Bürokratischer Ultimatismus

Bürokratischer Ultimatismus

Wenn die Blätter der neuen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) gegen den «Parteiegoismus» von Sozialdemokratie und Kommunistischer Partei schreiben; wenn Seydewitz befeuert, dass für ihn das Klasseninteresse über dem Parteiinteresse stehe – so verfallen sie in politischen Sentimentalismus oder, noch schlimmer, so verdecken sie mit sentimentalen Phrasen die Interessen der eigenen Partei. Das ist ein untauglicher Weg. Wenn die Reaktion fordert, man möge die Interessen der Nation» über die Klasseninteressen stellen, legen wir Marxisten dar, dass unter dem Schein der Interessen des «Ganzen» die Reaktion die Interessen der Ausbeuterklasse durchführt. Die Interessen der Nation lassen sich nicht anders formulieren als unter dem Gesichtspunkt der herrschenden Klasse oder der die Herrschaft anstrebenden Klasse. Die Interessen der Klasse lassen sich nicht anders formulieren als in Gestalt eines Programms; das Programm lässt sich nicht anders verteidigen als durch die Schaffung einer Partei.

Die Klasse an und für sich genommen ist lediglich Ausbeutungsmaterial. Die selbständige Rolle des Proletariats beginnt dort, wo es aus einer sozialen Klasse an sich eine politische Klasse für sich wird. Das vollzieht sich nicht anders als durch das Mittel der Partei. Die Partei ist jenes historische Organ, durch dessen Vermittlung die Klasse das Selbstbewusstsein erlangt. Zu sagen: Klasse steht höher als Partei – heißt behaupten: die urwüchsige Klasse steht höher als die dem Selbstbewusstsein entgegengehende Klasse. Das ist nicht nur falsch, sondern auch reaktionär. Um die Notwendigkeit der Einheitsfront zu begründen, bedarf es nicht im Mindesten dieser Spießertheorie.

Der Marsch der Klasse zum Selbstbewusstsein, d. h. die Herausschälung einer revolutionären Partei, die das Proletariat hinter sich herführt, ist ein verwickelter und widerspruchsvoller Prozess. Die Klasse ist nicht einheitlich. Ihre verschiedenen Teile erlangen auf verschiedenen Wegen und zu verschiedenen Zeitpunkten das Selbstbewusstsein. Die Bourgeoisie nimmt aktiven Anteil an diesem Prozess. Sie schafft ihre Organe innerhalb der Arbeiterklasse oder benutzt die vorhandenen, indem sie die einen Schichten der Arbeiter den anderen gegenüberstellt. Im Proletariat wirken gleichzeitig verschiedene Parteien. Politisch bleibt es daher den größten Teil seines historischen Weges gespalten. Hieraus erwächst eben – in bestimmten Perioden mit außerordentlicher Schärfe – das Problem der Einheitsfront.

Die Kommunistische Partei drückt – bei richtiger Politik – die historischen Interessen des Proletariats aus. Ihre Aufgabe besteht darin, die Mehrheit des Proletariats zu erobern: nur so ist auch der sozialistische Umsturz möglich. Ihre Mission kann die Kommunistische Partei nicht anders erfüllen als durch volle und bedingungslose Wahrung der politischen und organisatorischen Unabhängigkeit den anderen Parteien und Organisationen innerhalb und außerhalb der Arbeiterklasse gegenüber. Der Verstoß gegen diese Grundforderung der marxistischen Politik ist das schwerste aller Verbrechen an den Interessen des Proletariats als Klasse. Die chinesische Revolution von 1925-1927 ging gerade deshalb zugrunde, weil die Komintern, geführt von Stalin und Bucharin. die chinesische Kommunistische Partei gezwungen hatte, der Kuomintang, der Partei der chinesischen Bourgeoisie, beizutreten und sich deren Disziplin zu unterwerfen. Die Erfahrung der stalinschen Politik in Bezug auf die Kuomintang wird für ewige Zeiten in die Geschichte eingehen als Musterbeispiel verderblicher Sabotage der Revolution durch ihre Führer. Die stalinsche Theorie der «Zweiklassenparteien der Arbeiter und Bauern» für den Osten ist die verallgemeinerte und zum Gesetz erhobene Kuomintang-Praxis; die Anwendung dieser Theorie in Japan, Indien, Indonesien, Korea hat die Autorität des Kommunismus untergraben und die Entwicklung des Proletariats für eine Reihe von Jahren aufgehalten. Die gleiche, im Wesen treubrüchige Politik wurde, wenn auch nicht so zynisch, in den Vereinigten Staaten, in England und allen Ländern Europas bis zum Jahre 1928 geführt.

Der Kampf der Linken Opposition für die volle und bedingungslose Unabhängigkeit der Kommunistischen Partei und ihrer Politik unter allen und jeglichen historischen Bedingungen und auf allen Entwicklungsstufen des Proletariats führte zu außerordentlicher Verschärfung der Beziehungen zwischen der Opposition und der Fraktion Stalins in der Periode seines Blocks mit Tschiang Kai-schek, Wang Jinwei, Purcell, Lafolette, Raditsch usw. Unnötig, daran zu erinnern, dass Thälmann mit Remmele ebenso wie Brandler mit Thalheimer in diesem Kampf bedingungslos auf Seiten Stalins standen gegen die Bolschewiki-Leninisten. Nicht wir also brauchen von Stalin und Thälmann selbständige Politik der Kommunistischen Partei zu erlernen!

Doch das Proletariat gelangt zum revolutionären Selbstbewusstsein nicht über die Schultreppen, sondern durch den Klassenkampf, der keine Unterbrechung duldet. Zum Kampf braucht das Proletariat die Einheitsfront. Das gilt gleichermaßen für wirtschaftliche Teilkonflikte innerhalb der Wände eines einzelnen Betriebes als für solche «nationalen» politischen Kämpfe wie die Abwehr des Faschismus. Die Einheitsfront-Taktik ist somit nichts Zufälliges und Künstliches, irgendein schlaues Manöver – nein, sie erwächst ganz und gar aus den objektiven Entwicklungsbedingungen des Proletariats. Die Worte des Kommunistischen Manifests, dass sich die Kommunisten nicht dem Proletariat gegenüberstellen, dass sie keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen haben, drücken den Gedanken aus, dass der Kampf der Partei um die Mehrheit der Klasse keinesfalls in Widerspruch geraten darf mit dem Bedürfnis der Arbeiter nach Einheit ihrer Kampfesreihen.

«Die Rote Fahne» verurteilt mit vollem Recht das Gerede, dass «die Klasseninteressen höher stehen als die Parteiinteressen». In Wirklichkeit fallen die richtig verstandenen Interessen der Klasse mit den richtig formulierten Aufgaben der Partei zusammen. Soweit sich die Sache auf diese geschichtsphilosophische Behauptung beschränkt, ist die Position der «Roten Fahne» unantastbar. Doch die politischen Schlussfolgerungen, die sie daraus ableitet, stellen schon eine direkte Verhöhnung des Marxismus dar.

Das grundsätzliche Zusammentreffen der Interessen des Proletariats mit den Aufgaben der Kommunistischen Partei bedeutet weder, dass sich das gesamte Proletariat schon heute seiner Interessen bewusst sei. noch, dass die Partei sie unter allen Umständen richtig formuliere. Erwächst doch die Notwendigkeit der Partei selber gerade daraus, dass das Proletariat nicht mit vollendetem Verständnis seiner historischen Interessen zur Welt kommt. Die Aufgabe der Partei besteht darin, durch Kampferfahrung zu lernen, dem Proletariat sein Recht auf die Führung zu beweisen. Indes vermeint die stalinsche Bürokratie, auf Grund des mit dem Kominternsiegel versehenen Parteipasses vom Proletariat kurz und bündig Unterwerfung fordern zu können.

Jede Einheitsfront, die nicht im Voraus unter Führung der Kommunistischen Partei steht – wiederholt «Die Rote Fahne» – ist gegen die Interessen des Proletariats gerichtet. Wer die Führung der Kommunistischen Partei nicht anerkennt, ist schon dadurch ein «Konterrevolutionär«. Der Arbeiter ist verpflichtet der kommunistischen Organisation auf Vorschuss, aufs Ehrenwort Glauben zu schenken. Aus der prinzipiellen Identität der Aufgaben von Partei und Klasse leitet der Bürokrat sein Recht ab, die Klasse zu kommandieren. Die historische Aufgabe, welche die Kommunistische Partei erst zu lösen hat: Vereinigung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiter unter ihrem Banner verwandelt die Bürokratie in ein Ultimatum, einen Revolver, den sie der Arbeiterklasse an die Schläfe setzt. Das dialektische Denken wird ersetzt durch formalistisches, administratives, bürokratisches.

Die historische Aufgabe, die zu erfüllen ist, wird bereits als erfüllt angesehen. Das Vertrauen, das zu erobern ist, bereits als erobert ausgegeben. Das ist natürlich äußerst einfach. Doch die Sache wird damit wenig vorwärts gebracht. Man muss in der Politik ausgehen von dem, was ist, und nicht von dem, was man wünscht und was sein wird. Zu Ende geführt ist die Einstellung der stalinschen Bürokratie identisch mit der Verneinung der Partei. Denn worauf läuft deren historische Arbeit hinaus, wenn das Proletariat im Voraus verpflichtet ist. Thälmanns und Remmeles Führung anzuerkennen?

Vom Arbeiter, der sich in die kommunistische Front einreihen will, hat die Kommunistische Partei das Recht zu fordern: Du musst unser Programm anerkennen, unsere Statuten und die Führung unserer gewählten Institutionen. Aber unsinnig und verbrecherisch ist es, das gleiche aphoristische Verlangen, auch nur teilweise, an die Arbeitermassen oder Arbeiterorganisationen zu richten, wo es um gemeinsame Aktionen im Namen bestimmter Kampfaufgaben geht. Das heißt, das Fundament der Partei untergraben, die ihre Bestimmung nur bei richtigem Wechselverhältnis zur Klasse erfüllen kann. Statt ein einseitiges Ultimatum aufzustellen, das die Arbeiter reizt und verbittert, muss man ein bestimmtes Programm gemeinsamer Aktionen vorschlagen: das ist der sicherste Weg, die Führung wirklich zu erobern.

Ultimatismus ist der Versuch, die Arbeiterklasse zu vergewaltigen, wo es misslingt, sie zu überzeugen: wenn Ihr, Arbeiter, Thälmann-Remmele-Neumanns Führung nicht anerkennt, werden wir Euch nicht gestatten, die Einheitsfront zu bilden. Ein böser Feind könnte keine ungünstigere Lage ausdenken als jene, in die sich die kommunistischen Parteiführer begeben. Das ist der sichere Weg ins Verderben.

Die Leitung der deutschen Kommunistischen Partei unterstreicht nur greller ihren Ultimatismus, wenn sie sich in ihren Aufrufen spitzfindig herausredet: «wir fordern nicht von Euch, dass ihr Euch im Vorhinein unsere kommunistischen Auffassungen über die Grundfragen des proletarischen Klassenkampfes zu eigen macht.» Das klingt gleich einer Entschuldigung einer Politik wegen, für die es eine Entschuldigung nicht geben kann. Wenn die Partei ihre Weigerung erklärt, in jegliche Unterhandlungen mit den übrigen Organisationen zu treten, gleichzeitig aber den Sozialdemokraten anheimstellt, mit ihrer Organisation zu brechen und. ohne sich Kommunisten zu nennen, unter die Führung der Kommunistischen Partei zu treten, so ist das reinster Ultimatismus. Die Ausrede über die «kommunistischen Auffassungen» ist vollkommen lächerlich: ein Arbeiter, der bereit ist. schon heute mit seiner Partei zu brechen, um unter kommunistischer Führung am Kampf teilzunehmen, wird nicht zögern, sich Kommunist zu nennen. Diplomatische Finten. Etikettenspiel sind dem Arbeiter fremd. Er nimmt Politik und Organisation nach ihrem Wesen. Er bleibt in der Sozialdemokratie, solange er der kommunistischen Führung misstraut. Man kann mit Gewissheit sagen, dass die Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter bis heute noch in ihrer Partei verharrt, nicht weil sie der reformistischen Führung vertraut, sondern nur deshalb, weil sie der kommunistischen noch misstraut. Die Arbeiter wollen aber schon heute gegen den Faschismus kämpfen. Zeigt man ihnen die nächste Etappe des gemeinsamen Kampfes, werden sie fordern, ihre Organisationen mögen diesen Weg betreten. Werden die Organisationen sich widersetzen, können sie es mit ihr bis zum Bruche kommen lassen.

Statt den sozialdemokratischen Arbeitern zu helfen, durch die Erfahrung ihren Weg zu finden, hilft das ZK der Kommunistischen Partei den Führern der Sozialdemokratie gegen die Arbeiter. Ihren Widerwillen gegen den Kampf, ihre Furcht vor dem Kampf, ihre Unfähigkeit zum Kampf verhüllen jetzt die Wels und Hilferding höchst erfolgreich mit dem Hinweis auf den Widerwillen der Kommunistischen Partei, am gemeinsamen Kampf teilzunehmen. Die starrköpfige, stumpfsinnige, abgeschmackte Verweigerung der Einheitsfront durch die Kommunistische Partei ist unter den gegenwärtigen Bedingungen zur wichtigsten Hilfsquelle der Sozialdemokratie geworden. Daher klammert sich auch die Sozialdemokratie mit dem ihr eigenen Parasitismus an unsere Kritik der ultimatistischen Politik Stalin-Thälmanns.

Die, offiziellen Kominternführer schwärmen jetzt mit tiefsinniger Miene von der Hebung des theoretischen Niveaus der Partei und vom Studium der «Geschichte des Bolschewismus». In Wirklichkeit sinkt das Niveau immer mehr, die Lehren des Bolschewismus werden vergessen, gefälscht, mit Füßen getreten. Doch ist es durchaus nicht schwer, in der Geschichte der Bolschewistischen Partei den Vorläufer der heutigen Politik des ZK zu finden: es ist dies der verstorbene Bogdanow, Begründer des Ultimatismus oder Otsowismus. Noch im Jahre 1905 hielt er die Beteiligung der Bolschewiki am Petrograder Sowjet für unmöglich, wenn der Sowjet nicht zuvor die sozialdemokratische Führung anerkennt. Unter Bogdanows Einfluss fasste das Petersburger Büro des ZK der Bolschewiki im Oktober 1905 den Beschluss: im Petrograder Sowjet die Anerkennung der Führerschaft der Partei zu fordern; anderenfalls aus dem Sowjet auszutreten. Der junge Advokat Krassikow, damals Mitglied des ZK der Bolschewiki, brachte dieses Ultimatum in der Plenarsitzung des Sowjets vor. Die Arbeiterdeputierten, darunter auch die bolschewistischen, sahen einander erstaunt an und – gingen zur Tagesordnung über. Kein Mensch verließ den Sowjet. Bald traf Lenin aus dem Ausland ein und wusch den Ultimatisten grausam den Kopf: man kann – lehrte er – man darf die Massen nicht mit Hilfe von Ultimatums zwingen, die notwendigen Phasen ihrer eigenen politischen Entwicklung zu überspringen.

Allein Bogdanow entsagte seiner Methodologie nicht und begründete in der Folge eine ganze Fraktion von «Ultimatisten» oder «Otsowisten» (Abberufern): diesen Namen, erhielten sie, weil sie gewillt waren, die Bolschewiki aus allen jenen Organisationen abzuberufen, die ablehnten, das ihnen von oben gestellte Ultimatum: «Anerkenne im Voraus unsere Führerschaft» anzunehmen. Ihre Politik versuchten die Ultimatisten nicht nur auf die Sowjets anzuwenden, sondern auch auf dem Gebiet des Parlamentarismus, der Gewerkschaften und überhaupt allen legalen und halblegalen Organisationen der Arbeiterklasse gegenüber.

Lenins Kampf gegen die Ultimatisten war der Kampf um das richtige Verhältnis zwischen Partei und Klasse. Die Ultimatisten haben es in der alten Bolschewistischen Partei nie zu irgendeiner bedeutenden Rolle gebracht: sonst wäre der Sieg des Bolschewismus unmöglich gewesen. Aufmerksames und feinfühliges Verhalten zur Klasse machte die Kraft des Bolschewismus aus. Der Kampf gegen den Ultimatismus wurde von Lenin auch weitergeführt, als er an der Macht stand, insbesondere und vor allem in Bezug auf die Gewerkschaften. «Würden wir gegenwärtig in Russland, nach zweieinhalb Jahren nie dagewesener Siege über die Bourgeosie Russlands und der Entente, für den Eintritt in die Gewerkschaften die «Anerkennung der Diktatur» zur Bedingung machen, wir begingen eine Dummheit, würden unseren Einfluss auf die Massen schädigen, den Menschewiki an die Hand gehen. Denn die ganze Aufgabe der Kommunisten besteht darin: die Rückständigen überzeugen zu können, unter ihnen zu arbeiten, nicht aber sich von ihnen durch ausgedachte kindisch-«radikale» Losungen abzusondern. («Die Kinderkrankheit des ,Radikalismus'»). Umso mehr ist dies Pflicht der Kommunistischen Parteien des Westens, die erst die Minderheit der Arbeiterklasse bilden.

Die Lage hat jedoch in der UdSSR während der letzten Periode eine radikale Veränderung erfahren. Die mit der Macht ausgerüstete Kommunistische Partei bedeutet bereits ein anderes Wechselverhältnis zwischen Avantgarde und Klasse: in dieses Verhältnis tritt ein Element des Zwanges ein. Lenins Kampf gegen Partei- und Sowjetbürokratismus bedeutete in seinem Wesen nicht den Kampf gegen schlechte Kanzleiführung, Amtsschimmel, Schlamperei usw., sondern gegen das Apparatkommando über die Klasse, gegen die Verwandlung der Parteibürokratie in eine neue «herrschende» Schicht. Lenins letzter Ratschlag: eine vom ZK unabhängige proletarische Kontrollkommission zu schaffen, Stalin und seine Fraktion aus dem Parteiapparat zu entfernen – war gegen die bürokratische Entartung der Partei gerichtet. Aus einer Reihe von Gründen, auf die wir an dieser Stelle nicht eingehen können, hat die Partei diesen Ratschlag übergangen. Die bürokratische Entartung der Partei ist in den letzten Jahren an die äußerste Grenze gelangt. Der stalinsche Apparat kommandiert nur. Die Sprache des Kommandos ist die Sprache des Ultimatismus. Jeder Arbeiter hat im Voraus alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Beschlüsse des ZK als unfehlbar anzuerkennen. Die Ansprüche auf Unfehlbarkeit sind umso mehr gewachsen, je fehlerhafter die Politik wurde.

Nachdem sie den Kominternapparat in ihre Hände bekommen hatte, übertrug die stalinsche Fraktion ihre Methoden natürlich auch auf die ausländischen Sektionen, d. h. die Kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder. Die Politik der deutschen Führung ist die Widerspiegelung der Politik der Moskauer Führung. Thälmann sieht, wie die stalinsche Bürokratie kommandiert und jeden für einen Konterrevolutionär erklärt, der nicht ihre Unfehlbarkeit anerkennt. Ist Thälmann schlechter als Stalin? Wenn sich die Arbeiterklasse nicht gehorsamst seiner Führung unterstellt, so deshalb, weil die Arbeiterklasse konterrevolutionär ist. Doppelt konterrevolutionär sind jene, die Thälmann die Schädlichkeit seines Ultimatismus aufzeigen. Zu den konterrevolutionärsten Büchern gehören Lenins gesammelte Schriften. Nicht umsonst unterwirft Stalin sie einer so harten Zensur, insbesondere bei der Herausgabe in fremden Sprachen.

Ist Ultimatismus unter allen Umständen schädlich: bedeutet er in der UdSSR Verausgabung des moralischen Parteikapitals. – so ist er doppelt verfehlt in den Parteien des Westens, denen erst ein moralisches Kapital aufzuhäufen bleibt. In der Sowjetunion hat die siegreiche Revolution zumindest die materiellen Voraussetzungen für den bürokratischen Ultimatismus geschaffen in Gestalt des Machtapparates. In den kapitalistischen Ländern hingegen, darunter in Deutschland, verwandelt sich der Ultimatismus in eine kraftlose Karikatur und unterbindet den Marsch der Kommunistischen Partei zur Macht. Remmeles Ultimatismus ist vor allem lächerlich. Aber das Lächerliche wirkt tötend, gar wenn es um die Partei der Revolution geht.

Verlegen wir für einen Augenblick das Problem in Englands Arena, wo die Kommunistische Partei (in Verfolg verderblicher Fehler der Stalin-Bürokratie) immer noch einen verschwindenden Teil des Proletariats ausmacht. Gibt man zu, dass jede Form der Einheitsfront außer der kommunistischen «konterrevolutionär» ist, so müsste das englische Proletariat den revolutionären Kampf offenbar bis zu jenem Zeitpunkt verschieben, wo die Kommunistische Partei an seine Spitze tritt. Die Kommunistische Partei kann aber an die Spitze der Klasse nicht anders treten als auf Grund von deren eigener revolutionärer Erfahrung. Die Erfahrung indes kann revolutionären Charakter nicht anders erlangen als durch Einbeziehung von Millionenmassen in den Kampf. Allein, die nicht kommunistischen Massen, und gar die organisierten, lassen sich in den Kampf nicht anders einbeziehen als auf Grund der Einheitsfrontpolitik. Wir geraten in einen Zauberkreis, aus dem es auf dem Wege des bürokratischen Ultimatismus kein Entrinnen gibt. Doch die revolutionäre Dialektik hat den Ausweg längst schon gezeigt und an zahllosen Beispielen auf den verschiedenartigsten Gebieten vorgeführt. Verbindung des Kampfes um die Macht mit dem Kampf um Reformen: vollkommene Selbständigkeit der Partei bei Wahrung der Gewerkschaftseinheit: Kampf gegen das bürgerliche Regime unter Ausnutzung seiner Einrichtungen: unversöhnliche Kritik des Parlamentarismus – von der Parlamentstribüne herab: unbarmherziger Kampf gegen den Reformismus bei praktischen Vereinbarungen mit den Reformisten in Teilkämpfen.

In England springt die Unzulänglichkeit des Ultimaiismus in die Augen infolge außerordentlicher Schwäche der Kommunistischen Partei. In Deutschland ist die Verderblichkeit des Ultimatismus etwas maskiert durch die bedeutende zahlenmäßige Stärke der Partei und durch ihr Wachstum. Doch wächst die deutsche Partei dank dem Druck der Umstände und nicht durch die Politik der Leitung: nicht dank dem Ultimatismus, sondern ihm zu Trotz! Überdies entscheidet nicht das zahlenmäßige Wachstum der Partei: es entscheidet das politische Wechselverhältnis zwischen Partei und Klasse. Auf dieser wesentlichen Linie erfährt die Lage keine Verbesserung, denn die deutsche Partei richtet zwischen sich und der Klasse den Drahtverhau des Ultimatismus auf.

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