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Leo Trotzki 19321205 Offener Brief an Vandervelde

Leo Trotzki: Offener Brief an Vandervelde

[Nach Permanente Revolution, 3. Jahrgang Nr. 1 (1. Januarwoche 1933), S. 3 ]

Sehr geehrter Herr Vandervelde!

Vor einigen Jahren wandten Sie sich an mich mit einem offenen Brief, wenn ich nicht irre, wegen der Repressionen gegen die Menschewiki und die SR. Sie sind überhaupt stets hervorgetreten gegen die Bolschewiki im Namen der demokratischen Prinzipien. Das ist Ihr Recht. Wenn Ihre Kritik nicht den nötigen Anklang fand, so war es deshalb, weil wir Bolschewiki von den Prinzipien der revolutionären Diktatur ausgingen.

Die russischen Sozial-Revolutionäre, Ihre Gesinnungsgenossen in demokratischen Fragen, eröffneten seinerzeit gegen uns einen terroristischen Kampf. Sie haben Lenin verletzt und versuchten meinen Frontzug in die Luft zu sprengen. Als sie dem Sowjet-Gericht ausgeliefert wurden, fanden Sie in Ihnen ihre heißesten Verteidiger. Die Regierung, der ich angehörte, erlaubte Ihnen nicht nur nach Sowjet-Russland zu fahren, sondern auch auf dem Gericht als Verteidiger derjenigen aufzutreten, die versucht hatten die Führer des ersten Arbeiterstaates zu ermorden. In ihren Verteidigungsreden, die wir in unserer Presse veröffentlicht haben, haben Sie stets an die Prinzipien der Demokratie appelliert. Das ist Ihr Recht.

Am 4-ten Dezember 1932 war ich mit meinen Reisegefährten auf der Durchreise im Hafen von Antwerpen. Ich hatte nicht die Absicht die Diktatur des Proletariats zu predigen, nicht die Absicht, als Verteidiger der von der belgischen Regierung verhafteten Kommunisten und Streikenden aufzutreten, die, soviel ich weiß, keine Attentate auf die Mitglieder der belgischen Regierung unternommen haben. Einige von meinen Reisegefährten, darunter auch meine Frau, wollten Antwerpen besichtigen. Einer von ihnen musste aus Reisegründen das örtliche Konsulat aufsuchen. Ihnen allen wurde das Aufenthaltsrecht auf belgischem Territorium auch unter Aufsicht kategorisch verboten. Der Teil des Hafens, wo unsere Dampfer standen wurde völlig abgeriegelt. Von beiden Seiten des Dampfers – rechts und links – standen Polizeiboote bereit. Vom Deck unseres Dampfers hatten wir die Möglichkeit die Parade der Kriegs- und Civil-Polizei-Agenten der Demokratie abzunehmen. Das war ein eindrucksvoller Anblick. Die Zahl der Flieken und Buren, – Sie werden mir diese familiären Benennungen erlauben um kurz zu sein – war größer als die Zahl der Matrosen und Hafenarbeiter. Der Dampfer war einem provisorischen Gefängnis ähnlich, der anliegende Teil des Hafens – einem Gefängnishof. Ein höherer Polizeibeamter stellte Kopien unserer Pässe her, – obwohl wir nicht nach Belgien fuhren und, wie gesagt, nach Antwerpen nicht zugelassen wurden, – und forderte darüber eine Erklärung von mir, dass im Pass ein anderer Namen stand Ich lehnte das Gespräch mit der belgischen Polizei ab, da ich mit ihr nichts zu tun habe. Der Polizeioffizier versuchte mit Drohungen vorzugehen; er hätte das Recht jeden zu verhaften, dessen Dampferkurs zufällig durch die belgischen Gewässer führe! Ich muss gestehen, dass die Verhaftung doch nicht durchgeführt wurde.

Ich bitte in meinen Worten keine Anklage zu erblicken. Es wäre lächerlich angesichts all dessen, was man heute den werktätigen Massen aller Weltteile antut, und insbesondere den Kommunisten, mich über solche Nichtigkeiten zu beklagen. Doch die Antwerpener Episode scheint mir Grund genug zu sein, um auf Ihren alten offenen Brief, auf den ich Ihnen seinerzeit nicht geantwortet habe, zurückzukommen.

Ich irre mich hoffentlich nicht, wenn ich Belgien zu den Demokratien zähle? Der Krieg, den Sie führten, war doch ein Krieg zum Schutz der Demokratie. Nach dem Kriege, standen Sie an der Spitze Belgiens als Minister und sogar als Präsident. Was wäre denn noch erforderlich, um die Demokratie zur vollen Blüte zu bringen? In dieser Beziehung, glaube ich, sind wir uns einig. Warum denn aber stinkt diese Demokratie dann nach alter russischer Gendarmerie? Und kann man denn annehmen, dass eine Demokratie, die einen Nervenschock bekommt, bei dem zufälligen Herannahen eines Bolschewiken an ihre Grenzen, imstande sein wird den Klassenkampf zu neutralisieren, und die friedliche Umwandlung des Kapitalismus in den Sozialismus zu sichern?

Als Antwort werden Sie mich selbstverständlich an die Tscheka, an die GPU, an die Verbannung Rakowskis und an meine eigene Verbannung aus der Sowjet-Union erinnern. Dieser Beweis verfehlt das Ziel. Das Sowjetregime schmückt sich gar nicht mit den Pfauenfedern der Demokratie. Wenn der Übergang zum Sozialismus innerhalb der vom Liberalismus geschaffenen Staatsformen möglich wäre, so wäre die revolutionäre Diktatur überflüssig.

In Bezug auf das Sowjetregime kann und muss man die Frage stellen: ist es imstande, den Arbeitern den Kampf mit dem Kapitalismus beizubringen? Es ist aber unsinnig von der proletarischen Diktatur die Innehaltung der Formen und des Ritus der liberalen Demokratie zu fordern. Die Diktatur hat ihre Methoden und ihre Logik, die sehr streng sind. Dieser Logik fallen nicht selten auch proletarische Revolutionäre zum Opfer, die das Regime der Diktatur schufen. Ja, im Laufe der Entwicklung des isolierten durch die internationale Sozialdemokratie verratenen Arbeiterstaates, hat der bürokratische Apparat eine Macht erhalten, die für die sozialistische Revolution gefährlich ist. Ich brauche nicht daran erinnert zu werden. Doch angesichts der Klassenfeinde trage ich die Verantwortung voll und ganz nicht nur für die Oktoberrevolution, die das Regime der Diktatur geschaffen hat, sondern auch für die Sowjet-Republik, so wie sie heute dasteht, mitgerechnet auch jene Regierung die mich nach dem Auslande verbannte und mir das Bürgerrecht entzog.

Wir haben die Demokratie zerschlagen, um mit dem Kapitalismus fertig zu werden. Sie beschützen den Kapitalismus sozusagen im Namen der Demokratie. Wo ist sie denn? Im Antwerpener Hafen war sie auf alle Fälle nicht vorhanden. Es waren wohl Flieken, Buren, Gendarmen mit Gewehr. Es war aber keine Spur von demokratischem Asylrecht vorhanden.

Und dennoch verließ ich die Gewässer von Antwerpen ohne den kleinsten Pessimismus. Während der Mittagspause kamen die Hafenarbeiter aus dem Schiffsraum auf Deck und versammelten sich am Ufer. Es waren ihrer 2-3 Dutzend, dieser starken, ruhigen flämischen Proletarier mit dichtem Kohlenstaub bedeckt. Uns trennte eine Kette von Spitzeln. Die Hafenarbeiter beobachteten stillschweigend die Situation, und verfolgen jeden «Mitwirkenden» mit prüfenden Blicken. Schon deutete ein stämmiger Hafenarbeiter auf die Spitzel in Hüten und nickte uns zu. Von unserem Deck antwortete man mit einem Lächeln. Durch die Hafenarbeiter ging eine Bewegung. Die Eigenen erkannten die Eigenen. Ich will nicht sagen, dass die Antwerpener Hafenarbeiter – Bolschewiki sind. Doch sie haben mit dem richtigen Instinkt Stellung genommen. An die Arbeit gehend, haben sie alle uns freundschaftlich zugelächelt. Viele führten ihre schwieligen Hände zum Gruß an die Mütze. Das ist – unsere Demokratie.

Als der Dampfer die Scheide in nebliger Dämmerung flußabwärts fuhr, an durch die Krise stillgelegten Kränen vorbei, ertönten vom Ufer her Abschiedsrufe und Grüße von unbekannten, aber treuen Freunden.

Indem ich diese Zeilen zwischen Antwerpen und Vlissingen beende, schicke ich den Arbeitern Belgiens einen brüderlichen Gruß.

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