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Leo Trotzki 19330409 Der Zusammenbruch der deutschen Kommunistischen Partei und die Aufgaben der Opposition

Leo Trotzki: Der Zusammenbruch der deutschen Kommunistischen Partei und die Aufgaben der Opposition

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr. 4 (Anfang Mai 1933), S. 5 f.]

Die Frage über das Schicksal des deutschen Kommunismus steht gegenwärtig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller unserer Sektionen. Soweit es sich übersehen lässt, neigt die Mehrheit der Genossen dazu , dass in Deutschland die Frage des Kommunismus die Frage einer neuen Partei ist. Manche erachten jedoch eine solche Fragestellung für unrichtig und schlagen vor, die alte Losung aufrechtzuerhalten: die „Wiedergeburt" der Partei auf Leninscher Grundlage. In diesem Sinne äußern sich z.B. zwei spanische Genossen, zwei deutsche Genossen, die im Namen ganzer Gruppen sprechen, und ein russischer Genosse. Ich bezweifle nicht, dass ihre Einwände die Stimmungen eines ziemlich bedeutenden Teiles der Opposition widerspiegeln. Es wäre widernatürlich, wenn die Notwendigkeit einer so ernsten Wendung in unserer Mitte keine Nuancen und Meinungsverschiedenheiten hervorriefe. Es wäre der Linken Opposition unwürdig, wenn wir uns als unfähig erwiesen, genossenschaftlich und sachlich die entstandenen Differenzen zu beurteilen. Das Resultat der Diskussion kann nur eines sein: weiteres Wachstum der Opposition und Stärkung der inneren Demokratie.

Was die Einwände selbst ihrem Wesen nach anbetrifft, so kann ich mit ihnen nicht übereinstimmen, wenn ich sie auch psychologisch zu begreifen vermag. Der Fehler der oben erwähnten Genossen besteht darin, dass sie von den gestrigen Formeln und nicht von den heutigen Tatsachen ausgehen. Man muss verstehen, die Formeln im Lichte neuer Ereignisse zu korrigieren und zu ersetzen.

Im Verlaufe der letzten drei Jahre hatten wir unsere Berechnungen darauf gebaut, dass die deutsche Kommunistische Partei unter dem Druck der Massen noch dazu kommen werde, rechtzeitig ihre Politik zu ändern. Um unsere gestrige Prognose zu präzisieren, kann man sie mit folgenden Worten ausdrücken: „Wir können noch nicht wissen, wie weit die deutsche Arbeiterklasse durch die vergangenen Fehler, Zickzackwendungen und Niederlagen geschwächt ist und wie weit die Sabotage der Stalinschen Bürokratie zusammen mit den Kapitulationen der Sozialdemokratie die Energie des Proletariats gelähmt hat." Wir haben nicht nur einmal die Hoffnung geäußert, dass gerade das Herannahen der faschistischen Gefahr die proletarischen Reihen schließt und einen Widerstand gebiert, der es Hitler nicht gestattet, alle Positionen auf einmal zu erobern. Und jede Verzögerung in dem Antritt Hitlers, sogar wenn er schon an der Macht gestanden wäre, hätte bei den Arbeitern unvermeidlich eine Zunahme der Überzeugung hervorrufen müssen. Der Beginn des Bürgerkrieges hätte seinerzeit eine Scheidung im Regierungslager und in der faschistischen Armee selbst hervorrufen müssen. Schwankungen im Lager des Feindes wiederum hätten die Angriffskraft des Proletariats steigern müssen, usw. So war die dialektische Perspektive, die wir für wahrscheinlich, möglich, zumindest nicht für ausgeschlossen hielten. Eben darum mussten wir, waren wir verpflichtet, alle Möglichkeiten zu erschöpfen, die in der gestrigen Lage enthalten waren.

Jedoch wäre es sinnlos, sich von der alten Perspektive leiten zu lassen, jetzt, da wir schon ihre Überprüfung durch die Ereignisse hinter uns haben. Die spanischen Genossen fragen: „Haben diese wenigen Wochen wirklich die Perspektive langer Monate auf Bürgerkrieg abgelöst?" Natürlich haben sie sie abgelöst. Wenige Wochen, ja sogar Tage haben die Möglichkeit jener günstigeren Variante völlig zerstört, auf die wir gerechnet hatten. Hitler hat den materiellen Machtapparat erobert. Er hat ohne den geringsten Widerstand den Apparat der Kommunistischen Partei vernichtet, die deutschen Arbeiter der Presse beraubt, die Reformisten veranlasst, mit der Zweiten Internationale zu brechen und sich dem faschistischen Regime unterzuordnen.

Die jähe Wendung der Lage enthüllt sich klar an der Frage der Einheitsfront. Gegenwärtig in Deutschland die Einheitsfront zwischen zwei Parteien vorzuschlagen wäre eine doktrinäre Dummheit. Es gab eine Periode, wo sich der sozialdemokratische Apparat unter dem Druck des heranziehenden Faschismus einerseits, unter dem Drucks der eigenen Massen andererseits befand, – diese Zeit musste ausgenutzt werden. Nun, nach der Niederlage, leckt die Sozialdemokratie Hitlers Stiefel und sieht darin die einzige Möglichkeit der Rettung. Wenn vor zwei Jahren Breitscheid es für notwendig erachtete, die Bourgeoisie mit einem Block mit den Kommunisten zu schrecken, so sind Wels und Co. jetzt daran interessiert, sich demonstrativ nicht nur von den Kommunisten, sondern auch von der Zweiten Internationale abzuwenden. Der Vorschlag der Einheitsfront würde gegenwärtig das kommunistische ZK nur in eine lächerliche Lage versetzen und der sozialdemokratischen Parteileitung einen Dienst erweisen. Die Politik kennt keine absoluten Formeln. Ihre Losungen sind konkret, d.h. zeitlich an bestimmte Umstände gebunden.*

Der deutsche Durchschnittsarbeiter, einschließlich auch des Durchschnittskommunisten, fühlt sich heute wie ein Seefahrer, der einen Schiffbruch erlitten hat; in den Wellen des Faschismus sind seine Organisationen, seine Presse, seine Hoffnungen auf eine bessere Zukunft untergegangen. Der Sinn des Schiffbrüchigen ist jetzt nicht darauf gerichtet, ein neues Schiff zu bauen, sondern darauf, Unterkunft und ein Stück Brot zu erlangen. Eine gedrückte Verfassung des Geistes und politische Indifferenz sind unvermeidliche Folgen so gewaltiger Katastrophen. Aber das politische Erwachen der Widerstandsfähigsten, Beharrlichsten und Tapfersten wird unausbleiblich mit dem Gedanken an ein neues Schiff verknüpft sein.

Für die Kennzeichnung der jetzigen Lage in der Masse des deutschen Proletariats am wichtigsten halte ich die Mitteilung, dass in der Mehrzahl der Betriebe die alten Betriebsräte abgesetzt und durch Nazi-Zellen ersetzt wurden. Diese „Reform" ist derart geräuschlos vor sich gegangen, dass die ausländische Presse sie nicht einmal vermerkt hat. Indessen handelt es sich hier nicht um Redaktionen von Zeitungen, nicht um das Liebknecht-Haus, nicht einmal um eine parlamentarische Fraktion, d.h. um ferne Spitzen, sondern um die eigentliche Produktionsbasis des Proletariats, um den Betrieb. Das Fehlen eines Widerstandes bei der Absetzung der Betriebsräte bedeutet eine ernste Lähmung des Willens der Massen unter dem Einfluss des Verrats und der Sabotage der Spitzen.

Die Kommunistische Partei hat im vergangenen Jahr an sechs Millionen Stimmen auf sich vereinigt. Indessen hat sie zum Kampfe nicht einmal Hunderttausende hinter sich bekommen. Nicht einmal die Parteimitglieder haben auf die Rufe des ZK reagiert. Schon allein diese Tatsache erschließt die furchtbare Isoliertheit des Apparates. Diese Isolierung wird mit jedem Tag wachsen. Die Massen interessieren sich nicht für Schattierungen und Kleinigkeiten. Sie reagieren auf die Ereignisse im Großen. Die Massen werden unvermeidlich einer Partei den Rücken kehren, die mit leeren Formeln ihre Besorgnisse zu verscheuchen suchte, mit künftigen Siegen prahlte und bis in die Katastrophe hineinführte.

Die Lage der deutschen Kommunistischen Partei hat sich im Laufe der zwei, drei Wochen des März so radikal geändert, wie sie sich in „normalen", „friedlichen" Zeiten hätte nicht im Laufe von zwei Jahrzehnten verändern können. Die imperialistische Epoche ist überhaupt die Epoche jäher Wendungen. Man muss es verstehen, sie aufmerksam zu verfolgen, um nicht zu stolpern und sich den Schädel einzuschlagen. Man darf sich nicht selbst täuschen, es ist notwendig, sich volle Rechenschaft abzulegen über die Ausmaße der Katastrophe, – nicht dazu natürlich etwa, um in weinerliche Niedergeschlagenheit zu verfallen, sondern um nach einem neuen Plan auf neuer geschichtlicher Basis eine langwierige und zähe Arbeit zu beginnen.

Fast alle Opponenten erheben Einspruch gegen die Gegenüberstellung des 1. August 1914 und des 5. März 1933: Die Sozialdemokraten hätten das Proletariat bewusst verraten und sich damit der Macht genähert, die Stalinisten dagegen hätten es nur „nicht verstanden", das Proletariat zu verteidigen, und seien dafür in die Kerker geraten. Dieser Unterschied ist natürlich sehr wesentlich, und er ist nicht zufällig. Aber seine politische Bedeutung zu übertreiben, ist dennoch nicht am Platze. Erstens wollte die Mehrheit der Sozialdemokratie 1914 nicht Karriere machen, sondern die proletarischen Organisationen „retten", wie auch die Führer der KPD, indem sie sich blind dem Kommando der Moskauer Bürokratie unterordnen, vor allem um ihren Apparat bekümmert sind. Zweitens: Wenn die Sozialdemokratie sich 1914 der Regierungsgewalt näherte, so näherte sie sich 1933, ungeachtet aller ihrer Niederträchtigkeiten und Selbsterniedrigungen, dem Kerker. Man braucht nicht zu zweifeln, dass sie letzten Endes der Vernichtung unterworfen und ihre Matteottis haben wird; ändert das aber vielleicht etwas an unserer allgemeinen Einschätzung der reformistischen Politik?

Wir bezichtigen den Apparat der KPD nicht der „Dummheit" oder der „Unfähigkeit" (wie sich vollkommen unrichtig manche Genossen ausdrücken), sondern des bürokratischen Zentrismus. Es geht um eine bestimmte politische Richtung, die sich auf eine bestimmte soziale Schicht, vor allem in der UdSSR, stützt und ihre Politik den Erfordernissen dieser Schicht anpasst. Bis zu den letzten Ereignissen blieb die Frage, welchem Faktor sich die KPD unterordnet: den Interessen der Stalinschen Bürokratie oder der Logik des Klassenkampfes, noch offen. Jetzt ist diese Frage zur Gänze entschieden. Wenn Ereignisse von so grandioser Bedeutung nicht imstande waren, die Politik der KPD zu korrigieren, so bedeutet das, dass vom Bürokratischen Zentrismus nichts mehr zu erhoffen ist. Von hier aus ergibt sich auch die Notwendigkeit einer neuen Partei.

Aber die Frage wird doch im internationalen Maßstab entschieden, widersprechen die Opponenten, die einen richtigen historischen Gedanken in eine überhistorische Abstraktion verkehren. Die Frage vom Sieg des Proletariats – nicht nur seine Zertrümmerung – wird auch im internationalen Maßstabe entschieden. Das hat nicht verhindert, dass das Proletariat in Russland, das 1917 siegte, noch immer auf den Sieg in anderen Ländern wartet. Auch der umgekehrte Prozess kann sich ebenso ungleichmäßig entwickeln: Während in Deutschland die offizielle Kommunistische Partei politisch liquidiert ist, wurde sie in anderen Ländern und vor allem m der UdSSR noch nicht der entscheidenden Prüfung unterworfen. Die geschichtlichen Ereignisse entfalten sich ohne Rücksicht auf das Schachbrett der Komintern.

Aber trägt die Verantwortung für die deutsche Niederlage nicht immerhin die Komintern? Vollkommen richtig. Aber vor dem Gerichte der Geschichte wie auch vor dem gewöhnlichen bürgerlichen Gericht verantwortet sich in der Regel nicht, wer die prinzipielle Verantwortung trägt, sondern wer erfasst wurde. Jetzt ist, ach, in die Zange der Geschichte gerade der Apparat der KPD geraten. Die Strafen erscheinen hier wirklich „ungerecht" verteilt. Aber die Gerechtigkeit ist überhaupt kein Attribut des geschichtlichen Prozesses. Und Berufung gibt es hier nicht.

Doch werden wir uns über das Gericht der Geschichte nicht beklagen – es ist immerhin weit ernsthafter als das bürgerliche Gericht. Die Liquidierung der KPD ist nur eine Etappe. Dabei wird es nicht bleiben. Wenn sich die anderen Sektionen der Komintern die deutsche Erfahrung zu eigen machen, erwirken sie dadurch mit Recht die Nachsicht der Geschichte. Im entgegengesetzten Falle sind sie verurteilt. Der Gang der Entwicklung gibt auf diese Weise den anderen Sektionen noch Zeit zur Besinnung. Wir, die Linke Opposition, sind nur Ausleger des Ganges der Entwicklung. Deshalb brechen wir auch nicht mit der Dritten Internationale.

Aber wie kann man in Deutschland eine neue Partei gründen, ohne mit der Komintern zu brechen, wenden jene ein, die doch nur die Widersprüche der geschichtlichen Entwicklung veranlassen möchten, sich in den Rahmen von Statuten einzuordnen. Wir müssen gestehen, diese Seite der Frage scheint uns am unwesentlichsten. War doch auch damals, als wir uns, aus der Komintern ausgeschlossen, als ihre Fraktion erklärten, die Sache mit den Statuten nicht auf der Tagesordnung. Die Frage dreht sich für uns um den politischen Kurs und nicht um die Buchhaltung Pjatnizkis. Wenn irgendeine Sektion der Komintern noch dazu kommt, sich auf einer gesünderen Grundlage umzugestalten, werden wir uns, wie sich versteht, auf diese Position stützen, um die Umgestaltung der ganzen Komintern zu beschleunigen; wir werden dann dabei auch zu den Statuten das beste Verhältnis herstellen. Wenn aber die Stalinsche Bürokratie die UdSSR bis zum Zusammenbruch führt, so wird niemand der Statuten gedenken – es wird die Vierte Internationale zu schaffen sein.

Kehren wir jedoch zu Deutschland zurück. Noch in den ersten Märztagen bedeutete die KPD: ein zentralisierter Apparat, Dutzende von Zeitungen, Zehntausende Mitglieder, Millionen Wähler. Wir bekannten uns als Teil dieser Partei und nahmen damit für die Partei im Ganzen vor der gesamten Öffentlichkeit die Verantwortung auf uns, natürlich nicht wegen des Stalinschen Apparates, sondern wegen der mit ihm verknüpften unteren Zellen. Mit ihrer Hilfe hofften wir rechtzeitig, d.h. vor der Katastrophe, die Parteiführung zu erneuern. Gegenwärtig, da der offizielle Apparat, mit Ultimatismus und Illegalität beladen, sich endgültig in eine Stalinsche Agentur verwandeln muss, kann auch nicht die Rede sein von einer Einwirkung auf ihn durch die unteren Einheiten, von denen er völlig losgelöst ist.

Freilich, die Stalinsche Presse in der ganzen Welt spricht von einer „Wiedergeburt" der deutschen Kommunistischen Partei in der Illegalität (illegale „Rote Fahne", Aufrufe usw.). Dass die örtlichen Organisationen nach einer vorübergehenden Erstarrung sich wieder zu regen beginnen werden, war im Voraus klar. Dass der Apparat einer so großen Partei, die über vielköpfiges Personal und Geldmittel verfügt, unterirdisch oder halblegal eine bedeutende Menge von Literatur herauszugeben vermag – auch darin ist nichts Unerwartetes. Aber nochmals muss wiederholt werden: Irgendeinen illegalen, mit den Massen verbundenen Apparat hat die KPD nicht, sondern es sind Reste der alten Organisation vorhanden, die sich durch den Willen Hitlers in der Illegalität erweisen. Das ist ganz und gar nicht ein und dasselbe. Wenn die KPD heute noch wirkt, so nur dank dem Umstande, dass der Faschismus an seine Henkerarbeit erst herangetreten und dass die Reaktion noch nicht tief genug in die Partei eingedrungen ist. Aber diese beiden Prozesse stehen auf der Tagesordnung. Sie werden parallel verlaufen, einander gegenseitig nährend und antreibend.

Für eine illegale kommunistische Organisation ist eine Auswahl von Leuten erforderlich, die die Ausmaße der Katastrophe erfasst haben, eine klare Perspektive besitzen und ihrer Fahne ergeben sind. Eine solche Auswahl kann nicht anders erfolgen als auf der Grundlage unversöhnlicher Kritik im Verhältnis zur Vergangenheit. Der Zerfall der Organisation der Stalinisten, an sich vollkommen unvermeidbar, wird Elemente ausscheiden und den Boden für die Schaffung einer illegalen revolutionären Partei freilegen.

Einer der deutschen Genossen wendet ein: „Politisch ist die Partei natürlich eine Leiche, aber organisatorisch lebt sie." Diese Formel deckt am besten die Fehlerhaftigkeit der Position meines Opponenten auf. Eine Partei, die politisch tot ist, kann keine „lebendige" Organisation haben, denn die Organisation ist nur ein Werkzeug der Politik. Wenn die Partei tot ist, so müssen wir diese Diagnose offen stellen, vor dem Antlitz der Arbeiter, mit allen notwendigen Schlussfolgerungen. Was für ein Teil des Nachlasses der alten Organisation zur neuen Partei übertritt, was für Formen diese Überführung haben wird, wie sich die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Gründern der neuen und den Resten der alten Organisation gestalten sollen – das alles sind ernste Fragen, auf die in Abhängigkeit von der Entwicklung der Gesamtlage wird geantwortet werden müssen. Aber damit die Antwort nicht falsch, nicht illusorisch sei, muss davon ausgegangen werden, was von der Geschichte unverrückbar festgestellt wurde: Politisch ist die Stalinsche Partei gestorben. Zweideutigkeiten und Ausflüchte sind nicht statthaft, sie würden uns nur selber vom Wege abbringen.

Derselbe Genosse schreibt: „Die Losung der Reformierung ist ohne Inhalt, denn gegenwärtig ist nicht bekannt, was und wie zu reformieren; aber wir sind ebenso gegen die Losung einer neuen Partei, denn wir halten nicht dafür, dass das Geschick der alten Partei endgültig entschieden ist." Ein Widerspruch häuft sich auf den anderen, ungeachtet dessen, dass ein aufmerksamer und begeisterter Genosse schreibt: „Wenn die Partei ,politisch tot' ist, bedeutet dies, dass ihr Geschick entschieden ist." In der Tat wird sie doch den Apparat nicht erneuern; er ist, wie die Erfahrung bezeugt, nur fähig, Lebendes zunichte zu machen, aber nicht, Totes wiederzubeleben. Wenn die Losung der Reform der alten Partei „inhaltslos" ist, dann bleibt nichts anderes als die Losung der neuen Partei.

Die Opponenten schreckt hauptsächlich die Frage des, gegenwärtigen Kräfteverhältnisses: Wir, die Bolschewiki-Leninisten, erklären als liquidiert eine große Organisation, die noch heute fähig ist, zehnmal mehr Literatur herauszugeben und tausendmal mehr Geld auszugeben als wir, und andererseits „proklamieren" wir namens der zahlenmäßig schwachen Linken Opposition eine neue Partei. Eine solche Fragestellung ist durch und durch von Apparatfetischismus durchtränkt. Unsere Hauptaufgabe ist heute – wie sie es gestern war –, Kader zu formieren. Aber das ist nicht eine bloße organisatorische, sondern eine politische Aufgabe: Kader formieren sich auf Grund einer bestimmten Perspektive. Die Losung der Reform der Partei aufzuwärmen heißt: bewusst ein utopisches Ziel zu stecken und dadurch unsere eigenen Kader neuen und immer schärferen Enttäuschungen entgegen zu stoßen. Bei einem solchen Kurs würde sich die Linke Opposition nur als ein Anhängsel der sich zersetzenden Partei erweisen und gemeinsam mit ihr von der Szene abtreten.

Einverstanden damit, dass die alte Partei liquidiert ist, und im Prinzip sogar die Unvermeidlichkeit der Schaffung einer neuen Partei anerkennend, setzt sich einer der Opponenten für einen Aufschub, für eine Art Moratorium ein. Seine Erwägungen tragen diesen Charakter: Nur 10 Prozent der Parteimitglieder, freilich die wertvollsten, sind kritisch gestimmt und horchen auf uns; die übrigen 90 Prozent, hauptsächlich die Neugeworbenen, haben die Fehler der Partei überhaupt noch nicht begriffen. Daraus folgt: Diesen 90 Prozent muss man Schritt für Schritt erläutern, was vor sich gegangen ist, und erst dann soll man schon eine neue Partei aufbauen. Das ist ein abstrakt-propagandistisches und nicht ein politisches – oder philosophisch gesprochen: ein rationalistisches und nicht dialektisches – Herangehen an die Frage.

Natürlich wäre es großartig, wenn wir die 90 Prozent junger Kommunisten in eine große Schule setzen und ihren einen ganzen Kurs von Wissenschaften bieten könnten. Nur sind diese 90 Prozent leider in die Schule von Hitler gekommen. Sie sind schon jetzt halb und halb nicht nur von der Partei, sondern von der Politik überhaupt losgelöst. Ein Teil wird zu den Faschisten gehen, ein größerer Teil wird – dem Indifferentismus verfallen. Diese Prozesse werden sich im Laufe der nächsten Wochen und Monate entwickeln – die Gegenrevolution arbeitet ebenso wie die Revolution rasch. Unter dem Einfluss des Zerfalls der Partei, des Abflauens der Massen, der politischen Unfruchtbarkeit des Apparats werden die besten Elemente der alten Partei sich und andere fragen: was jetzt tun? Ihnen in dieser Lage die Losung der „Reform" darzubringen, würde einfach ihrer Verhöhnung gleichkommen.

Im Moment des gewaltigsten Umschwungs darf man nicht von den rasch wechselnden Stimmungen der Parteimasse, sondern man muss von den objektiven Veränderungen ausgehen, die in der politischen Situation vor sich gegangen sind. Viele der Kommunisten, die sich heute noch fürchten, mit ihrer Bürokratie zu brechen, werden uns morgen beschuldigen, dass wir sie betrügen, indem wir die Fiktion der alten Partei unterstützen; von uns abgestoßen, werden sie sich zu den Brandlerianern oder den Anarchisten schlagen. Die Brandlerianer haben, wie verlautet, bereits die Losung einer neuen Partei aufgestellt; dies zeigt, dass sie, obwohl Opportunisten, doch Politiker sind.1 Wenn wir uns, bei unserer revolutionären Plattform, als Doktrinäre herausstellen, können uns die opportunistischen Politiker verdrängen.

Wie werden sich in der nächsten Periode unsere Beziehungen zur Stalinschen Organisation in Deutschland praktisch gestalten? Diese Frage interessiert natürlicherweise die Genossen am meisten. Sollen wir denn wirklich – fragen die Opportunisten – mit den Lokalorganisationen der alten Partei brechen? Nein, das wäre unsinnig. Wir müssen Revolutionäre in allen Arbeiterorganisationen werben und vor allem in den Zellen der alten Partei, soweit sie bestehen. Als die Dritte Internationale den völligen Bruch mit der Zweiten Internationale verkündete, hinderte das die meisten Kommunisten nicht, noch lange Zeit innerhalb der sozialdemokratischen Parteien zu arbeiten und sogar in der französischen Partei die Mehrheit samt der „Humanité" zu erobern. Umso weniger kann und darf unser Kurs auf die neue Partei uns daran hindern, die Arbeit in den Zellen der alten Partei fortzusetzen.

Aber, wendet man ein, die Losung der neuen Partei selbst wird die einfachen Kommunisten gegen uns aufbringen. Es versteht sich, dass Konflikte auf dieser Grundlage möglich sind; aber sie gab es ja auch in der Vergangenheit, ungeachtet der Losung der „Reform". Man braucht aber nicht zu zweifeln, dass im Leben der aktiven Zellen der alten Partei weit mehr Platz die Frage unserer weiteren Perspektive und die Frage des Verhältnisses zu ihrem eigenen ZK einnehmen wird. Hier kann man immer größere Konflikte erwarten. Das ZK wird Stalin und sich verteidigen, darin besteht seine vornehmlichste Berufung. Die Arbeiter-Kommunisten werden ehrliche Antworten und klare Perspektiven fordern. Solange wir auf der Position der Reform standen, forderten wir nicht zur Verletzung der Disziplin auf. Jetzt ändert sich die Lage scharf. Wir werden in den Zellen die Weigerung zur Verbreitung der unbrauchbaren offiziellen Literatur, den Boykott des Apparats, den Bruch mit dem ZK vorschlagen. Selbstverständlich werden wir dies alles mit Takt und Verständnis tun, ausgehend von dem Niveau jeder Zelle und den Umständen. Jedoch unsere grundlegende Linie wird die Linie auf eine neue Partei sein. Und so braucht kein Zweifel zu bestehen, dass ungeachtet dieser unserer Linie unsere Beziehungen zu den revolutionären Parteizellen in der neuen Lage, der Illegalität unvergleichlich kameradschaftlicher sein werden, als in der vorhergehenden Periode, da wir nur Fraktion sein wollten.

Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass es sich nicht nur um die Kommunistische Partei handelt. Der politische Zusammenbruch der Sozialdemokratie macht es sehr wahrscheinlich, dass aus ihrer Mitte eine neue „unabhängige" Partei auftaucht. Kann man nur für einen Augenblick damit rechnen, dass der Stalinsche Apparat fähig sein wird, die linke Sozialdemokratie auf seine Seite zu ziehen oder auch nur revolutionär auf sie einzuwirken? Das ist von vornherein ausgeschlossen. Durch ihren Ultimatismus wie auch durch ihre ganze Vergangenheit, von der sie sich nicht trennen wollen und können, werden die Stalinisten die Entwicklung der linken sozialdemokratischen Opposition nur bremsen, indem sie in den Diensten Wels' die Rolle eines Schreckgespenstes spielen werden. Auch unter diesem Gesichtspunkt drängt die Perspektive der neuen Partei gebieterisch auf die Tagesordnung.

Hinter der Mehrzahl der politischen und logischen Einwendungen verbirgt sich in Wirklichkeit eine unausgesprochene, sentimentale Erwägung: Der Stalinsche Apparat befindet sich unter den Schlägen des Faschismus, zahlreiche selbstlose und ergebene Kommunisten reiben ihre Kräfte auf, um die Organisation zu erhalten, – ist es unter solchen Umständen zulässig, die Kämpfer zu „entmutigen"? Letzten Endes lässt sich dieser Grund auf zwei Verse eines russischen Dichters hinaus: „Teurer als das Grauen bitterer Tatsachen sind uns erhebende Trugbilder". Aber die Philosophie Puschkins ist nicht die Philosophie des Marxismus. Als wir zu Beginn dieses Jahrhunderts den Kampf gegen die kleinbürgerlichen Illusionen und das Abenteurertum der Sozialrevolutionäre aufnahmen, brachen manche guten Seelen – nicht nur im Lager der Narodniki, sondern auch in unserer eigenen Mitte – empört mit der Leninschen „Iskra", die sich, man höre, erlaubt, rückhaltlos den Terror zu einer Zeit zu kritisieren, da die Terroristen in der Katorga enden. Wir antworteten: Das Ziel unserer Kritik besteht gerade darin, die revolutionären Heroen vom individuellen Terror abzubringen und auf den Weg des Massenkampfes zu führen. Der illegale Apparat, der Manuilski-Stalin angehängt wird, kann dem deutschen Proletariat nichts bringen als neues Verhängnis. Dies muss man offen und ohne Aufschub gerade deshalb sagen, um Hunderte und Tausende von Revolutionären vor fruchtloser Vergeudung der Kräfte zu bewahren.

Prinkipo, 9. April 1933

* Das Gesagte schließt natürlich auch heute nicht aus Übereinkommen kommunistischer und sozialdemokratischer Organisationen in den Betrieben, Stadtvierteln usw., wie auch Vereinbarungen mit den linken Gruppen, die sich unvermeidlich von der offiziellen Sozialdemokratie abspalten werden.

1 Unseres Wissens beruht dieser Satz auf einer falschen Information des Genossen Trotzki. Die KPD setzt sich weiter „die Eroberung der KPD“ zum Ziel. Die Red.

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