Ein Rückblick auf die Geschichte der Einheitsfrontfrage

Ein Rückblick auf die Geschichte der Einheitsfrontfrage

Die Erwägungen hinsichtlich der Einheitsfrontpolitik ergeben sich aus solch grundlegenden und unabweisbaren Notwendigkeiten des Kampfes von Klasse gegen Klasse (im marxistischen, nicht im bürokratischen Sinn des Wortes), dass man nur mit Zorn- und Schamröte die Einwände der Stalin-Bürokratie zu lesen vermag. Man kann tagaus tagein die einfachsten Gedanken den zurückgebliebensten und finstersten Arbeitern und Bauern auseinandersetzen, ohne dabei auch nur die mindeste Ermüdung zu verspüren; hier heißt es frische Lager auszuheben. Aber wehe, wenn man die elementarsten Gedanken Leuten beweisen und darlegen muss, deren Hirn die bürokratische Presse plattgedrückt! Was tun mit «Führern», die keine logischen Beweisgründe zur Verfügung haben, dafür aber ein internationales Schimpflexikon in Händen? Die Grundthesen des Marxismus werden mit einem einzigen Wort pariert: «Konterrevolutionär»! Spottbillig klingt so ein Wort im Munde jener, die allenfalls bisher durch nichts ihre Fähigkeit bewiesen haben, eine Revolution zu vollbringen. Was aber doch mit den ersten vier Komintern-Kongressen? Anerkennt die Stalin-Bürokratie sie oder nicht?

Die Dokumente leben ja und haben ihre Bedeutung bis auf den heutigen Tag bewahrt. Ans der überaus großen Zahl greife ich Thesen heraus, die ich zwischen dem 3. und 4, Kongress für die französische Kommunistische Partei ausgearbeitet hatte, die vom Pol-Büro der WKP und dem Exekutivkomitee der Komintern gebilligt und seinerzeit in kommunistischen Organen, verschiedener Sprachen veröffentlicht wurden. Wir geben wörtlich jenen Teil der Thesen wieder, welcher der Begründung und Verteidigung der Einheitsfrontpolitik gewidmet ist:

«Es ist vollkommen klar, dass das Klassenleben des Proletariats in der Vorbereitungsperiode der Revolution nicht aufhört. Zusammenstöße mit Industriellen, Bourgeoisie, Staatsmacht auf Initiative dieser oder jener Seite gehen ihren Gang. In diesen Zusammenstößen, soweit sie die Lebensinteressen der gesamten Arbeiterklasse, deren Mehrheit oder des einen oder anderen ihrer Teile erfassen, erfahren die Arbeiter das Bedürfnis der Aktionseinheit… Eine Partei, die sich diesem Bedürfnis mechanisch entgegenstellt,… wird im Bewusstsein der Arbeiter unausbleiblich verurteilt werden.»

«Das Problem der Einheitsfront ergibt sich aus der Notwendigkeit, ungeachtet der in der gegebenen Epoche unvermeidlichen Spaltung der politischen Organisationen, die sich auf die Arbeiterklasse stützen, dieser die Möglichkeit der Einheitsfront im Kampfe gegen die Kapitalisten zu sichern. Wer diese Aufgabe nicht begreift, für den ist die Partei eine Propagandagesellschaft und nicht eine Organisation der Massenaktionen.»

«Würde die Kommunistische Partei nicht radikal und unwiderruflich mit der Sozialdemokratie brechen, sie könnte nie die Partei der proletarischen Revolution werden. Würde die Kommunistische Partei nicht organisatorische Wege suchen, in jedem gegebenen Moment miteinander in Einklang gebrachte Aktionen der kommunistischen und nichtkommunistischen (darunter auch sozialdemokratischen) Arbeitermassen zu ermöglichen, sie würde damit allein ihre Unfähigkeit offenbaren – auf Grund von Massenaktionen – die Mehrheit der Arbeiterklasse zu erobern.»

«Es genügt nicht, nachdem man die Kommunisten von den Reformisten getrennt, sie durch organisatorische Disziplin zu binden; diese Organisation muss lernen, alle kollektiven Handlungen des Proletariats auf allen Gebieten seines lebendigen Kampfes zu leiten. Das ist der zweite Buchstabe des kommunistischen Alphabets.»

«Erstreckt die Einheitsfront sich nur auf die Arbeitermassen oder bezieht sie auch die opportunistischen Führer ein? Diese Fragestellung an sich ist die Frucht eines Missverständnisses. Könnten wir einfach die Arbeitermassen um unser Banner vereinigen… unter Umgehung der reformistischen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen, so wäre das natürlich das Beste. Dann würde aber auch die Frage der Einheitsfront selber in ihrer jetzigen Gestalt nicht bestehen.»

«Wir haben, abgesehen von allen anderen Erwägungen, das Interesse, die Reformisten aus ihren Zufluchtsstätten herauszuziehen und neben uns vor der kämpfenden Masse aufzustellen. Bei richtiger Taktik können wir dabei nur gewinnen. Der Kommunist, der davor zaudert oder sich fürchtet, ähnelt einem Schwimmer, der Thesen über die beste Schwimmmethode gutheißt, doch nicht zu riskieren wagt, sich ins Wasser zu stürzen. Indem wir mit den übrigen Organisationen ein Abkommen treffen, erlegen wir uns selbstverständlich eine gewisse Aktionsdisziplin auf. Doch kann diese Disziplin nicht absoluten Charakter haben. Im Moment, wo die Reformisten den Kampf zum Schaden der Bewegung oder im Gegensatz zur Lage und zur Stimmung der Massen zu bremsen beginnen, wahren wir uns als unabhängige Organisation stets das Recht, den Kampf bis zum Ende zu führen und ohne unsere zeitweiligen Halbverbündeten.»

«In dieser Politik lässt sich eine Annäherung an den Reformismus sehen nur vom Standpunkt eines Journalisten, der meint, sich vom Reformismus zu entfernen, wenn er ihn mit stets gleichbleibenden Ausdrücken kritisiert, ohne die Redaktionsstube zu verlassen, und fürchtet, mit ihm angesichts der Arbeitermassen zusammenzustoßen, um diesen die Möglichkeit zu geben, Kommunisten und Reformisten unter den gleichen Bedingungen des Massenkampfes einzuschätzen. Hinter dieser angeblich revolutionären Furcht vor «Annäherung» verbirgt sich im Grunde politische Passivität, die jenen Zustand erhalten möchte, wo Kommunisten und Reformisten ihre streng abgegrenzten Einflusskreise haben, ihre Versammlungsbesucher, ihre Presse, und all das zusammen die Illusion eines politischen Kampfes erzeugt.»

«In der Frage der Einheitsfront sehen wir eine passive, unentschlossene Tendenz, maskiert durch verbale Unversöhnlichkeit. Doch auf den ersten Blick springt folgendes Paradox in die Augen: Die rechten Parteielemente mit ihren zentristischen und pazifistischen Tendenzen…. treten als unversöhnlichste Gegner der Einheitsfront auf, wobei sie sich mit dem Banner revolutionärer Unbeugsamkeit verhüllen. Die Elemente dagegen, die in den schwersten Augenblicken uneingeschränkt auf dem Boden der III. Internationale gestanden hatten, treten für die Einheitsfronttaktik ein. In Wirklichkeit arbeiten unter der Maske pseudorevolutionärer Unversöhnlichkeit jetzt die Anhänger der passiven, abwartenden Taktik.» (Trotzki: «5 Jahre Komintern», S. 345-378 der russischen Ausgabe). Könnte es nicht scheinen, diese Zeilen seien heute geschrieben, gegen Stalin-Manuilski-Thälmann-Remmele-Neumann? In Wirklichkeit wurden sie vor 10 Jahren niedergeschrieben – gegen Frossard, Cachin, Charles Rappoport. Daniel Renoult und andere französische Opportunisten, die sich mit Ultraradikalismus verdeckten. Waren diese Thesen – diese Frage werden wir der Stalin-Bürokratie mit zäher Beharrlichkeit stellen! – «konterrevolutionär» schon damals, als sie die Politik des russischen Pol-Büros mit Lenin an der Spitze widerspiegelten und die Politik der Komintern bestimmten? Man versuche nicht zu antworten, seither hätten die Bedingungen sich geändert: es ging nicht um konjunkturelle Fragen sondern, wie im Text selber gesagt wird, um das «Alphabet des Marxismus».

Also zehn Jahre zuvor erklärte die Komintern das Wesen der Einheitsfrontpolitik in dem Sinne, dass die Kommunistische Partei den Massen und deren Organisationen in der Tat ihre Bereitschaft beweisen muss, gemeinschaftlich mit ihnen selbst für die bescheidensten Ziele zu kämpfen, wenn sie auf dem historischen Entwicklungsweg des Proletariats liegen; die Kommunistische Partei rechnet in diesem Kampf mit dem tatsächlichen Zustand der Klasse, in jedem gegebenen Moment; sie wendet sich nicht nur an die Massen, sondern auch an jene Organisationen, deren Führerschaft von den Massen anerkannt ist; sie konfrontiert vor den Augen der Massen die reformistischen Organisationen mit den realen Aufgaben des Klassenkampfes. Indem sie im Leben beweist, dass nicht die Spaltertätigkeit der Kommunistischen Partei, sondern die bewusste Sabotage der sozialdemokratischen Führer den gemeinsamen Kampf untergräbt, beschleunigt die Einheitsfrontpolitik die revolutionäre Entwicklung der Klasse. Es ist vollständig klar, dass diese Gedanken nach keiner Richtung hin veralten konnten.

Wie erklärt sich indes der Verzicht der Komintern auf die Einheitsfront? Durch Misserfolge und Durchfälle dieser Politik in der Vergangenheit! Wären diese Misserfolge, deren Ursachen nicht in der Politik, sondern an den Politikern liegen, rechtzeitig aufgedeckt, durchanalysiert, studiert worden, die deutsche Kommunistische Partei wäre strategisch und taktisch für die gegenwärtige Lage ausgezeichnet gerüstet. Doch die stalinsche Bürokratie handelte, wie der kurzsichtige Affe in der Fabel: nachdem er die Brillengläser auf den Schweif aufgesetzt und vergeblich beleckt hatte, fand er. sie unverwendbar und zerschlug sie an einem Stein. Wie mans nimmt, die Brillengläser tragen keine Schuld.

Die Fehler in der Einheitsfrontfrage waren zweierlei Art. Am häufigsten geschah es so, dass die leitenden Organe der Kommunistischen Partei sich an die Reformisten wandten mit Vorschlägen zu gemeinsamem Kampf für Losungen, die weder der Situation noch dem Bewusstsein der Massen entsprachen. Die Vorschläge hatten den Charakter von Blindschüssen. Die Massen blieben teilnahmslos, die Reformisten deuteten die Vorschläge der Kommunisten als Intrigen zur Zersetzung der Sozialdemokratie. In allen diesen Fällen fand eine rein formelle, deklarationsmäßige Anwendung der Einheitsfrontpolitik statt: diese kann jedoch fruchtbringend sein nur auf Grund realistischer Bewertung von Situation und Massenbewusstsein. Durch häufige und dabei schlechte Anwendung stumpfte die Waffe der «Offenen Briefe» ab, und man musste auf sie verzichten.

Die zweite Art der Verdrehung war von weitaus verderblicherem Charakter. Die Einheitsfrontpolitik verwandelte sich unter der stalinschen Führung in eine Jagd nach Bundesgenossen um den Preis des Verzichts auf die Selbständigkeit der Kommunistischen Partei. Gestützt auf Moskau, im Dünkel ihrer Allmacht, meinten die Kominternbeamten ernstlich, sie könnten mit den Klassen kommandieren, ihnen Marschrouten vorschreiben, die Agrar- und Streikbewegung in China aufhalten, das Bündnis mit Tschiang Kai-schek um den Preis des Verzichts, auf die Selbständigkeit der Kommunistischen Partei erkaufen, die trade-unionistische Bürokratie. Hauptstütze des englischen Imperialismus, bei der Tafelrunde in London oder in kaukasischen Kurorten umherziehen, die kroatischen Bourgeois vom Typ Raditschs in Kommunisten verwandeln usw. Die Absichten waren dabei gewiss die besten: die Entwicklung zu beschleunigen, an Stelle der Massen zu tun, wozu diese noch nicht herangereift waren.

Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass in einer Reihe von Ländern, besonders in Österreich, die Kominternbeamten in der vergangenen Periode versucht haben, auf künstlichem Wege, von oben, eine «linke» Sozialdemokratie zu bilden als Brücke zum Kommunismus. Aus dieser Maskerade sah gleichfalls nichts als Durchfall heraus. Die Ergebnisse all dieser Experimente und Abenteuer blieben unwandelbar katastrophal. Die revolutionäre Bewegung wurde auf lange Jahre hinaus zurückgeworfen.

Da beschloss Manuilski, die Brillengläser zu zerschlagen, und Kuusinen. um künftighin nicht mehr zu irren, alles, ausgenommen sich und seine Freunde, «Sozialfaschist» zu nennen. Nun wurde die Sache einfacher und klarer, nun konnte es keine Fehler mehr geben. Was für eine Einheitsfront kann es mit «Sozialfaschisten» gegen Nationalfaschisten geben, oder mit «linken Sozialfaschisten» gegen rechte? Nachdem sie so über unseren Häuptern einen Bogen von 180° beschrieben hafte, war die Stalin-Bürokratie gezwungen, die Beschlüsse der ersten vier Kongresse als konterrevolutionär zu erklären.

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