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Leo Trotzki 19320301 Offener Brief an das Zentral-Exekutivkomitee der Sowjetunion

Leo Trotzki: Offener Brief an das Zentral-Exekutivkomitee der Sowjetunion

[Nach Permanente Revolution, 2. Jahrgang 1932, Nr. 6 (Mitte März), S. 7-9]

Mit unvermeidlicher Verspätung machte ich mich in der «Prawda» mit Ihrem Beschluss vom 20. Februar 1932 bekannt, der mich und meine Familienangehörigen, die meine Verschickung, Ausweisung und Arbeit geteilt haben, des Sowjetbürgerrechts für verlustig erklärt und uns die Einreise nach der UdSSR untersagt. Worin unsre «konterrevolutionäre Tätigkeit» besteht, ist in dem Beschluss nicht gesagt. In der Sowjetpresse war, wenn man von der rituellen Polemik gegen den Trotzkismus absieht, nur von 2 Fällen meiner Tätigkeit die Rede, die man als konterrevolutionär qualifizieren könnte, wenn diese Fälle wirklich passiert wären. In der «Prawda» vom 2. Juli 1931 erschien mit entsprechendem Begleittext die fotografische Wiedergabe der ersten Seite der polnischen Zeitung «Kurjer Zosdjenny» mit einem angeblich von mir stammenden, gegen Sowjetrussland gerichteten Artikel. Selbstverständlich zweifelte niemand von Ihnen auch nur eine Minute, dass dieser Artikel das Machwerk eines durch seine Fälschungen genügend bekannten schmutzigen Blättchens ist. Bald darauf fabrizierte die gleiche Zeitung Dokumente gegen die galizisch-ukrainischen Revolutionäre. Selbst die bürgerliche Presse wie «Manchester Guardian» charakterisierte bei diesem letzteren Anlass den «Kurjer Zosdjenny» als ein Blatt, das sich schon durch die Fälschung eines Artikels von Trotzki hervorgetan habe. Ich forderte von der «Prawda» eine Berichtigung. Sie ist nicht erschienen. Die «Prawda» hat bewusst die Millionen Arbeiter, Rotarmisten, Matrosen und Bauern betrogen, indem sie die Fälschung der polnischen Faschisten mit ihrem eigenen Namen deckte. Man muss daran erinnern, dass der Verfasser des Begleitartikels in der «Prawda» niemand anders als Jaroslawski, in jenen Tagen einer der Hüter der Parteimoral, gewesen ist. Wenn er später etwas gelitten hat, so auf jeden Fall nicht wegen der Fälschung, sondern nur, weil er zu wenig fälschte.

Das zweite Beispiel meiner «konterrevolutionären» Tätigkeit ging Ihrem Beschluss nur um einige Wochen voraus. Am 16. Januar 1932 teilte die «Iswestija» des Zentralexekutivkomitees aus Berlin mit, dass ich zur Unterstützung der Regierung Brüning aufrufe, im Einverständnis mit der deutschen Sozialdemokratie, besonders mit Karl Kautsky und Alfred Adler(?) handle, und dass mir dafür das Visum für die Einreise nach Deutschland versprochen wurde. Die ganze Mitteilung, an der, wie Ihnen natürlich klar ist, kein wahres Wort ist, ist aus einem Berliner reaktionären antisemitischen Blättchen geschöpft, das nicht nur zu zitieren, sondern auch nur in die Hände zu nehmen man nur im äußersten Notfall über sich gewinnt. Nicht eine einzige Zeitung in Deutschland legte den schöpferischen Wehen der deutschen Purisckkewitsche irgend welche Bedeutung bei. Nur die «Iswestija», die formell unter Ihrer, des Präsidiums, Kontrolle steht, verbreitete die wissentlich falsche Mitteilung, und betrog damit bewusst Millionen Bürger der Sowjetunion.

Folglich: Sie hielten es für unmöglich, Ihren Beschluss früher zu fassen, als bis die Bevölkerung durch die zwei verantwortlichsten Zeitungen der Sowjetunion – durch das Zentralorgan der Partei und das offiziöse Regierungsorgan – mit Hilfe von Fälschungen betrogen wurde, die von den polnischen und deutschen Faschisten fabriziert worden sind. So ist der Sachverhalt, der sich weder übertünchen noch wegwischen lässt.

Aber auch nach einer derartigen Vorbereitung hielten Sie es noch für nötig, oder es wurde Ihnen nahegelegt, Ihren Beschluss sorgfältig zu maskieren. Die Ausnahmemaßregel gegen mich, die durch die letzte antitrotzkistische Kampagne – ich weiß nicht, die wievielte – speziell vorbereitet wurde – sahen Sie sich genötigt in ein angeblich gegen 37 Personen gerichtetes Dekret umzuwandeln, von denen, abgesehen von meiner Familie, mehr als 30 solche Personen sind, die ausschließlich zur politischen Maskierung herangezogen wurden. Sie führten in dieser Liste die schon vor mehr als 10 Jahren unter meiner unmittelbaren Mitwirkung aus der Sowjetunion ausgewiesenen Führer des Menschewismus auf. Stalin schien es wahrscheinlich, dass das ein Meisterstreich sei. In Wirklichkeit sind die verräterischen Fäden zu deutlich sichtbar. Indem Sie sich den Anschein geben, als ob Sie erst im Jahre 1932 klar darüber wurden, welche Rolle eigentlich Dan und Abramowitsch spielen, bringen Sie das Präsidium des ZEK in eine sehr unbequeme Lage. Sie selbst können nicht anders, als sich Rechenschaft darüber zu geben; aber Sie müssen auch in dieser Frage der stalinschen Kanzlei gehorchen, die immer gröber vorgeht, ohne sich um das Ansehen der höchsten Organe der Sowjetmacht zu kümmern.

Aus einem Gefühl des Widerwillens werde ich mich nicht bei den übrigen Strichen und Strichelchen der von Stalin fabrizierten Liste aufhalten: in der absichtlichen Unterschiebung von Namen, um das «Spiel» noch zu ergänzen, stellt sie ein Dokument des gleichen moralischen Niveaus dar wie die beiden erwähnten Fälschungen, die zu dessen Vorbereitung dienten.

Die Linke Opposition mit den Menschewisten zu verbinden, gelingt Euch nur in der Reihenfolge des polizeilichen Alphabetes. In der politischen Reihenfolge steht Euer Zentrismus zwischen der linken Opposition und dem Menschewismus. Keine Schlauheiten ändern etwas daran. Der Beschluss vom 20. Februar stellt ein vollendetes Amalgam thermidorianischen Stils dar. Zwischen Marxismus und Nationalreformismus hin und her schwankend, muss der Zentrismus – er kann nicht anders – zwischen seinen kleinbürgerlichen Feinden von rechts und seinen revolutionären Gegnern von links kombinieren und sie verschmelzen, um durch eine solche Amalgamisierung die eigene Hohlheit zu verdecken. Ich erinnere Sie daran, dass der erste Vorschlag, die linken Oppositionäre aus Russland auszuweisen, von keinem andern an Stalin gerichtet wurde als von Ustrjalow. Mit dem Brandmal des Thermidor geht Euer «Beschluss» in die Geschichte ein.

Stalin redet Euch ein, dass es sich gar nicht um diese oder jene «einzelnen» Tatsachen handelt; sondern dass der Beschluss in Wirklichkeit auf die ganze konterrevolutionäre Tätigkeit von mir und in einen Familienangehörigen überhaupt begründet sei: Aber wenn dies der Fall ist, wozu brauchte man dann zu gefälschten Dokumenten zu greifen und dem Beschluss selbst ein Element würdeloser Maskerade anzuhängen: Sich um diesen Widerspruch zu drücken, ist unmöglich. Der Umstand, dass Ihr nach 5 Jahren ununterbrochener Hetze – vergesst nicht, dass der Anfang des Kampfes gegen den «Trotzkismus» mit dem Ende Lenins zusammenfällt – nötig hattet, die Begründung des Ausnahmegesetzes gegen mich und meine Familienmitglieder aus den schmutzigen Quellen des polnischen und deutschen Chauvinismus zu schöpfen und durch eine Verbindung meines Namens mit denen unsrer Gegner zu bemänteln, – allein dieser Umstand entlarvt und entblößt gänzlich die Erfolglosigkeit aller Kampagnen gegen den «Trotzkismus» und kompromittiert unheilbar Euren letzten schöpferischen Akt. Vom Standpunkt persönlicher Rache aus – ein Element, das wie Ihr wisst, bei allen Kombinationen Stalins eine Rolle spielt, –, erreicht das Dekret seinen Zweck nicht im geringsten. Stalin hat sich diesmal zu weit hinter den Kulissen hervor gewagt und hat unvorsichtig seine wahre politische und moralische Große gezeigt. Wenn er Euch gezwungen hat, – ich weiß, nicht ohne schüchternen Widerstand Eurerseits, – ein unwürdiges Scherbengericht zu veranstalten, so nur deshalb, weil sich die tiefe Wahrheit der Linken Opposition ausnahmslos in allen, sowohl inneren wie äußeren Fragen erwiesen hat, denen unser Kampf in allen diesen Jahren galt. Dem Anschein nach offensiv, ist Stalins Geste eine, noch dazu ohnmächtige, ja klägliche Verteidigung.

Die Opposition kämpfte gegen die stalinsche Fraktion für die Industrialisierung, für eine Planwirtschaft, für erhöhtes wirtschaftliches Tempo, gegen den Kurs auf den Kulaken, für die Kollektivierung. Seit 1923 forderte die Opposition die Vorbereitung eines Fünfjahresplanes und legte selbst seine Grundelemente dar. Alle wirtschaftlichen Erfolge der Sowjetunion sind theoretisch und zum Teil auch organisatorisch von der Linken Opposition im Kampf mit der stalinschen Fraktion vorbereitet worden. Euer Vorsitzender Kalinin, der Stalin von rechts gegen die linke Opposition unterstützte, weiß davon mehr als irgend ein andrer. Noch im April 1927 erklärte, unterstützt durch Molotow, Kalinin, Woroschilow und andere, Stalin im Kampf gegen mich, dass «Dnjeprostroj» uns gerade so nötig sei, wie dem Muschik ein Grammophon». In dieser Formel barg sich eine ganze geschichtliche Philosophie. Weil sie dagegen kämpften und sie zerstörten, wurde Rakowski nach Barnaul verschickt, füllen hunderte und Tausende unbeugsamer Revolutionäre die Gefängnisse und Verbannungsorte, wurden einige Bolschewiki – erschossen.

Auf dem internationalen Kampfplatz stand es nicht viel anders. Die Opposition bekämpfte im Jahre 1923 die Kapitulantenpolitik Brandlers, der von rechts her durch Stalin unterstützt wurde, sie kämpfte gegen die stalinsche Theorie der Arbeiter- und Bauernparteien; gegen die Einschließung der chinesischen Kommunisten in den eisernen Käfig der Kuomintang; gegen den Block des Politbüros mit der Clique der englischen Streikbrecher; gegen die ganze opportunistische, verderbliche, schändliche, durch und durch verräterische Politik Stalins, der im Verlauf mehrerer Jahre den Steigbügel Tschiang Kai-scheks hielt und am Vorabend des Blutbades, das Tschiang Kai-schek unter den Arbeitern Schanghais anrichtete, freundschaftlich sein Bild mit ihm austauschte. Ihr seid genügend in die Tatsachen eingeweiht und wisst, dass nicht ein Schatten von Übertreibung in meinen Worten ist. Nicht umsonst ist die Geschichte der chinesischen Revolution in der Sowjetunion ein verbotenes Buch: jede ihrer Seiten versengt der Stalinschen Clique die Finger.

Wo hingegen ist unsere «konterrevolutionäre Tätigkeit?» Unter den Hunderten der heutigen stalinschen, um Stücklohn tagelöhnernden Theoretiker, von denen es in den Wunden des internationalen Proletariats wie von Würmern wimmelt, gibt es nicht wenige, die gern bereit sind, weiß als schwarz oder als irgend eine Farbe des Regenbogens hinzustellen. An den historischen Tatsachen jedoch ändern sie nichts, die Grundlagen des Marxismus erschüttern sie nicht. Die linke Opposition hat ein Recht, auf ihren Kampf gegen die Politik der stalinschen Fraktion stolz zu sein, in Russland, in Deutschland, in China, in England, überall, wohin die Hand des opportunistischen Apparates sich erstreckte.

Nachdem sie sich die Stirn am Kulaken eingestoßen hatte; nachdem sie sich in ihren Berechnungen auf Tschiang Kai-schek geirrt hatte; nachdem sie von den von ihr geretteten englischen Trade-Unionisten anstatt Dank, einen Fußtritt bekommen hatte, schlug die stalinsche Bürokratie im Jahre 1928 über unseren Köpfen einen sausenden Bogen um 180 Grad, um sich in ein ungeheuerliches wirtschaftliches und politisches Abenteuer einzulassen, dessen Rechnungen erst noch bezahlt werden müssen.

Und aufs neue ist die Linke Opposition – die wirklichen und einzigen Bolschewisten-Leninisten in den Reihen des internationalen Proletariats! – entschieden und rechtzeitig gegen das bürokratische, mit den Hilfsmitteln des Arbeiterstaats bewaffnete Abenteurertum aufgetreten. Wir warnten vor der leichtfertigen Reduzierung des Fünfjahresplanes auf 4 Jahre. Unsere Warnung hat sich als vollständig richtig erwiesen. Das künstliche, weder theoretisch noch praktisch vorbereitete Gejage, bot nicht nur keine Möglichkeit, die mehr sportsmäßige als wirtschaftlich gestellte Aufgabe zu lösen, sondern vertiefte noch eine Reihe von Widersprüchen, die jetzt rein mechanisch in das Fundament des zweiten Fünfjahresplanes eingefügt werden. Die Opposition warnte vor dem Hasardspiel der kompakten unterschiedslosen Kollektivierung und vor der Idee der «Liquidierung der Klassen» in den Grenzen des ersten Fünfjahresplans. Zur Zeit ist die «kompakte» Kollektivierung eingestellt, und die «Liquidation der Klassen» ist in zwei bis drei Zwischenetappen auf den neuen Fünfjahresplan übertragen. Auch in dieser Form bleibt die Aufgabe eine bürokratische Utopie. Als Realität zeigt sich die unglücklicherweise überaus schwere Lage der Arbeitermassen in Bezug auf die Verpflegung wie in materieller Hinsicht überhaupt, – als das Resultat der überstürzten Kollektivierung und der Zerstörung der grundlegenden wirtschaftlichen Proportionen.

Die Arbeiterklasse Russlands hat das Recht, auf jene wahrlich grandiosen technischen Eroberungen stolz zu sein, die sie in den letzten Jahren gemacht hat. Aber diese Eroberungen wurden erst seit der Zeit möglich, als der Druck der Umstände die Bürokratie zwang, wenn auch mit Verspätung, zur Grundlage ihrer Arbeit die – entstellte und verschobene – Plattform der linken Opposition zu machen. Das politische Selbstbewusstsein der Arbeiter erhob sich zu neuer Höhe. Von den durch die Oktoberrevolution gelegten Grundlagen, von den in der Praxis geprüften Methoden der Planwirtschaft, von den sozialistischen Aufgaben zurückzutreten, wird sie durch keine geschichtliche Kraft mehr gezwungen werden. Sie zerdrückt jeden, der sie zur bürgerlichen Demokratie und zum Kapitalismus zurück zerren möchte.

Aber die gleichen Arbeiter geben sich mehr und mehr Rechenschaft darüber, welche politische Gruppe der Initiator des planmäßigen sozialistischen Aufbaus gewesen ist, und darüber, wer die wirtschaftliche Arbeit erst durch bürokratische Obstruktion gestört und dann durch abenteuerhaftes Jagen mit gelöschten Lichtern gefährdet hat. Die Arbeiter wünschen die Wirtschaft selbständig zu leiten, nicht aber nur die Pläne auszuführen, die die stalinsche Bürokratie unter der Mitarbeit von rechten oder «linken» Schädlingen hinter ihrem Rücken schmiedet. Die Unruhe der Arbeiter, ihre Unzufriedenheit, ihre einstweilen noch dumpfen Proteste – all das verläuft auf der Linie der Kritik der Linken Opposition.

Die Befestigung des ökonomischen Fundaments der Diktatur, das Anwachsen des Proletariats und seines Selbstbewusstseins bedingen nicht eine Verstärkung, sondern eine Schwächung der politischen Position der Bürokratie. In den Reihen der letzteren beginnt die Zersetzung. Eine kleine Minderheit klammert sich noch stärker als an einen Rettungsanker an Stalin an. Der andere Teil blickt sich um und sucht nach einer Rückversicherung. Die Besedowskis, Agabekows, Dimitriewskis, verdorbene Karrieristen, geriebene Hochstapler, hundertprozentige Kanaillen – wie viel sind ihrer im Apparat? – messen mit den Augen den nächsten Zaum, um den Sprung ins Lager des Klassenfeindes zu vollziehen.

Die ehrlichen Elemente des Apparats – sie sind zum Glück in der Mehrheit – horchen auf die Stimmen von unten, vergleichen die durchlaufenen Etappen und die aus der Lotterie gezogenen Losungen der Jahre 1923-26-28-30-32 – alle diese Zickzacks bürokratischer Blindheit, – und überzeugen sich mit Schrecken, dass die stalinsche «Generallinie» eine Mythe, ein Gespenst, ein vager Schatten der Schwankungen des Apparates selbst ist. So beginnt das Kapitel der Vergeltung für die Revision der Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus und für die freche Vergewaltigung der Partei.

Die Fehler und Verbrechen der Bürokratie während der 9 Jahre gingen nicht ungestraft vorüber. Das stalinsche System nähert sich seiner entscheidenden Krisis. Die Episode mit dem «Halbtrotzkismus» Jaroslawskis wäre vor einem halben Jahre als ich vom ersten «Knarren im Apparat» schrieb, völlig unmöglich geschienen. Jetzt wundert sich fast niemand mehr darüber, umgekehrt wird sie aufgefasst als untrügliches Symptom eines tieferen Prozesses. Der stalinsche Apparat hörte auf ein stalinscher Apparat zu sein. Er wurde zu einem System der Gegensätze und Risse. Während sich die Arbeiter immer ungeduldiger gegen das Kommandieren der Bürokratie verhalten, verhält sich der Apparat mit immer geringerem Zutrauen zur Führung Stalins: beide Prozesse sind eng mit einander verknüpft. Um so wütender muss die engere stalinsche Fraktion um die Behauptung ihrer Kommandopositionen kämpfen.

Ihr habt den Kampf mit dem «Trotzkismus» unter der Flagge der «alten bolschewistischen Garde» begonnen. Den angeblichen, von Euch selbst ausgedachten, Ansprüchen Trotzkis auf die persönliche Führung habt Ihr die «kollektive Führung durch das leninistische ZK» entgegengestellt. Was ist von der kollektiven Führung erhalten, was ist vom leninistischen ZK übrig geblieben? Der von der Arbeiterklasse und von der Partei unabhängige Apparat bereitete die vom Apparat unabhängige Diktatur Stalins vor. Jetzt dem «leninistischen ZK Treue zu schwören, bedeutet fast dasselbe, wie offen die Fahne des Aufruhrs zu erheben. Die einzige jetzt zulässige Formel des Treueschwurs ist der Schwur auf den Namen Stalins. Jeder Redner, Propagandist, Journalist, Theoretiker, Pädagoge, Sportsmann ist verpflichtet, in seine Rede, seinen Artikel, oder in seine Vorlesung die Phrase von der Unfehlbarkeit der Politik des ZK «unter der Leitung Stalins» d. h., von der Unfehlbarkeit des rittlings auf dem ZK sitzenden Stalin, einzufügen. Das bedeutet, dass jeder Partei- und Sowjetarbeiter, vom Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare bis zum einfachen Bezirkskanzlisten, vor dem Angesicht des ganzen Landes einen offenen Schwur leistet, dass im Falle einer Differenz zwischen dem ZK und Stalin er Stalin gegen das ZK unterstützen wird. Darauf läuft jetzt faktisch sowohl das Parteistatut wie die Sowjetverfassung hinaus.

Die Sache entwickelt sich immer weiter und weiter auf diesem Wege. Der offizielle Jubiläumsartikel über die Rote Armee (23. Februar) lautet, dass Führer der bewaffneten Kräfte der Sowjetunion «die Kommunistische Partei, ihr leninistisches ZK mit Gen. Stalin an der Spitze» sind. Das bedeutet, die Rote Armee aufzufordern, so lange ihre Ergebenheit den Sowjets der Werktätigen, dem Proletariat und seiner Avantgarde zu wahren, solange Stalin «an der Spitze» der Partei verbleibt. Das bedeutet, dass vom selben Tage, an dem die Partei die ihr zu kostspielige Führerschaft nicht mehr will, die Rote Armee Stalin gegen die Partei zu stützen hat. Keinen anderen Sinn hat und kann die Einführung des Eides auf den Namen Stalins haben. Das ist eine neue Etappe in der systematischen, planmäßigen, hartnäckigen Vorbereitung des Bonapartismus. Lest nach die Geschichte!

Als Ihr den Kampf gegen die Partei unter dem Namen eines Kampfes gegen den «Trotzkismus» anfingt, habt Ihr innerhalb des offiziellen Politbüro ein besonderes Politbüro, oder «die Sieben» – gegen mich gebildet. Ihr habt Eure geheimen Versammlungen gehabt, Eure vor der Partei geheime Disziplin, Eure geheime Chiffre zur Verständigung mit den Agenten der Verschwörung im Lande. Die Hetze gegen Trotzki und den «Trotzkismus» ging parallel mit der Erdrosselung der Selbständigkeit der Partei: das eine wie das andere war gleicherweise nötig für den Triumph der Bürokratie. Jetzt vollzieht sich eine ähnliche Arbeit, aber schon in karikierter bonapartistischer Form, auf einer neuen historischen Etappe. Die engere Fraktion Stalins hat unzweifelhaft schon ihren geheimen Stab, ihre Losungen und Parolen, ihre Agenten und ihre Chiffren: mit Volldampf wird die Verschwörung gegen den Apparat geführt, der immer noch in der Verschwörung gegen die Partei verharrt. Die Selbstherrschaft Stalins, die von unten her ausgehöhlt wird, strebt nach um so geschlosseneren Formen an ihrer Spitze.

Jedoch in den beginnenden Konflikt Stalins mit dem Apparat droht sich die Partei einzumischen. Sie muss sich einmischen, wenn sich nicht der Klassenfeind einmischen soll. Der Partei zu helfen, sich kräftig einzumischen, – ist die Aufgabe der linken Opposition. Gerade das fürchtet Stalin auf den Tod. Er möchte die Partei ersticken, bevor er sich mit dem Apparat auseinandersetzt. Deshalb wurde der 17. Parteikonferenz eine neue, Kampagne gegen den «Trotzkismus» vorausgeschickt. Deshalb wurde die Konferenz in ein Wechselgespräch zwischen Stalins Getreuen umgewandelt. Und deshalb erschien als notwendiges Ende der Konferenz Euer Beschluss vom 20. Februar. Es ist das Wesen dieser Politik, dass jeder neue Schlag gegen die Partei unvermeidlich als Schlag gegen den «Trotzkismus» geführt wird. Hierin liegt die Stärke der Opposition. Und hierin liegt das Verhängnis Stalins.

Die innerparteiliche Demokratie habt Ihr längst durch die «Selbstkritik» ersetzt. Das bedeutete im Anfang: man darf alle kritisieren, nur nicht das ZK. Auf der nächsten Etappe: man darf nur die kritisieren, die das ZK zu kritisieren befiehlt. Jetzt heißt es: man darf alle kritisieren, außer Stalin: jedes Mitglied des ZK muss man hetzen, das nicht auf Stalin schwört. Über der Partei, über dem Apparat, über jeder Kritik ist – Stalin. Das Gesetz von seiner Unfehlbarkeit erhielt rückwirkende Kraft. Die Geschichte der Partei wird umgebaut, mit der Unfehlbarkeit Stalins als neuer Achse. Wer nicht rechtzeitig umlernte, gerät unvermeidlich unter die Hackmaschine.

In einer revolutionären Partei, die sich auf die wissenschaftliche Erkenntnis und auf eine große Tradition stützt, musste die Leitung in einen Götzentempel verwandelt werden, in dem Kaganowitsch als Priester das Idol ewiger Vollkommenheit anräuchert. Es fehlt nur noch, dass dem Dogma der Unfehlbarkeit noch das Dogma der unbefleckten Empfängnis hinzugefügt wird: dann ist das System vollendet.

Kann man sich etwas Bösartigeres, Erniedrigenderes und Schändlicheres vorstellen, als die Tatsache, dass in die Partei des Proletariats das Prinzip einer übermonarchistischen Autorität eingeführt wurde? vielleicht wisst Ihr nicht, wohin das führt? Lest die Geschichte. Das Dogma lebenslänglicher Unfehlbarkeit ist der unbestreitbarste und schreiendste Ausdruck dessen, dass die stalinsche Wirtschafterei in einen unversöhnlichen Widerspruch zur ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklung der Sowjetdemokratie und – was nicht weniger wichtig ist – zu den historischen Aufgaben der internationalen proletarischen Vorhut geraten ist.

Man muss nur überlegen: anderthalb Jahrzehnte nach der Oktoberrevolution steht an der Spitze der Komintern – Manuilski. Ihr kennt diesen Mann nicht schlechter als ich. Niemand von uns hat ihn jemals ernst genommen. In allen kritischen Momenten schwankte er, verwirrte er die Dinge und wich er zurück; immer und unveränderlich war er auf der Suche nach einem Gönner. Im Jahre 1918 verkündigte er in der Presse, dass Trotzki den Bolschewismus von der nationalen Beschränktheit rettete. Im Jahre 1923, wiederum in der Presse, bezeichnete er Lenin und Trotzki als die Gründer der Theorie und Praxis der Kommunistischen Internationale. Ihr werdet sagen, dass er dabei von persönlichen Berechnungen beherrscht wurde? Ich streite es nicht ab. Aber dann hat er sich verrechnet. Die «Troika» stellte Manuilski ein Ultimatum: entweder eine Hetzkampagne gegen Rakowski, der allgemeines Vertrauen genoss, zu eröffnen, oder selbst erdrückt zu werden. Ihr kennt Manuilski: er wählte das erste. Und heute – schauerlich, es sich vorzustellen, – ist Manuilski – der Führer der Komintern!

Die Strategie von Marx und Lenin, die historische Erfahrung des Bolschewismus, die großen Lehren des Jahres 1917 – alles ist entstellt, verstümmelt. Die gestrigen Fehler der Bürokratie, nicht erkannt und nicht berichtigt, werden in eine obligatorische Tradition verwandelt und an jeder Biegung des Weges als Fallen und Wolfseisen aufgestellt. Die Leitung der Komintern ist zur organisierten Sabotage der internationalen proletarischen Revolution geworden. Ihre Verbrechen sind nicht zu zählen. Und jetzt bereitet sich vor unseren Augen das allerschrecklichste in der Reihe derselben vor.

Die Theorie des Sozialfaschismus, in der sich die Unwissenheit Stalins mit der Leichtfertigkeit Manuilskis verbindet, wurde zur Schlinge um den Hals des deutschen Proletariats. Unter der Knute der stalinschen Clique hilft das unglückselige, verwirrte, erschreckte, zerrissene ZK der Kommunistischen Partei Deutschlands aus allen Kräften – es kann nicht anders als helfen – den Führern der deutschen Sozialdemokratie, Hitler die deutsche Arbeiterklasse ans Messer zu liefern.

Und Ihr glaubt, dass Ihr mit Eurem falschen Papierchen vom 20. Februar die bolschewistische Kritik aufhalten könnt? Uns von der Erfüllung unserer Pflicht abhalten könnt? Unsere Gesinnungsgenossen erschrecken könnt? Üble Scherze! Schon in nicht weniger als 20 Ländern gibt es Kader von Bolschewisten, die sich mit Recht als die Erben der marxistischen Tradition, der Schule Lenins, des Vermächtnisses der Oktoberrevolution fühlen. Niemand wird ihnen den Mund verschließen!

Oh, natürlich, Stalin hat sein letztes praktisches Wort noch nicht gesagt. Das Arsenal seiner Mittel ist bekannt: Lenin hat sie erwogen und bewertet. Aber diese Mittel können jetzt schon nur noch zur Befriedigung persönlicher Rache ausreichen. Der Schlag gegen den alten unbeugsamen Kämpfer Rakowski, die Erschießung des «Verräters» Blumkin und seine Ersetzung durch den echten Stalinisten Agabekow, die Schießereien auf die in den Gefängnissen eingesperrten Bolschewisten, eine kleine, durchaus bescheidene, unmerkliche Unterstützung der Klassenfeinde gegen den revolutionären Widersacher – dazu mögen die stalinschen Arsenale noch ausreichen. Aber zu mehr nicht!

Ihr kennt Stalin nicht weniger als ich. Viele von Euch haben Stalin im Gespräch mit mir persönlich oder mit mir Nahestehenden nicht nur einmal gekennzeichnet und ohne Illusionen gekennzeichnet. Stalins Kraft lag nie in ihm selbst, sondern im Apparat; oder in ihm selbst, soweit er die vollkommenste Verkörperung des bürokratischen Automatismus darstellt. Vom Apparat getrennt, ihm gegenübergestellt, ist Stalin – ein Nichts, ein leerer Fleck. Ein Mensch, der gestern noch das Symbol der bürokratischen Macht war und morgen in aller Augen das Symbol des bürokratischen Bankrotts sein wird. Es ist Zeit sich von der stalinschen Mythe zu trennen. Man muss der Arbeiterklasse und ihrer wirklichen, nicht verfälschten Partei vertrauen.

Lest die Protokolle der Plenarsitzungen des ZK vor den Jahren 1926 u. 27; lest die Erklärungen der Opposition: Ihr habt eine vollständigere Sammlung von Dokumenten zur Verfügung als ich. Und Ihr werdet Euch aufs Neue überzeugen: die ganze Entwicklung der Partei, des Apparats und der stalinschen Clique wurde von uns vorausgesagt, alle Signale waren von vornherein gestellt. Die Auflösung des stalinschen Systems vollzieht sich unter genauer Innehaltung der von der Opposition bezeichneten Marschroute. Ihr wollt auf diesem Wege weiter gehen? Aber der Weg führt nicht weiter. Stalin hat Euch in die Sackgasse geführt. Es ist unmöglich, anders weiterzugehen, als die Staliniade zu liquidieren. Man muss der Arbeiterklasse vertrauen, man muss der proletarischen Avantgarde die Möglichkeit geben, mittels freier Kritik das ganze Sowjetsystem von oben bis unten zu prüfen und schonungslos von dem aufgehäuften Schutt zu reinigen. Man muss, endlich, den letzten nachdrücklichen Rat Lenins ausführen: Stalin hinweg räumen.

Die Linke Opposition ist jede Stunde bereit, an der Wiederbelebung der Partei- und Sowjetdemokratie unmittelbaren Anteil zu nehmen. Auf sie kann man sich verlassen. Sie stellt eine Auslese von der proletarischen Diktatur unbeschränkt ergebenen Revolutionären dar. Das ist ein wertvoller Sauerteig für die niedergedrückte, zerrissene, durch Strebertum und Liebedienerei von oben zerfressene Partei.

Die größten Fragen sind aufs neue von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellt: im Fernen Osten und besonders im Zentrum Europas, in Deutschland. Wo Maßnahmen einer großen Politik nötig sind, tüftelt Stalin klägliche Polizeimaßnahmen aus. Ober den Beschluss vom 20. Februar schreitet die Opposition hinweg, wie der Arbeiter über eine Pfütze an den Platz seiner Arbeit geht.

Bolschewisten-Leninisten, voran!

Prinkipo, 1. März 1932.

L. Trotzki

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