiert sind. Gleichzeitig sind sie nur halbbewusst, soweit seine ursprüngliche Unwissenheit seiner theoretischen Willkür keinerlei Hemmungen entgegenstellt.

Aber Fakt bleibt Fakt. Im Kampfe mit der «Konterbande des Trotzkismus» stieß Stalin im Jahre 1931 mit einem neuen persönlichen Feind zusammen: mit Rosa Luxemburg! Er bedachte sich auch nicht einen Augenblick sie zu verleumden, wobei er, bevor er die Pferdedosen seiner Grobheit und Illoyalität in Umlauf setzte, sich nicht einmal die Mühe gab, nachzuschlagen, was er selbst 5 Jahre früher in der gleichen Frage gesagt hatte.

Die neue Variante der Geschichte der Idee der permanenten Revolution ist diktiert vor allem durch das Bestreben ein noch gepfefferteres Gericht aufzutragen, als das vorhergegangene. Es ist nicht umsonst, zu erläutern, dass Martow zur größeren Pikanterie der theoretischen und historischen Kocherei an den Haaren herbeigezogen ist. Zur Theorie und Praxis der permanenten Revolution verhielt sich Martow mit unveränderlicher Feindseligkeit und unterstrich in der alten Zeit nicht nur einmal, dass die Anschauungen Trotzkis über die Revolution gleicherweise von den Bolschewisten wie von den Menschewisten abgelehnt werden. Aber darauf zu verweilen, lohnt sich nicht.

Es ist in der Tat fatal, dass es keine einzige wichtige Frage der internationalen proletarischen Revolution gibt in der Stalin nicht zweierlei einander gerade entgegengesetzte Meinungen ausgesprochen hätte. Wir wissen, dass er im April 1924 in den Frage des Leninismus die Unmöglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem einzelnen Landes bewies. Im Im Herbst, in der neuen Auflage des Buches ersetzte er diese Stelle durch den Beweis (d. h. durch die nackte Ankündigung), dass das Proletariat den Sozialismus in einem einzelnen Land aufbauen «kann und muss». Der ganze übrige Text blieb unverändert. In der Frage der Arbeiter- und Bauernpartei, der Brest-Litowsker Verhanddlungen, der Führung der Oktoberrevolution, in der Nationalitätenfrage usw. brachte es Stalin fertig, Im Verlauf weniger Jahre, manchmal weniger Monate, einander ausschließende Meinungen von sich zu geben. Es wäre falsch, die Schuld an allem einem schlechten Gedächtnis zu geben. Der Grund liegt hier tiefer. Stalin fehlt die Methode wissenschaftlichen Denkens, prinzipieller Unterscheidungsmerkmale vollständig. Er geht an jede Frage so heran, als ob diese Frage erst heute aufgetaucht sei und von allen anderen Fragen abgesondert bestehe. Seine Beurteilung gibt Stalin in Abhängigkeit von seinem momentanen akuten Interesse. Die ihn überführenden Widersprüche sind die Vergeltung für seinen vulgären Empirismus. Für ihn steht Rosa Luxemburg nicht in der Perspektive der deutschen. polnischen und internationalen Arbeiterbewegung des letzten halben Jahrhunderts. Nein, sie ist für ihn eine jedes Mal neue, dabei isolierte Persönlichkeit, bezüglich deren er in jeder neuen Lage gezwungen ist, sich zu fragen: Ist das ein Freund oder ein Feind? Ein richtiger Instinkt sagte dem Theoretiker des Sozialismus im einzelnen Land für diesmal, dass Rosa Luxemburgs Schatten ihm unversöhnlich feindlich ist. Aber das hindert den großen Schatten nicht, das Banner der internationalen proletarischen Revolution zu bleiben.

Rosa Luxemburg kritisierte im Jahre 1918 aus dem Gefängnis heraus sehr streng und in der Hauptsache falsch die Politik der Bolschewisten. Aber auch in dieser ihrer am meisten unrichtigen Arbeit sind ihre Adlerflügel sichtbar. Hier ihre allgemeine Einschätzung des Oktoberumsturzes. «Alles, was die Partei fähig ist, an Mut, Kraft. Handeln, revolutionärer Weitsichtigkeit und Fähigkeit zu zeigen, alles das haben Lenin, Trotzki und ihre Genossen ganz vollbracht. Die ganze revolutionäre Ehre und Fähigkeit des Handelns, die der Sozialdemokratie im Westen fehlte, zeigte sich bei den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktoberaufstand war nicht nur die wirkliche Rettung der russischen Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.» Ist das wirklich die Stimme des Zentrismus? Luxemburg unterwirft auf den folgenden Seiten die Politik der Bolschewisten in der Agrarfrage, die Losung der nationalen Selbstbestimmung und den Verzicht auf die formale Demokratie einer harten Kritik. In dieser Kritik, die gleicherweise gegen Lenin wie Trotzki gerichtet ist, macht sie, beiläufig bemerkt, zwischen deren Anschauungen keinerlei Unterschied: und Rosa Luxemburg verstand zu lesen, zu begreifen und Nuancen zu erkennen. Es kam ihr nicht einmal in den Sinn, mich anzuklagen, dass ich meine Anschauungen über die Bauernschaft geändert hätte, indem ich mich mit Lenin in der Agrarfrage solidarisierte. Dabei kannte sie diese Anschauungen gut. denn ich hatte sie in ihrer polnischen Zeitschrift im Jahre 1909 eingehend dargelegt… Rosa Luxemburg schießt ihre Kritik mit der Forderung: «in der Politik der Bolschewisten das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Grundlegende vom Zufälligen zu unterscheiden.» Für grundlegend hält sie die Macht der Bewegung der Massen, ihren Willen zum Sozialismus. «In dieser Beziehung» schreibt sie «waren Lenin und Trotzki die Ersten, die dem internationalen Proletariat ein Beispiel gaben. Sie sind auch jetzt die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: «ich habs gewagt!»

Ja, für Stalins Hass gegen Rosa Luxemburg ist genügend Ursache vorhanden. Aber um so gebieterischer ist unsere Pflicht, Rosas Gedächtnis gegen die von bezahlten Beamten beider Halbkugeln aufgegriffenen Verleumdungen Stalins zu schützen, und dieses wahrlich herrliche, heroische und tragische Vorbild den jungen Generationen des Proletariats in seiner ganzen Größe und seinem erzieherischen Zauber zu übergeben.

Prinkipo, 28. Juni 1932.

L. Trotzki.

Kommentare