Leo Trotzki: Brief an Jakob Walcher [Nach dem maschinenschriftlichen Text in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 365, International Institute of Social History, Amsterdam] 26. August 1933 Lieber Genosse Walcher! Ihr Bericht über unsere Verhandlungen scheint mir genügend objektiv zu sein. Die notwendigen Ergänzungen werde ich nicht einfach „zu Protokoll geben“, sondern im Laufe der Zeit machen, wenn es sich um eine aktuelle Frage handeln wird, und zwar im Briefwechsel. Was den NAP betrifft, so glaube ich, dass Sie und besonders manche Ihrer Genossen den Weg betreten, auf dem Sie den Feind, oder wenigstens den Gegner, nicht gewinnen, sondern manchen Freund verlieren können. Das geschieht ziemlich oft, wenn man sich nicht von fundamentalen Tatsachen und Richtungen, sondern von konjunkturellen Stimmungen und rein organisatorischen Erwägungen leiten lässt. Sie sprechen immer von der norwegischen Partei „wie sie ist" und „wie sie sein soll“. Ich kenne nur die erste. Die zweite ist ein Produkt des frommen Wunsches. Dass die norwegischen Arbeiter viel „radikaler" sind als die Partei, ist keine Ausnahme, sondern bei reformistischen Parteien die Regel. Dass die norwegische Partei die Partei der Klasse ist, bezieht sich ebenso gut auf die austromarxistische oder die belgischen Partei. Soll ich in meinen Erwägungen die österreichische Partei „wie sie ist“ ersetzen durch die österreichische Partei „wie sie sein soll", und mit dem Produkt meiner Wünsche ein Bündnis abschließen? Die neueste Entwicklung hat wiederum bewiesen dass Parteien mit einer gewissen Vergangenheit und mit einem festen „Apparat" sehr harte Realitäten sind, und dass man sie eben so „wie sie sind“ und nicht so wie wir sie haben möchten, nehmen muss. Durch die völlig falsch eingeschätzte Verbindung mit dem NAP sind Sie im Begriff, die Mot Dag zu verlieren. Mot Dag ist aber die einzige Gruppe, die Sie in Norwegen haben. Diese Gruppe ist bei weitem nicht „intransigent". Es ist ihr aber gar nicht gelungen, die NAP „wie sie ist" zu beeinflussen. Eine der Ursachen, so glaube ich wenigstens, ist die Zugehörigkeit der NAP zu der Arbeitsgemeinschaft, die Tranmæl & Co zu nichts verpflichtet, sie aber vor den norwegischen Arbeitern auf internationalem Gebiete deckt und beschützt. Glauben Sie etwa, dass Ihnen in Paris diejenige Einwirkung auf Tranmael gelingt, die aus Oslo bisher gar nicht gelang? Nein, in Paris ist es nur leichter sich über Oslo Illusionen zu machen als in Oslo selbst. Wenn man die Pariser Diskussionen der Zweiten Internationale verfolgt, so sieht man, dass verschiedene Parteien und Fraktionen im Begriff sind, den Weg der 2½ Internationale zu beschreiten. Der Unterschied zwischen der NAP und der österreichischen oder der amerikanischen Partei ist national-konjunkturell, nicht grundsätzlich. Der Bruch mit der NAP wird umso brutaler sei, je weniger Klarheit man rechtzeitig in diese Frage gebracht hat. Es
ist unklug – schreiben Sie, – der Entwicklung vorauszueilen. So?
Es schien mir aber, dass die Aufgabe der Avantgarde – und wir
sollten ja nichts anderes als die Avantgarde der Avantgarde sein –
derin besteht, der Entwicklung vorauszueilen, ihr den Weg zu zeigen.
Tranmæl
geniert sich nicht, nicht nur die Mot Dag mit einer verächtlichen
Bewegung zur Seite zu schiebe, sondern auch nicht, das Bündnis mit
der Kilbompartei als nicht wünschenswert zu bezeichnen. Warum sollen
wir nicht Offenheit gegen Offenheit setzen? Warum sollen wir uns
durch Verschweigen an die bewusst opportunistische Politik anpassen?
Tranmæl
spricht so offen, weil er ein Interesse daran hat, das Vertrauen der
dänischen und der schwedischen Sozialdemokratie zu gewinnen. In
diesem Sinne ist seine Politik, die der Entwicklung (dem Bruch mit
uns) vorauseilt, ganz klug. Die Politik, die manche Genossen Ihrer
Partei vorschlagen, ist aber nicht klug, weil sie durch ihre
unbeholfene diplomatische Anpassung an den Gegner den Stalinisten und
Brandlerianern die mächtigsten Waffen in die Hand geben, die Linke
Opposition von sich abstoße, die Mot-Dag-Gruppe verlieren, die Lage
der Kilbompartei erschweren und nichts, aber auch absolut nichts
gewinnen werden. Es ist keine taktische Frage, sondern ein grundsätzliche. Was manche Genossen auf diesem Gebiet gegen uns vorbringen, das sind eben die schlimmsten Seiten des alten „Trotzkismus". Alle diese Argumentationen habe ich vor drei Jahrzehnten gegen Lenin mehr als einmal mündlicher und schriftlicher entwickelt. Ich habe damals auch den Unterschied machen wollen zwischen dem Menschewismus oder seinem linken Flügel „wie es ist" und wie es nach meinen Berechnungen „sein sollte", und ich habe Lenins Zersetzungsarbeit als schädlich betrachtet. Übrigens sind Marx und Engels ihr Leben lang von allen anderen Gruppen als „zersetzender Faktor" aufgefasst worden, auch Lenin … bis zum Sieg, wo man seinen Opportunitätssinn zu preisen begann, ohne die langwierige und schwere Auslese- und Erziehungsarbeit richtig verstanden zu haben. Die Schule Marx-Engels-Lenin ist gut genug, damit wir alle aus ihr lernen. Die Frage der Maurin-Gruppe. Mir scheint, dass die Einberufer der Konferenz die Pflicht hatten, ein grundlegendes Dokument der Maurin-Gruppe allen in Aussicht genommenen Teilnehmern zu übermitteln. Es ist doch ein absolut unmöglicher Zustand, wenn so ein altes Mitglied der Arbeitsgemeinschaft wie Sie aus einer zufälligen Nummer der PUPistenzeitschrift bei mir erfahren, dass die Leute Wels mit Manuilski „verschmelzen“ möchten. Auch Genosse de Kadt war in dieser Frage absolut nicht im Bilde. Die erste Plattform, die Maurin aufgestellt hat – ungefähr vor drei Jahren – war ein Gemisch vollständig im Geiste des „wahren Sozialismus“ des Jahres 1847. Wie weit ist Maurin seither gegangen? Ich habe keine Ahnung. Ich befürchte aber, dass die Einberufer der Konferenz sich in derselben Lage befinden. Dass Maurin gegen die Beteiligung der Pupisten scharf auftritt, macht ihm Ehre. Dass er aber den Verdacht ausspricht (so teilt man mir wenigstens mit): ich sei der eigentliche Verteidiger und „Einladende“ hinsichtlich der PUPisten, beweist, dass der liebe Mann in einer ganz verkehrten Welt sich bewegt. Wir haben mit Genossen de Kadt jedenfalls daran unser Vergnügen gehabt; die Nachricht, ich bestehe auf der Einladung der PUPisten ist gerade in dem Augenblick per Post eingetroffen, als ich – nicht in den mildesten Worten des politischen Vokabulars – vor Genossen de Kadr darauf bestand, dass man die PUPisten mit einem Besenstrich hinwegfege. gez.1
1Gezeichnet mit einem Buchstaben, der nicht genau zu erkennen ist, möglicherweise „G.“ für Gurow |
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