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Leo Trotzki 19330804 Brief an J. Neergaard

Leo Trotzki: Brief an J. Neergaard

[Nach der maschinenschriftlichen Abschrift, Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 269, International Institute of Social History, Amsterdam.]

4. August 1933

Lieber Genosse Neergaard!

Ich erinnere mich Ihrer sehr gut und freue mich, dass Ihre Verbindung mit unseren Gesinnungsgenossen nicht abgebrochen ist.

Nun zu Ihren Fragen.

Ist es möglich, eine Massenbewegung von Mittelständlern für die sozialistische Revolution zu schaffen, und wenn ja, muss man dann andere Agitationsmethoden und Kampfmittel heranziehen?“

Die Wirkung einer proletarischen Partei auf den Mittelstand (besser gesagt, auf die unterdrückten, ärmeren, halbproletarischen Schichten des Kleinbürgertums) ist, mathematisch gesprochen, nur eine „Funktion“ ihrer Wirkung auf die Arbeiterklasse. Wenn es der revolutionären Partei gelingt, die Mehrheit des Proletariats um sich zu scharen, so hat sie, aber auch nur unter diesen Bedingungen, die besten Aussichten, auch die unteren Schichten des Kleinbürgertums mitzureißen, die mittleren Schichten zu neutralisieren, und die oberen Schichten, zusammen mit der Großbourgeoisie, zu isolieren.

Es handelt sich dabei in erster Linie um die richtige programmatische Einstellung zum Kleinbürgertum innerhalb des Proletariats selbst, d.h.: was werden die Arbeiter mit dem Bauerntum (beziehungsweise mit den verschiedenen Schichten des Kleinbauerntums) anfangen, wenn wir an der Macht sind? Dasselbe in Bezug auf die Kleingewerbetreibenden, Händler, Angestellten usw. 1Die Privat- und Staatsbeamten sowie die freien Berufe sind hierarchisch sehr gegliedert. Die unteren Schichten der Industrie- und Handelsbeamten werden öfters von einer mächtigen Arbeiterbewegung mitgerissen, was die höheren Schichten, Staatsbeamten und freien Berufe betrifft, so sind sie gewöhnlich weniger zugänglich. Nur wenn man die produktiven Schichten des Kleinbürgertums gewinnt, kann man die Stehkragenkaste zersetzen, die einen gewinnen, die anderen neutralisieren, die dritten isolieren.

Nur wenn das Proletariat selbst diese Fragen klar erkennt, können die großen Massen des ländlichen und städtischen Kleinbürgertums ihre Hoffnungen auf das Proletariat übertragen. Die Fragen der Agitationsmethoden sind natürlich nicht ohne Bedeutung, aber spielen doch eine untergeordnete Rolle. Denn wenn man etwas klar erkennt und wenn diese Erkenntnis der Wirklichkeit entspricht, so findet man immer die Mittel, das Erkannte den Interessierten zugänglich zu machen. Dies alles setzt aber eine richtige Politik der Partei in Bezug auf das Proletariat selbst voraus. Denn nur das selbstbewusste, kräftig vorwärts schreitende Proletariat kann den ewig schwankenden kleinbürgerlichen Schichten Respekt einflößen.

Mit revolutionärem Gruß

Kopien abgegangen für das IS, eb, Jungclas, Prag (UWleute)

1Der folgende hintere Teil des zweiten Absatz ist handschriftlich markiert und per Pfeil an den Anfang geschoben.

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