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Leo Trotzki 19320215 Interview des Gen. Trotzki über die Weltlage

Leo Trotzki: Interview des Gen. Trotzki über die Weltlage

[Nach Permanente Revolution, 2. Jahrgang 1932, Nr. 9 (Anfang Mai), S. 3]

Aus der Vérité Nr. 114, vom April 1932, nach der «New-York Times».

Frage: Betrachten Sie die jetzige Phase der bolschewistischen Revolution immer noch als «Thermidorianisch», und ist Ihre Meinung, die Sie in Ihrer Selbstbiographie ausgedrückt haben, nicht durch die jüngsten Ereignisse, die seit Ihrer Abwesenheit aus Russland eingetreten sind, überholt?

Antwort: Ich habe niemals gesagt, dass der augenblickliche Zustand der Revolution «thermidorianisch» sei. Der geschichtliche Begriff des Thermidors hat einen scharf umrissenen Inhalt: er bedeutet die Verwirklichung des ersten Abschnitts einer erfolgreichen Gegenrevolution. Ein Thermidor in der Sowjetunion könnte nichts anderes sein, als die, wenn auch anfangs in verschleierter Form auftretende Machtergreifung durch die Bourgeoisie und demzufolge den Sturz der Oktoberrevolution. Stalins Presse legt mir beharrlich diese Auffassung unter in einer Absicht, die nichts mit dem Interesse an der Wahrheit gemein hat. Was ich bejaht habe und noch bejahe, ist, dass sich vor die Fundamente der Oktoberrevolution eine mächtige bürokratische Schicht geschoben hat, in der aktive und passive thermidorianische Bestrebungen sehr stark sind. Diese haben jedoch noch lange nicht gesiegt. Der Kampf gegen diese Bestrebungen wurzelt in einem Kampf um die Unabhängigkeit der Kommunistischen Partei, der Gewerkschaften und der Sowjets, und um deren wachsame Kontrolle über die Bürokratie. Ich habe mir diese Meinung nicht nach meiner Ausweisung aus der Sowjetunion gebildet, sondern im Gegenteil ist sie gerade die Ursache meiner Ausweisung. Die Bürokratie duldet keinen Angriff auf ihre Oberherrschaft. Die Gefahren der thermidorianischen Neigungen der Bürokratie waren Lenin ganz klar. In seiner letzten Rede auf dem 12. Parteikongress machte er auf diese Gefahr aufmerksam. Mein letztes Gespräch mit Lenin war dieser Frage gewidmet. Lenin schlug mir vor, mit ihm einen Block gegen den Bürokratismus des von Stalin beherrschten Parteisekretariats zu bilden. Die zweite Krankheit Lenins verhinderte, diesen Plan zu einem guten Ende zu führen.

Frage: Ist es notwendig, die kommunistische Diktatur in Russland abzuwandeln, und wie müsste das geschehen?

Antwort: Diese Frage steht in enger Verbindung mit den zwei ersten. Die wirtschaftlichen Erfolge, das braucht man nicht erst zu sagen, haben die Sowjetunion gewaltig gestärkt. Zugleich haben sie die Stellung des offiziellen stalinschen Apparats erheblich geschwächt. Darin liegt kein Widerspruch. Zunächst ist es allen bewussten Elementen in der Sowjetunion klar, dass die Erfolge auf dem Gebiet der Industrialisierung nur möglich sind, weil Stalins Bürokratie gezwungen war. sich gegen ihren Schützling, den Kulaken, zu wenden, der es ablehnte, sein Getreide dem Staat abzuliefern, was die Bürokratie dazu führte, das Programm der Linken Opposition aufzunehmen und zu verwirklichen. Stalin hat mit unserem Programm dasselbe, getan, wie der Freihändler MacDonald, der das Schutzzollprogramm Joseph Chamberlains (der Vater, nicht der Sohn) übernommen hat, der seinerzeit auch grausam bei den Wahlen geschlagen wurde. Heute ist Chamberlain in England in jeder Hinsicht volkstümlicher als MacDonald. Und doch ist Chamberlain schon lange tot. Aber die Hauptführer der russischen Revolution leben. Rakowski verfolgt in Barnaul aufmerksam den Entwicklungsprozess der Industrie und der Politik in der Sowjetunion. Eine zweite und noch wichtigere Ursache der Schwächung der Sowjetbürokratie besteht darin, dass die wirtschaftlichen Erfolge nicht nur die Zahl der russischen Arbeiter, sondern auch ihr kulturelles Niveau, ihr Vertrauen in ihre eigene Kraft und ihren Willen zur Unabhängigkeit beträchtlich gehoben haben. Alle diese Züge, sind schwer vereinbar mit bürokratischer Unterwerfung. Die ökonomischen Erfolge haben, wie das häufig in der Geschichte geht, die Stellung der führenden Schicht nicht verstärkt, sondern im Gegenteil, untergraben. Ich sehe, dass bedeutende Veränderungen in der Methode des Sowjetregimes völlig unvermeidlich sind und zwar in allernächster Zeit. Diese Veränderungen würden ein Schlag gegen die Diktatur der stalinschen Bürokratie sein und würden unzweifelhaft den Weg freimachen für eine Entfaltung der Sowjetdemokratie auf den von der Oktoberrevolution geschaffenen Grundlagen.

Frage: Rechnen Sie mit Ihrer Rückkehr nach Russland? Von welchen Vorbedingungen wäre das abhängig, und was wird Ihr Programm sein?

Antwort: Ich glaube, dass die eben erwähnten Veränderungen eine Rückkehr der Linken Opposition zur aktiven Arbeit in der Sowjetunion möglich und unvermeidlich machen werden.

Frage: Was ist Ihre Ansicht von der Weltwirtschaftskrise und von ihren Folgen für die herrschende Gesellschaftsordnung? Halten Sie die Weltrevolution für die zwingende Folge aus der Krise oder glauben Sie, dass der Kapitalismus die Krise überwinden und in eine Stabilisierungsperiode eintreten könne? Welches würde die Stellung der Sowjetunion im Falle der Stabilisierung sein? Hat die Weltwirtschaftskrise Sowjetrussland nicht vor die Notwendigkeit gestellt, seine eigene Wirtschaftspolitik zu revidieren?

Antwort: Die jetzige Wirtschaftskrise ist unbestreitbar der Ausdruck dessen, dass die kapitalistische Welt sich als System überholt hat. Die Frage nach dem geschichtlichen Zeitpunkt, an dem sie durch ein anderes System ersetzt werden wird, wird natürlich je nach den verschiedenen Ländern und besonders je nach den verschiedenen Erdteilen anders entschieden werden. Das heutige Europa hat keinen Ausweg. Selbst wenn die automatische Regelung durch die Marktgesetze zu einer Beruhigung der Krise, in ein oder zwei Jahren führen sollte, würde die Krise in einer unvergleichlich viel kürzeren Frist mit verdoppelter Schärfe wieder auftreten. Die Produktivkräfte sind in den nationalen Zellen Europas eingeschnürt. Der dilettantische Plan einer europäischen Union des Herrn Briand ist nicht über die Laboratorien der Kanzleien und Pressebüros herausgekommen und wird nicht über sie herauskommen. Die führende Klasse wird die Krise behandeln vermittels einer wirtschaftlichen Zerreißung Europas und einer Verstärkung des Schutzzollsystems und des Militarismus. In diesem Zustand kann ich keine allgemeine Stabilisierung des europäischen Kapitalismus sehen.

Frage: Wie schätzen Sie die Stellung der Vereinigten Staaten in der jetzigen Weltlage ein?

Antwort: Ich sehe als Ergebnis der jetzigen Krise ein Anwachsen der Vorherrschaft des amerikanischen Kapitalismus über den europäischen. Das ist dasselbe, wie die Beobachtung, dass im Verlauf jeder Krise die Vorherrschaft der großen Unternehmungen über die kleinen, der Truste über die Einzelunternehmen wächst. Jedoch würde dies weitere Anwachsen der Vorherrschaft der Vereinigten Staaten tiefe Widersprüche in der Wirtschaft und Politik der großen amerikanischen Republik nach sich ziehen. Indem sie die Diktatur des Dollars über die ganze Welt befestigt, wird die führende Klasse in den Vereinigten Staaten die Gegensätze der ganzen Welt in dem Fundament ihrer eigenen Herrschaft verankern. Die Wirtschaft und die Politik der Vereinigten Staaten werden immer mehr von Krisen, Kriegen und Revolutionen in anderen Teilen der Welt abhängig werden. Man kam: nicht lange die Stellung des «Beobachters» einnehmen. Ich glaube, dass Amerika das kollossalste Militärsystem zu Lande, zu Wasser und in der Luft schaffen wird, das man sich vorstellen kann. Der amerikanische Drang über seinen alten «Provinzialismus» hinaus, der Kampf um die Märkte, die Vergrößerung der Rüstungen eine aktive Weltpolitik, die Erfahrung der jetzigen Krise, all das wird unvermeidlich tiefe Veränderungen im inneren Leben der Vereinigten Staaten nach sich ziehen. Das Auftauchen einer Arbeiterpartei ist nicht zu vermeiden. Diese wird sich mit amerikanischem Tempo entwickeln und zur Beseitigung der zwei alten Parteien führen, ebenso wie die Liberalen in England verschwunden sind.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die Sowjetunion technisch amerikanisiert, Europa sowjetisiert oder in die Barbarei verfallen wird und dass die Vereinigten Staaten politisch europäisiert werden.

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