Die Lehren der russischen Erfahrung

Die Lehren der russischen Erfahrung

In einer der früheren Arbeiten haben wir uns auf die bolschewistische Erfahrung im Kampfe gegen Kornilow berufen; die offiziellen Führer haben uns mit missfälligem Gemuhe geantwortet. Bringen wir nochmals den Kern der Sache, um deutlicher und eingehender darzulegen, wie die stalinsche Schule die Lehren der Vergangenheit zieht.

In den Monaten Juli und August 1917 führte das Regierungsoberhaupt Kerenski faktisch das Programm des Höchstkommandierenden Kornilow durch: er stellte an der Front die Feldgerichte wieder her und die Todesstrafe für Soldaten, raubte den Versöhnlersowjets die Einflussnahme auf die Staatsgeschäfte, machte den Bauernbändiger, erhöhte den Brotpreis ums Doppelte (bei staatlichem Getreidehandelsmonopol), bereitete die Räumung des revolutionären Petrograd vor, zog im Einvernehmen mit Kornilow konterrevolutionäre Truppen an Petrograd heran, versprach den Alliierten eine neue Frontoffensive usw. Dies war die allgemeine politische Lage.

Am 26. August brach Kornilow mit dem schwankenden Kerenski und warf Truppen gegen Petrograd. Die Lage der Bolschewistischen Partei war halblegal. Ihre Führer, angefangen mit Lenin, verbargen sich oder saßen im Gefängnis unter Anklage der Verbindung mit dem Hohenzollernschen Generalstab. Die bolschewistischen Zeitungen waren eingestellt. Die Verfolgungen gingen von der Kerenski-Regierung aus, die von links durch die Versöhnler, Sozialrevolutionäre und Menschewiki, unterstützt wurde.

Was tat nun die Bolschewistische Partei? Sie zauderte nicht eine Minute, ein praktisches Abkommen mit ihren Gefängniswärtern – Kerenski, Zeretelli, Dan usw. – zu schließen für den Kampf gegen Kornilow. Überall wurden Revolutionäre Verteidigungskomitees geschaffen, denen die Bolschewiki als Minderheit beitraten. Das hinderte die Bolschewiki nicht, die führende Rolle zu spielen: bei Abkommen, berechnet auf revolutionäre Massenaktionen, gewinnt stets die konsequenteste und kühnste revolutionäre Partei. Die Bolschewiki standen in vorderster Reihe, zertrümmerten die Barrieren, die sie von den menschewistischen Arbeitern und vor allem von den sozialrevolutionären Soldaten trennten, und rissen sie mit sich.

Vielleicht haben die Bolschewiki bloß deshalb so gehandelt, weil sie überrascht worden waren? Nein, die Bolschewiki hatten Dutzende und Hunderte Male während der vergangenen Monate von den Menschewiki gemeinsamen Kampf gegen die mobilisierende Konterrevolution gefordert. Noch am 27. Mai, als Zeretelli Repressionen gegen die bolschewistischen Matrosen verlangte, erklärte Trotzki in der Sitzung des Petrograder Sowjets: «Sobald ein konterrevolutionärer General versuchen wird, der Revolution die Schlinge um den Hals zu legen, werden die Kadetten den Strick einseifen, die Kronstädter Matrosen aber zur Stelle sein, um gemeinsam mit uns zu kämpfen und zu sterben.» Das fand seine wörtliche Bestätigung. In den Tagen des Kornilowschen Marsches wandte Kerenski sich an die Matrosen des Kreuzers «Aurora» mit der Bitte, den Schutz des Winterpalastes zu übernehmen. Die Matrosen waren durchweg Bolschewiki. Das hinderte sie nicht, den Winterpalast wachsam zu beschützen. Ihre Vertreter erschienen bei dem im «Kresty» sitzenden Trotzki zu Besuch und fragten: und Kerenski nicht verhaften? Doch die Frage hatte halb scherzenden Charakter: Die Matrosen begriffen, dass man erst Kornilow vernichten müsse, um sich sodann an Kerenski heranzumachen. Die Matrosen von der «Aurora» verstanden, dank richtiger politischer Leitung, mehr als Thälmanns Zentralkomitee.

Unseren historischen Rückblick nennt «Die Rote Fahne» «betrügerisch». Warum? Eine vergebliche Frage. Kann man denn von diesen Leuten durchdachte Einwände erwarten? Ihnen ist aus Moskau, unter Drohung der Dienstentlassung, anbefohlen, beim Namen Trotzki ein Gebläffer loszulassen. Sie erfüllen den Befehl nach bestem Können. Trotzki zieht nach ihren Worten «den betrügerischen Vergleich zwischen dem Kampf der Bolschewiki beim reaktionären Kornilowputsch Anfang September 1917, als die Bolschewiki gegen die Menschewiki um die Mehrheit innerhalb der Sowjets dicht vor einer akut revolutionären Situation rangen, als die Bolschewiki im bewaffneten Kampfe gegen Kornilow gleichzeitig Kerenski «von der Seite her» angriffen, mit dem heutigen «Kampf» Brünings «gegen» Hitler. Trotzki vertritt damit die Unterstützung der Brüning- und Preußenregierung als «kleineres Übel». («Die Rote Fahne», 22. Dezember 1931). Schwer ist es, diesen Wortkram zu widerlegen. Den Kampf der Bolschewiki gegen Kornilow vergleiche ich angeblich mit Brünings Kampf gegen Hitler. Ich überschätze nicht die geistigen Fähigkeiten der Redaktion der «Roten Fahne», doch haben diese Leute meinen Gedanken unmöglich nicht verstehen können: Brünings Kampf gegen Hitler vergleiche ich mit dem Kampf Kerenskis gegen Kornilow; den Kampf der Bolschewiki gegen Kornilow vergleiche ich mit dem Kampf der deutschen Kommunistischen Partei gegen Hitler. Worin ist dieser Vergleich «betrügerisch»? Die Bolschewiki, sagt «Die Rote Fahne», kämpften zu jener Zeit gegen die Menschewiki um die Mehrheit in den Sowjets. Aber auch die Kommunistische Partei kämpft gegen die Sozialdemokratie um die Mehrheit der Arbeiterklasse. In Russland stand man vor einer «akut revolutionären» Situation. Richtig. Allein, würden die Bolschewiki im August die Thälmannsche Position bezogen haben, anstelle einer revolutionären Situation wäre die konterrevolutionäre eingetreten.

In den letzten Augusttagen wurde Kornilow niedergeschlagen, eigentlich nicht mit Waffengewalt, sondern allein durch die Einmütigkeit der Massen. Sogleich nach dem 3. September schlug Lenin in der Presse den Menschewiki und Sozialrevolutionären einen Kompromiss vor: Ihr bildet die Sowjetmehrheit, sagte er ihnen. Nehmt die Macht, wir werden Euch gegen die Bourgeoisie helfen; garantiert uns volle Agitationsfreiheit, und wir gewährleisten Euch friedlichen Kampf um die Mehrheit im Sowjet! So ein Opportunist war dieser Lenin! Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre lehnten den Kompromiss ab, das heißt den neuerlichen Antrag der Einheitsfront gegen die Bourgeoisie. Diese Ablehnung wurde ein machtvolles Werkzeug in den Händen der Bolschewiki für die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes, der 7 Wochen später Menschewiki und Sozialrevolutionäre hinwegfegte.

Bisher hat es in der Welt nur eine siegreiche proletarische Revolution gegeben. Ich glaube durchaus nicht, wir hätten auf dem Wege zum Sieg keinerlei Fehler begangen; doch denke ich immerhin, unsere Erfahrung habe für die deutsche Kommunistische Partei irgendeine Bedeutung. Ich bringe die nächstliegende und verwandteste geschichtliche Analogie. Womit antworten nun die Führer der deutschen Kommunistischen Partei? Mit Schmähungen.

«Ernsthaft», in vollem Waffenkleide der Wissenschaft, auf unseren Vergleich zu erwidern hat nur die ultralinke Gruppe «Rote Kämpfer» versucht. Sie meinen, die Bolschewiki hätten im August «richtig gehandelt», denn Kornilow war der Träger der zaristischen Konterrevolution, d. h. sein Kampf war der Kampf der feudalen Reaktion gegen die bürgerliche Revolution. In dieser Situation war ein taktisches Bündnis der Arbeiterschaft mit dem Bürgertum und seinem sozialrevolutionären und menschewistischen Anhang nicht nur richtig, sondern auch notwendig und unvermeidlich, denn das Interesse beider Klassen fiel im Punkte der Abwehr der feudalen Konterrevolution zusammen. Da Hitler nicht die feudale, sondern die bürgerliche Konterrevolution verkörpert, kann die Sozialdemokratie, indem sie die Bourgeoisie unterstützt, nicht gegen Hitler vorgehen. Das ist es, weshalb es keine Einheitsfront in Deutschland gibt, und deshalb sei Trotzkis Vergleich falsch.

All das klingt sehr solid. Aber in Wirklichkeit ist nicht ein wahres Wort daran. Die russische Bourgeoisie stand im August 1917 absolut nicht in Widerspruch zur feudalen Reaktion: das gesamte Großgrundbesitzertum unterstützte die Kadettenpartei, die gegen die Enteignung der Großgrundbesitzer ankämpfte. Kornilow nannte sich Republikaner, «Bauernsohn». Anhänger von Agrarreform und Konstituierender Versammlung. Die gesamte Bourgeoisie unterstützte Kornilow. Das Einvernehmen der Bolschewiki mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki wurde nur dadurch ermöglicht, dass die Versöhnler vorübergehend mit der Bourgeoisie gebrochen, hatten: dazu nötigte sie die Angst vor Kornilow. Die Versöhnler begriffen, dass mit Kornilows Sieg die Bourgeoisie sie nicht mehr brauchen und Kornilow gestatten würde, sie abzuwürgen. In diesen Grenzen besteht, wie wir sehen, eine vollständige Analogie zum Wechselverhältnis zwischen Sozialdemokratie und Faschismus.

Der Unterschied beginnt durchaus nicht dort, wo die Theoretiker vom «Roten Kämpfer» ihn sehen. In Russland strebten die Massen des Kleinbürgertums und vor allem der Bauernschaft nach links und nicht nach rechts. Kornilow stützte sich nicht auf das Kleinbürgertum. Gerade deshalb war seine Bewegung keine faschistische. Es war dies die bürgerliche – keineswegs die «feudale» – Konterrevolution der Verschwörergenerale. Darin bestand ihre Schwäche. Kornilow stützte sich auf die Sympathie der gesamten Bourgeoisie und die militärische Beihilfe von Offiziersstand und Junkertum d. h. der jungen Generation der gleichen Bourgeoisie. Das war zu wenig. Doch bei falscher Politik der Bolschewiki würde Kornilows Sieg keineswegs ausgeschlossen gewesen sein.

Wie wir sehen, sind die Einwände des «Roten Kämpfer» gegen die Einheitsfront in Deutschland darauf begründet, dass seine Theoretiker weder die russische noch die deutsche Lage begreifen.*

Da sie sich auf dem Glatteis der russischen Geschichte nicht sicher fühlt, versucht «Die Rote Fahne» von einer anderen Seite an die Frage heranzugehen. Für Trotzki seien nur die Nationalsozialisten Faschisten. «Der Ausnahmezustand, der diktatorische Lohnabbau, das faktische Streikverbot… all das ist für Trotzki kein Faschismus. Das soll unsere Partei tolerieren.» Diese Leute entwaffnen schier durch die Ohnmacht ihrer Wut. Wo und wann habe ich vorgeschlagen, Brüning zu «tolerieren»? Und was heißt das: «tolerieren»? Soll es sich um parlamentarische oder außerparlamentarische Unterstützung der Brüning-Regierung handeln, so ist unter Kommunisten darüber überhaupt zu sprechen, eine Schmach. Aber in einem anderen, breiteren, historischen Sinne seid Ihr Herren Krakeeler doch gezwungen die Brüning-Regierung zu «tolerieren», denn Euer Quentchen Kraft reicht nicht aus, sie zu stürzen.

Alle Beweisgründe, die von der «Roten Fahne» gegen mich in deutschen Dingen angeführt werden, hätte man mit vollem Rechte auch den Bolschewiki im Jahre 1917 vorhalten können. Man hätte sagen können: «Für die Bolschewiki beginnt die Kornilowiade erst mit Kornilow. Aber ist denn Kerenski nicht ein Kornilowianer? Ist seine Politik nicht auf die Erdrosselung der Revolution gerichtet? Lässt er nicht Strafexpeditionen auf die Bauern niedersausen? Organisiert er nicht Aussperrungen? Lebt Lenin nicht in der Illegalität? Und das alles sollen wir tolerieren?».

Soweit ich mich entsinne, fand sich nicht ein Bolschewik, der sich zu einer ähnlichen Argumentation erkühnt hätte. Würde er sich aber gefunden haben, man hätte ihm folgendermaßen geantwortet: «Wir beschuldigen Kerenski, die Machtergreifung Kornilows vorzubereiten und zu erleichtern. Befreit uns das aber von der Verpflichtung, uns Kornilows Angriff entgegen zu werfen? Wir beschuldigen den Pförtner, dem Dieb die Tür halb geöffnet zu haben? Heißt das aber, dass wir uns einfach von der Tür abwenden sollen? Da die Brüning-Regierung dank der sozialdemokratischen Tolerierung das Proletariat bis an die Knie in die Kapitulation vor dem Faschismus gestoßen hat, schlussfolgert Ihr: bis an die Knie, bis zu den Lenden oder mit dem Kopf, ist das nicht alles einerlei? Nein, es ist nicht einerlei. Wer mit den Knien ins Moor geraten ist, vermag noch herauszuspringen Wer mit dem Kopf im Moor steckt, für den gibt es kein Zurück. Über die Ultralinken schrieb Lenin: «Sie sprechen sehr viel Gutes über uns Bolschewiki. Mitunter wäre man geneigt zu sagen: mögen sie uns weniger loben und mehr in die Taktik der Bolschewiki eindringen, mehr sich mit ihr vertraut machen!

*Alle übrigen Auffassungen dieser Gruppe stehen auf dem gleichen Niveau und sind ein Nachgeplapper der gröbsten Fehler des stalinschen Bürokratentums, bloß von noch ultraradikaleren Grimassen begleitet. Der Faschismus herrscht bereits, eine selbständige Hitlergefahr gibt es nicht, die Arbeiter wollen gar nicht kämpfen. Wenn die Dinge so stehen und noch genügend Zeit bleibt, sollen die Theoretiker vom «Roten Kämpfer» die Muße nutzen und, statt schlechte Artikel zu schreiben, gute Bücher lesen. Marx hat schon längst Weitling auseinandergesetzt, dass Unwissen zu nichts Gutem führt.

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