Vorwort

Vorwort

Der russische Kapitalismus erwies sich als schwächstes Glied der imperialistischen Kette infolge seiner außerordentlichen Zurückgebliebenheit. Der deutsche Kapitalismus offenbart sich in der gegenwärtigen Krise als das schwächste Glied aus dem entgegengesetzten Grunde: es ist dies der fortgeschrittenste Kapitalismus in den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Je größer die den Produktionskräften Deutschlands innewohnende dynamische Kraft, umso mehr muss an ihnen Europas Staatensystem würgen, das dem Käfig-«System» einer zusammengeschrumpften Provinzmenagerie gleicht. Jede Konjunkturschwenkung stellt den deutschen Kapitalismus vor jene Aufgaben, die er mittels des Krieges zu lösen versucht hatte. Durch die Hohenzollernregierung war die deutsche Bourgeoisie darangegangen, «Europa zu organisieren». Durch die Regierung Brüning-Curtius unternahm sie den Versuch der … Zollunion mit Österreich. Welch ein entsetzliches Sinken der Aufgaben, Möglichkeiten und Perspektiven! Aber auch der Union hieß es entsagen. Das ganze europäische System steht auf Hühnerfüßchen. Die große, die heilbringende Hegemonie Frankreichs könnte zusammenstürzen, wenn sich einige Millionen Österreicher Deutschland anschließen.

Für Europa und vor allem für Deutschland gibt es kein Vorwärts auf kapitalistischem Wege. Eine vorübergehende Überwindung der gegenwärtigen Krise durch das automatische Kräftespiel des Kapitalismus selbst – auf den Knochen der Arbeiter – würde die Neuerstehung der Widersprüche auf der nächsten Etappe bedeuten, bloß in noch konzentrierterer Gestalt.

Europas spezifisches Gewicht in der Weltwirtschaft kann nur abnehmen. Von der Stirn Europas verschwinden ohnehin schon nicht die amerikanischen Etiketten: Davesplan, Youngplan, Hoovermoratorium. Europa ist gründlich auf amerikanische Ration gesetzt.

Die Fäulnis des Kapitalismus bedeutet soziale und kulturelle Fäulnis. Einer planmäßigen Differenzierung der Nation, dem Wachstum des Proletariats um den Preis der Verengung der Zwischenklassen ist die Bahn versperrt. Das weitere Anhalten der sozialen Krise kann nur Pauperisierung der Kleinbourgeoisie und lumpenproletarische Entartung immer größerer Schichten der Arbeiterklasse bedeuten. Einschneidender als alles andere hält diese Gefahr das fortschrittliche Deutschland an der Gurgel.

Den verfaultesten Teil des faulenden kapitalistischen Europa bildet die sozialdemokratische Bürokratie. Sie hatte ihren historischen Weg unter Marxens und Engels Banner angetreten. Zum Ziel sich den Sturz der bürgerlichen Herrschaft gestellt. Der machtvolle Aufschwung des Kapitalismus nahm von ihr Besitz und schleifte sie hinter sich her. Sie verzichtete, erst in der Tat, dann auch in den Worten auf die Revolution im Namen der Reformen. Kautsky verfocht zwar noch lange die Phraseologie der Revolution, wobei er sie den Bedürfnissen des Reformismus anpasste. Bernstein hingegen forderte Verzicht auf die Revolution: der Kapitalismus betritt die Epoche friedlicher Prosperität, ohne Krisen und Krieg. Ein Muster an Prophetie! Es möchte scheinen, zwischen Kautsky und Bernstein bestehe ein unversöhnlicher Widerspruch. In Wirklichkeit ergänzten sie symmetrisch einander, als linker und rechter Stiefel des Reformismus.

Der Krieg brach aus. Die Sozialdemokratie unterstützte den Krieg im Namen künftiger Prosperität. Statt Prosperität kam Verfall, jetzt bestand die Aufgabe nicht mehr darin, aus der Unzulänglichkeit des Kapitalismus die Notwendigkeit der Revolution zu folgern; auch nicht darin, mittels Reformen die Arbeiter mit dem Kapitalismus auszusöhnen. Die neue Politik der Sozialdemokratie bestand darin, die bürgerliche Gesellschaft um den Preis des Verzichts auf Reformen zu retten.

Aber auch das war nicht die letzte Stufe der Verkommenheit. Die gegenwärtige Krise des agonisierenden Kapitalismus zwang die Sozialdemokratie, auf die Früchte des langen wirtschaftlichen und politischen Kampfes zu verzichten und die deutschen Arbeiter auf das Lebensniveau ihrer Väter, Großväter und Urgroßväter hinabzuführen. Es gibt kein tragischeres und gleichzeitig abstoßenderes historisches Schauspiel als das bösartige Faulen des Reformismus inmitten der Trümmer all seiner Errungenschaften und Hoffnungen. Das Theater jagt nach Modernismus. Möge es doch öfter Hauptmanns «Weber» geben: das zeitgemäßeste aller Stücke. Doch der Direktor wolle nicht vergessen, die ersten Reihen den Führern der Sozialdemokratie vorzubehalten.

Übrigens ihr Sinn steht nicht nach Schauspielen: sie sind zur letzten Grenze der Anpassungsfähigkeit gelangt. Es gibt ein Niveau, unter das Deutschlands Arbeiterklasse freiwillig und für lange sich nicht hinablassen kann. Indes will das um seine Existenz ringende bürgerliche Regime dieses Niveau nicht anerkennen. Brünings Notverordnungen sind bloß der Beginn, ein Abtragen des Bodens. Das Brüningregime hält sich dank der feigen und treubrüchigen Unterstützung der sozialdemokratischen Bürokratie, die sich selbst durch das mürrische Halbvertrauen eines Teils des Proletariats hält. Das System bürokratischer Verordnungen ist unbeständig, unsicher, kurzlebig. Das Kapital braucht eine andere, entschiedenere Politik. Die Unterstützung der Sozialdemokratie, die sich nach den eigenen Arbeitern umsehen muss, ist nicht nur ungenügend für seine Ziele, – sie beginnt es bereits zu beengen. Die Periode der Halbmaßnahmen ist vorbei. Um zu versuchen, einen neuen Ausweg zu finden, muss sich die Bourgeoisie vollends des Drucks der Arbeiterorganisationen entledigen, sie hinweg räumen, zertrümmern, zersplittern.

Hier setzt die historische Funktion des Faschismus ein. Er bringt jene Klassen auf die Beine, die sich unmittelbar über das Proletariat erheben und fürchten, in dessen Reihen gestürzt zu werden, organisiert und militarisiert sie mit den Mitteln des Finanzkapitals, unter Deckung des offiziellen Staates und lenkt sie auf die Zertrümmerung der proletarischen Organisationen, von den revolutionären an bis zu den gemäßigten.

Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Hierzu ist die physische Vertilgung der revolutionärsten Arbeiterschicht ungenügend. Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu vernichten und die Ergebnisse von dreiviertel Jahrhundert Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften auszurotten. Denn auf diese Arbeit stützt sich in letzter Instanz auch die Kommunistische Partei.

Die Sozialdemokratie hat alle Bedingungen für den Sieg des Faschismus vorbereitet. Doch damit hat sie auch die Bedingungen ihrer eigenen politischen Liquidierung vorbereitet. Der Sozialdemokratie die Verantwortung für Brünings Notverordnungssystem und die drohende faschistische Barbarei aufzuerlegen, ist vollkommen richtig. Die Sozialdemokratie mit dem Faschismus zu identifizieren, vollkommen unsinnig.

Durch ihre Politik während der Revolution von 1848 hatte die liberale Bourgeoisie den Sieg der Konterrevolution vorbereitet, die dann den Liberalismus zur Ohnmacht verurteilte. Marx und Engels geißelten die deutsche liberale Bourgeoisie nicht minder scharf als Lassalle und tiefer als dieser. Als aber die Lassalleaner feudale Konterrevolution und liberale Bourgeoisie in eine «reaktionäre Masse» warfen, empörten sich Marx und Engels berechtigterweise über diesen falschen Ultraradikalismus. Die irrige Position der Lassalleaner machte sie fallweise zu unfreiwilligen Helfershelfern der Monarchie, trotz dem progressiven Charakter ihrer unermesslich ernsteren und bedeutsameren Arbeit als der des Liberalismus.

Die Theorie des «Sozialfaschismus» reproduziert den wesentlichen Fehler des Lassalleanismus auf neuen historischen Grundlagen. Während sie Nationalsozialisten und Sozialdemokraten in eine faschistische Masse wirft, sinkt die Stalinbürokratie zu solchen Taten hinab wie der Unterstützung des Hitlerschen Volksentscheids: das ist in keiner Weise besser als die Lassalleschen Kombinationen mit Bismarck.

In seinem Kampf gegen die Sozialdemokratie muss sich der deutsche Kommunismus in der jetzigen Etappe auf zwei untrennbare Grundsätze stützen: a) die politische Verantwortung der Sozialdemokratie für die Macht des Faschismus; b) die absolute Unversöhnlichkeit zwischen dem Faschismus und jenen Arbeiterorganisationen, durch die sich die Sozialdemokratie hält.

Die Widersprüche des deutschen Kapitalismus sind gegenwärtig zu jener Spannung gelangt, der unvermeidlich die Explosion folgen muss. Die Anpassungsfähigkeit der Sozialdemokratie hat die Grenze erreicht, wo bereits die Selbstvernichtung eintritt. Die Fehler der stalirischen Bürokratie sind an ein Ziel geraten, nach welchem die Katastrophe kommt. Das ist die dreieinige Formel, die Deutschlands Lage charakterisiert. Alles steht auf des Messers Schneide.

Verfolgt man das Leben Deutschlands nach Zeitungen, die mit einwöchiger Postverspätung anlangen; brauchen die Manuskripte eine weitere Woche, um die Entfernung zwischen Konstantinopel und Berlin zu bezwingen, worauf noch Wochen vergehen, ehe die Broschüre den Leser erreicht, sagt, man sich unwillkürlich: wird es nicht zu spät sein? Und jedes Mal antwortet man sich: nein, die ins Treffen geführten Armeen sind zu gewaltig, als dass eine einmalige, blitzartige Entscheidung zu befürchten wäre. Die Kräfte des deutschen Proletariats sind nicht erschöpft. Sie sind noch gar nicht in Bewegung gesetzt. Die Logik der Tatsachen wird mit jedem Tage immer gebieterischer sprechen. Das rechtfertigt den Versuch des Autors, sein Wort beizusteuern, wenn auch mit Verspätung von mehreren Wochen, d. h. einer ganzen historischen Periode.

Die stalinsche Bürokratie hat befunden, sie werde ihre Arbeit ruhiger vollführen, wenn sie den Autor dieser Zeilen auf Prinkipo festsetzt. Von der Regierung des Sozialdemokraten Hermann Müller hatte sie die Verweigerung des Visums erreicht für den … «Menschewik»: die Einheitsfront war in diesem Falle ohne Schwanken und Säumnis verwirklicht worden. Heute melden die Stalinisten in den offiziellen Sowjetpublikationen, ich «verteidige» die Brüningregierung im Einverständnis mit der Sozialdemokratie, die sich um die Erteilung meines Einreiserechtes nach Deutschland bemühe. Statt uns über die Niedrigkeit zu entrüsten, wollen wir die Dummheit verlachen. Aber unser Lachen sei kurz, denn es ist wenig Zeit.

Dass die Ereignisse unser Recht beweisen werden, darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen. Aber auf welchen Wegen wird die Geschichte ihren Beweis führen: durch die Katastrophe der Stalinschen Fraktion oder den Sieg der marxistischen Politik?

.Hier liegt gegenwärtig die ganze Frage. Es ist die Frage des Schicksals des deutschen Volkes und nicht nur seiner allein.

Die Fragen, die in dieser Broschüre zur Untersuchung gelangen, sind nicht seit gestern aufgetaucht. Nun sind es schon neun Jahre her, dass die Kominternführung sich mit der Umwertung der Werte beschäftigt und die internationale proletarische Avantgarde mit Hilfe taktischer Konvulsionen desorientiert, die in ihrer Gesamtheit «Generallinie» genannt werden. Die Russische Linke Opposition (Bolschewiki-Leninisten) ist nicht auf der Grundlage bloß russischer Fragen entstanden, sondern auf der Grundlage internationaler Fragen. Das Problem der revolutionären Entwicklung Deutschlands hat dabei nicht den letzten Platz eingenommen. Scharfe Meinungsverschiedenheiten begannen auf diesem Gebiete seit 1923. Der Autor der vorliegenden Zeilen hat sich im Laufe dieser Jahre mehr als einmal zu den strittigen Fragen geäußert. Ein bedeutender Teil seiner kritischen Arbeiten ist in deutscher Sprache erschienen. Die vorliegende Broschüre reiht sich lückenlos in die theoretische und politische Arbeit der Linksopposition ein. Vieles, das hier nur beiläufig Erwähnung gefunden hat, wurde von uns seinerzeit eingehend entwickelt. Ich muss den Leser insbesondere auf meine Bücher: «Die internationale Revolution und die Komintern», «Die Permanente Revolution» usw. verweisen. Nun, da die Meinungsverschiedenheiten sich vor aller Welt im Aspekt eines großen historischen Problems aufrichten, lassen sich ihre Quellen weitaus besser und tiefer bewerten. Für einen ernsten Revolutionär, einen wirklichen Marxisten ist das unbedingt notwendig. Eklektiker leben von episodischen Gedanken, von Improvisationen- die unter dem Stoß der Ereignisse entstehen. Marxistische Kader, fähig, die proletarische Revolution zu führen, lassen sich nur bei beharrlicher, kontinuierlicher Verarbeitung der Aufgaben und Meinungsverschiedenheiten erziehen.

Prinkipo, den 27. Januar 1932.

L. T.

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