Leo Trotzki‎ > ‎1933‎ > ‎

Leo Trotzki 19330319 Brief an einen österreichischen Genossen

Leo Trotzki: Brief an einen österreichischen Genossen

[Nach der Broschüre Österreich an der Reihe, Herausgegeben von der Linksopposition der KPÖ (Bolschewiki-Leninisten), April 1933, S. 14 f.]

Prinkipo, den 19. März 1933.

Lieber Genosse

Otto Bauer ruft auf, die Demokratie zu verteidigen, mit dem Argument, Hermann Müller sei besser als Adolf Hitler. Das sieht so aus, als ob dem österreichischen Arbeiter jemand die Wahl freistellte zwischen Hermann Müllers Macht und Hitlers Diktatur. Diese Fragestellung ist höchst charakteristisch für die schematische, passive, unfruchtbare, immer Versteck spielende politische Art Otto Bauers und Konsorten. Was heißt konkret, heute in Österreich die Demokratie zu verteidigen: das heutige Chaos der sich bekämpfenden und neutralisierenden Kräfte? Die Macht der Christlichsozialen, die dieses Chaos erhält und krönt? «Die Demokratie verteidigen» heißt heute in Österreich, den Dollfuß und das Dollfuß-Chaos zu verteidigen. Aber das ist ja die unmöglichste, die phantastischste Politik, die es überhaupt geben kann. Die Demokratie in Österreich muss man nicht verteidigen{ sondern ;auf eine neue Basis stellen. Man muss sie von neuem schaffen, man muss sie erobern: und das kann geschehen nur durch die Eroberung der Macht durch das Proletariat. Das würde Österreich sogleich zum Repräsentanten aller revolutionären, fortschrittlichen, treibenden Kräfte der deutschen Nation in allen ihren Teilen machen. Eine gigantische geschichtliche Rolle, die natürlich Schwierigkeiten, aber auch unabsehbare Möglichkeiten in sich birgt.

Die passiv-drohende, abwartend-sträubende Politik der österreichischen Sozialdemokratie ist nichts anderes als die Wegbereitung der faschistischen Herrschaft. Darin besteht ja vom kapitalistischen Standpunkt aus die Existenzberechtigung der faschistischen Diktatur, dass die Arbeiterklasse den in die geschichtliche Sackgasse geratenen Kapitalismus durch ihre Opposition noch mehr schwächt, zermürbt, paralysiert, aber sich selber unfähig erweist, sich der Gewalt zu bemächtigen und dem Volke aus Chaos und Fäulnis einen Ausweg zu eröffnen. Durch ewige Opposition, die unter den jetzigen Verhältnissen wie Sabotage aussieht, provoziert man den Klassenfeind und stößt ihm immer neue Schichten und Gruppen zu. Durch revolutionäre Abstinenz verleiht man ihm Mut zum endgültigen Entschluss: Biegen oder brechen. Dies ist die heutige Lage in Österreich. Sie kann höchstens Monate dauern. Dann wird die Herrlichkeit heraus gefegt und Otto Bauer wird irgendwo in Paris oder in London in Zeitungsartikeln beweisen, dass Österreich unter dem Kanzler Renner doch besser war als Österreich unter den Faschisten. Und das alles wird als Verteidigung der Demokratie ausgegebenen!

Mit kommunistischen Grüßen

Ihr L. Trotzki.

Kommentare