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Leo Trotzki 19320229 Über den Krieg in China

Leo Trotzki: Über den Krieg in China

[Nach Permanente Revolution, 3. Jahrgang Nr. 2 (2. Januarwoche 1933), S. 3]

«Japans militärisches Vorgehen in China entwickelt sich nach dem System einer Spirale: Ihr Bereich wächst von Monat zu Monat. Ein solches System bietet politische und diplomatische Vorteile: Nach und nach wird zunächst das eigene Volk und dann der Gegner in den Krieg hineingezogen, während die Welt vor eine Reihe von vollendeten Tatsachen gestellt wird. Es zeigt aber auch gleichzeitig, dass die Militärclique gegenwärtig nicht nur äußere, sondern auch innere Schwierigkeiten zu überwinden hat. Vom rein militärischen Gesichtspunkt gesehen bietet eine solche Aktion «par petits paquets» an sich einen Nachteil. Offenbar sind aber die maßgebenden Kreise in Japan der Ansicht, dass die militärische Schwäche Chinas und die unlöslichen Widersprüche im feindlichen Lager ihnen einen gewissen Zeitverlust gestatten, der mit einem spiralförmigen Vormarsch verknüpft ist.

Indessen muss offenbar mit oder ohne Pause auf die erste Phase die zweite folgen, die Phase eines wirklichen Krieges. Was ist Japans politisches Ziel? Die führenden Pariser Blätter, die sorgfältig in französischer Sprache die Ansichten und Anregungen des japanischen Generalstabs wiedergeben, haben stets betont, dass nicht von Krieg, sondern nur von Polizeimaßnahmen die Rede sein könne. Diese Erklärung gehört als ein notwendiger Bestandteil zu den «Paketen» des Spiralsystems. Sie wird von selbst fortfallen, sobald die militärische Aktion zur vollen Entwicklung gekommen ist, und wenn die angreifenden Streitkräfte vor den angestrebten Zielen stehen.

Japans Ziel ist die Kolonisierung Chinas, ein wirklich grandioser Plan. Aber man kann sogleich sagen, dass er Japans Kräfte übersteigt. Japan ist zu spät auf dem Plan erschienen. In dem Augenblick, in dem Großbritannien den Verlust Indiens ins Auge fassen muss, wird es Japan nicht gelingen, aus China ein neues Indien zu machen.

Ist es aber nicht möglich, dass die Machthaber in Tokio noch ein anderes Ziel, nämlich einen Schlag gegen die Sowjet-Republik verfolgen. Es wäre vorschnell, einen solchen Plan für völlig ausgeschlossen zu erklären. Er kann jedoch sicherlich nicht im Vordergrund stehen. Erst nachdem es die Mandschurei besetzt und seine Stellung dort konsolidiert hätte, würde es daran denken können, einen Schlag in nordwestlicher Richtung zu führen. Da aber die Sowjet-Regierung einen Krieg weder führen will noch kann, wird Japan wahrscheinlich sich nicht entschließen, einen unmittelbaren aggressiven Vorstoß gegen Räterussland vorzunehmen, bevor es seine Stellung in China und der Mandschurei gesichert und gefestigt hat.

Ein Krieg gegen die Sowjet-Union hätte von vornherein in ganz anderen Ausmaßen geführt werden müssen. Ohne starke Bundesgenossen, die in der Lage wären, den Krieg zum großen Teil zu finanzieren, muss es als zweifelhaft angesehen werden, ob Japan sich entscheiden wird, die Grenzen der Mandschurei zu überschreiten. Wie weit Tokio heute oder morgen auf Milliarden-Anleihen für militärische Zwecke rechnen kann, lässt sich in Paris, London und New York besser feststellen als hier in Prinkipo.

Jeder Versuch, der Sowjet-Regierung aggressive Pläne im Fernen Osten nachzujagen, richtet sich selbst durch seine Haltlosigkeit. Ein Krieg würde einen sehr schweren Schlag für den Wirtschaftsplan bedeuten, mit dem die ganze Zukunft Russlands eng verknüpft ist. Eine Fabrik, die zu 99 Prozent fertig ist, ist noch keine Fabrik, und in Sowjetrussland sind Hunderte und Tausende von Fabriken noch im Bau begriffen. Durch einen Krieg würden sie auf lange Zeit in totes Kapital verwandelt werden. All das ist wirklich so klar, dass es nicht weiter ausgeführt zu werden braucht.

Wenn wir zugeben, dass ein militärischer Konflikt im Fernen Osten dennoch unvermeidlich ist – und davon sind nicht nur viele Politiker in Japan, sondern auch anderswo überzeugt – so liegt selbst in diesem Falle für die Sowjet-Regierung kein Grund vor, diesen Ausgang zu beschleunigen. Japan ist in China in Verfolg eines großzügigen Unternehmens eingedrungen, das unabsehbare Folgen haben wird. Es kann und wird militärische und diplomatische Teilerfolge haben, aber diese werden vorübergehender Natur sein, während die Schwierigkeiten nicht nur von Dauer sein werden, sondern sich auch noch steigern werden. In Korea besitzt Japan bereits sein Irland. In China sucht es sein Indien zu schaffen. Man muss schon ein völlig stumpfer General des Feudaltypus sein, um auf die Nationalbewegung in China mit Verachtung hinab zu blicken. Ein gewaltiges Volk von vierhundertfünfzig Millionen Menschen, die zum Selbstbewusstsein erwacht sind, kann man nicht mit Flugzeugen niederhalten. Japan wird bis zu den Knien, wenn nicht ganz bis zum Gürtel in den fetten Boden der Mandschurei einsinken und dort festsitzen! Und da in Japan selbst die wirtschaftliche Entwicklung in einen völligen Widerspruch zu der feudalen Struktur der Gesellschaft geraten ist, darf man eine innere Krisis als ganz unvermeidlich ansehen. Zunächst wird die Seiyukai-Partei der Minseito-Partei das Feld räumen müssen, die sich weiter nach links entwickeln wird. Dann wird die revolutionäre Partei ihr Haupt erheben … Frankreich hat nicht wenig durch die Finanzierung des Zarismus verloren. Es befindet sich im Irrtum, wenn es glaubt, dass es sich damit gegen Verluste bei der Finanzierung des Mikado versichert hat. Es liegt auf der Hand: Im Fernen Osten hat die Sowjet-Regierung keinen Anlass, sich zu beeilen oder die Ruhe zu verlieren.

Infolgedessen könnte ein Krieg zwischen Sowjetrussland und Japan nur entstehen, wenn der Konflikt absichtlich und bewusst von Japan mit der Zustimmung von stärkeren Bundesgenossen herausgefordert werden würde. Das Ziel eines solchen Krieges wäre unvergleichlich viel größer, als die Frage der chinesischen Ostbahn und das ganze mandschurische Problem zusammengenommen. Gewisse französische Blätter haben es etwas eilig mit der Voraussage, dass der Bolschewismus in den sibirischen Steppen zugrunde gehen werde. Die Steppen und Wälder Sibiriens haben Raum genug, um manchen Dingen Platz zum Untergang zu bieten; aber ist es so sicher, dass es gerade der Bolschewismus sein muss, der dort untergehen würde?

Die Idee eines Krieges zwischen Sowjetrussland und Japan ebenso wie der parallele Gedanke eines Krieges zwischen Japan und den Vereinigten Staaten bringt das Problem der Entfernungen aufs Tapet: Ein Landozean und ein Wasserozean als voraussichtliche Schauplätze militärischer Operationen. Auf den allerersten Blick geht das strategische Problem völlig in der Frage der Entfernungen auf. Was diesen Punkt angeht, so kommen manche Leute recht schnell zu Schlüssen, die unangenehm für Russland sind: Die schwache Besiedlung der asiatischen Bezirke der Sowjetunion, die wirtschaftliche Rückständigkeit und der Mangel an Eisenbahnverbindungen werden als ebenso viele Faktoren angesehen, die für die Sowjet-Regierung ungünstig sind. Das ist bis zu einem gewissen Punkte richtig. Wenn man aber die Frage zunächst vom rein militärisch-technischen Standpunkte ansieht, so lässt sich nicht verkennen, dass dieselben gewaltigen Entfernungen ebenso zu Verbündeten der Sowjets werden. Wenn man auch die Möglichkeit einiger militärischer Erfolge der Japaner auf dem Vormarsch nach Westen zugeben mag. so lässt sich doch unschwer voraussehen, dass ihre Schwierigkeiten im Quadrat der von den japanischen Truppen zurückgelegten Entfernungen anwachsen würden. Ihre Erfolge würden dadurch verschlungen werden. Und obendrein würde Japan in seinem Rücken sein Irland und sein Indien zurücklassen.

Indessen kann man das Problem nicht in so engen Grenzen betrachten Der Krieg würde nicht nur lediglich mit militärischen Mitteln ausgetragen werden. Sowjetrussland würde nicht allein dastehen. China ist aufgewacht. Es will für seine Existenz kämpfen, und es ist in der Lage, das zu tun. Wer diesen Faktor übersieht, riskiert sich den Kopf einzurennen.

Der Transport von Millionen von Soldaten auf der sibirischen Bahn und ihre Versorgung mit allem, was zur Kriegsführung gehört, ist gewiss kein leichtes Problem. Da aber die industriellen Machtmittel Russlands jetzt gewaltig vermehrt sind, könnten im Notfall die Eisenbahntransportmittel erheblich gesteigert werden. Dazu würde gewiss Zeit gehören. Aber ein Krieg über große Entfernungen würde auch ein Krieg von langer Dauer sein. Man könnte vielleicht einen Fünf-Jahres-Kriegsplan aufstellen oder den industriellen Fünf-Jahres-Plan in Übereinstimmung mit den Kriegserfordernissen abändern. Natürlich würde dadurch der Wirtschaft und Kultur der am Kriege beteiligten Länder ein furchtbarer Schlag zugefügt werden. Ich gehe von der Annahme aus, dass es keinen anderen Ausweg gibt: Wenn einmal ein Krieg unvermeidlich ist, dann muss er auch gründlich geführt werden, und keine Hilfskraft und kein Mittel darf geschont werden. Die Teilnahme Sowjetrusslands an dem Kriege, wodurch dem chinesischen Volke ganz neue Aussichten erschlossen würden, müsste in China eine patriotische Bewegung von gewaltigem Umfang auslösen. Daran kann für jeden, der etwas von der Logik der Tatsachen und der Massenpsychologie versteht, kein Zweifel bestehen. In China gibt es keinen Mangel an Menschenmaterial. Millionen von Chinesen haben gelernt, mit der Flinte umzugehen. Es fehlt ihnen nicht am Kampfwillen, sondern nur an einer geordneten militärischen Ausbildung, an Organisation, an System und an ausgebildeter Führung. Hier könnte die Rote Armee den Chinesen sehr wirksame Hilfe leisten. Die tüchtigeren Einheiten in Tschiang Kai-scheks Armee sind bekanntlich unter der Leitung von russischen Instrukteuren ausgebildet worden. Das Experiment der Militärschule von Whampoo könnte, wenn es auf andere politische Grundlagen gestellt würde (diese Frage will ich hier nicht anschneiden) in gewaltigem Maßstabe ausgebaut werden. Dann würde die transsibirische Bahn, abgesehen von dem notwendigen militärischen Rüstzeug, nicht ein Heer, sondern nur die Quintessenz eines Heeres befördern müssen.

Wie man aus erwachtem und erregtem Menschenmaterial Truppen improvisiert, das haben die Bolschewisten gründlich gelernt, und dürften es wohl noch nicht vergessen haben. Ich zweifle nicht, dass es in zwölf bis achtzehn Monaten möglich sein würde, eine Million Kämpfer zu mobilisieren, einzukleiden, zu bewaffnen, auszubilden und in die Kampflinie zu stellen, und dass diese Truppen den Japanern, was die Ausbildung anlangt, in nichts nachstehen würden. Hinsichtlich der Kampfbereitschaft würden sie den Japanern sogar überlegen sein. Für die zweite Million würde man nicht einmal sechs Monate brauchen. Ich spreche von China, und neben China steht die Sowjet-Republik, die Rote Arme, ihre gewaltigen Reserven … Die führenden französischen Blätter, die den Weltrekord an Rückschrittlichkeit halten, haben es wirklich etwas zu eilig, die Sowjets in den Städten Sibiriens zu begraben, jeder Hass ist gewöhnlich ein schlechter Ratgeber und er ist es ganz besonders bei der Aufstellung von Prophezeiungen.

Aber wenn, so werden Sie mich fragen, die Aussichten so günstig sind, warum versucht dann die Sowjet-Regierung mit allen Mitteln einen Krieg zu vermeiden? Auf diese Frage habe ich eigentlich schon geantwortet: Der Zeitfaktor arbeitet im Fernen Osten gegen den japanischen Imperialismus, der seinen Kulminationspunkt bereits überschritten hat und sich nunmehr dem Untergang zu bewegt. Aber abgesehen davon darf man nicht vergessen, und diese Seite des Problems ist nicht zu unterschätzen, dass die Welt nicht nur aus dem Fernen Osten besteht. Der Schlüssel der Weltlage liegt augenblicklich nicht in Mukden, sondern in Berlin. Wenn Hitler zur Macht gelangte, so würde das für Sowjetrussland eine weit größere Gefahr bedeuten, als alle Pläne der Tokioter Militärclique.

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