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Leo Trotzki 19330512 Anlässlich der Außenpolitik der Stalinschen Bürokratie

Leo Trotzki: Anlässlich der Außenpolitik der Stalinschen Bürokratie

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr. 6 (Anfang Juni 1933), S. 7]

[Wir nahmen bereits in Nr. 5 Stellung zu den jüngsten Handlungen der Stalin-Diplomatie. Wir waren jedoch gezwungen, uns auf die unvollständigen und z.T. gefälschten Meldungen der bürgerlichen Presse zu stützen, die inzwischen dementiert bzw. deren Fälschungen nachgewiesen wurden.]

Im Osten ist die Sowjetregierung bereit, ihre Rechte auf die Ostchinabahn zu verkaufen. Im Westen schrieb sie die alten deutsch-sowjetischen Verträge auf den Namen Hitlers um. In den beiden entgegengesetzten Richtungen beugt sich die Regierung Stalin-Molotow vor dem Imperialismus und dem Faschismus.

Die Abtretung der Ostchinabahn bedeutet nicht bloß den Verlust einer wichtigen wirtschaftlichen und strategischen Position des Arbeiterstaates, sondern die unmittelbare Auslieferung in die Hände des japanischen Imperialismus einer wichtigen Waffe, die morgen schon gegen China wie auch gegen die Sowjetunion gerichtet werden wird.

Die Übereinkunft Stalins mit Hitler befestigt den Sieg Hitlers und kann nicht umhin, auf das Selbstbewusstsein der deutschen Arbeiter einen starken Druck auszuüben. „Wenn schon der mächtige Arbeiterstaat gezwungen ist, die Freundschaft des faschistischen Deutschlands zu suchen, so bedeutet das, dass es um die Nazi-Sache gut steht", so sagt sich unvermeidlich jeder denkende deutsche Proletarier. In derselben Zeit, in der die Kominternbürokratie den Sieg Hitlers als eine vorübergehende Episode hinstellt und die Frage des Generalstreiks und des Aufstands auf die Tagesordnung setzt (auf dem Papier), hält es die Sowjetbürokratie für unvermeidlich, mit der faschistischen Diktatur in Deutschland „normale" Beziehungen herzustellen. Die Taten der Litwinow-Tschintschuk charakterisieren viel treffender die wirklichen Ansichten der Stalinisten als das billige Geschreibsel der Manuilski-Kuusinen.

In den europäischen revolutionären Kreisen herrscht Empörung anlässlich der letzten Schritte der Stalinschen Bürokratie in der Außenpolitik, übrigens nicht nur in oppositionellen Gruppen, sondern auch in den offiziellen Parteien. Das Wort „Verrat" ist immer häufiger, wenn nicht in Artikeln, so in Briefen und Gesprächen zu finden.

Psychologisch sind solche Proteste nicht schwer zu verstehen, aber politisch können wir nicht in sie einstimmen. Die Frage der Wechselbeziehungen zwischen dem Sowjetstaat und dem Imperialismus ist im Grunde eine Frage des Kräfteverhältnisses. Nachdem im Osten die chinesische Revolution und im Westen der mächtigste Stoßtrupp des europäischen Proletariats erdrosselt wurde, hat sich das Kräfteverhältnis zum Schaden des Sowjetstaates schroff verändert. Dem muss man die verderbliche Innenpolitik hinzufügen, die die Bande zwischen Proletariat und Bauernschaft, zwischen Partei und Proletariat, zwischen Apparat und Partei, zwischen der persönlichen Diktatur und dem Apparat gänzlich gelockert hat. Die gleichen politischen Gründe zwingen die zentristischen Bürokraten, auf die Opposition zu schlagen, wie vor dem Mikado und vor Hitler zurückzuweichen.

Die Stalinsche Bürokratie ist für all ihre opportunistische und abenteurerhafte Politik verantwortlich. Aber die Folgen dieser Politik hängen schon nicht mehr von ihrem Willen ab. Aus einem ungünstigen Kräfteverhältnis kann man nicht nach Belieben heraustreten. Welche Politik könnte man von der Sowjet-Regierung in Bezug auf das faschistische Deutschland erwarten oder verlangen? Den Abbruch der Beziehungen? Den Boykott? Diese Maßnahmen hätten Sinn nur als Vorbereitung kriegerischer Handlungen. Eine derartige Perspektive wiesen wir vor zwei Jahren, aber nicht isoliert, sondern in enger Verbindung mit einem gründlichen Wechsel der Politik in der UdSSR und in Deutschland, d.h. rechnend mit einer Kräftigung des Arbeiterstaates und des deutschen Proletariats. Die Entwicklung ging den entgegengesetzten Weg. Heute, unter den Bedingungen der Niederschlagung der deutschen Arbeiter und der Schwächung des Sowjetstaates, würde ein Kurs auf den revolutionären Krieg reinstes Abenteurertum sein.

Ohne einen solchen Kurs, d.h. ohne die unmittelbare Vorbereitung eines revolutionären Krieges und des Aufstandes in Deutschland, würde der Abbruch der diplomatischen Beziehungen und der wirtschaftliche Boykott bloß eine kraftlose und jämmerliche Geste darstellen. Wohl würde das Ausbleiben russischer Aufträge in Deutschland die Arbeitslosenziffer ein wenig erhöhen. Aber fehlte es der Revolution etwa bisher an Arbeitslosen? Gefehlt hat eine revolutionäre Partei und eine richtige Politik. Jetzt fehlt dies doppelt. Wir können die Frage, wem eine wirtschaftliche Belebung in Deutschland unmittelbar helfen würde – dem Faschismus oder dem Proletariat – hier ununtersucht lassen. Klar ist, dass die allgemeine Frage der Konjunktur nicht durch die Sowjetaufträge gelöst wird. Dagegen würde andererseits der Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland der Sowjetwirtschaft einen schweren Schlag versetzen und infolgedessen den Arbeiterstaat noch mehr schwächen.

Wiederholen wir: Die Stalinsche Fraktion trägt die ganze und direkte Verantwortung für den Zusammenbruch der chinesischen Revolution, die Niederschlagung des deutschen Proletariats und die Schwächung des Sowjetstaates. Auf dieser Grundlinie muss auch der Kampf mit ihr geführt werden. Die Weltarbeiterbewegung muss von dem Aussatz des Stalinismus gesäubert werden. Aber zu kämpfen ist gegen die Wurzeln der Krankheit und nicht gegen ihre Symptome oder die unvermeidlichen Folgen.

Als Marxisten bleiben wir im Kampf mit dem bürokratischen Zentrismus auf dem Boden des revolutionären Realismus. Wenn die Bolschewiki-Leninisten (Linke Opposition) sich heute an der Spitze des Sowjetstaates befänden, so würden sie gezwungen sein, in ihren unmittelbaren praktischen Handlungen auszugehen von jenem Kräfteverhältnis, das sich als Ergebnis der Epigonenpolitik eines Jahrzehnts herausgebildet hat. Sie wären insbesondere gezwungen, die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Hitler-Deutschland aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig würden sie die Revanche vorbereiten. Das ist eine große und langwierige Aufgabe, die nicht mit einer demonstrativen Geste zu lösen ist, sondern einen gründlichen Wechsel der Politik auf allen Gebieten erfordert.

Prinkipo, 12. Mai 1933

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