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Leo Trotzki 19330622 Deutsche Perspektiven

Leo Trotzki: Deutsche Perspektiven

[Nach Neue Weltbühne, 2. Jahrgang Nr. 30 und 31 (27. Juli und 3. August 1933), S. 920-923 und 954-958]

Nach einem Brand ist es schwer, sich wieder einzurichten; es ist noch schwerer, nach einer großen politischen Niederlage seinen Weg neu zu bestimmen. Parteien geben sich ungern geschlagen, besonders dann, wenn ein gut Teil Schuld an der Niederlage ihnen selbst zukommt. Je größer das Ausmaß der Niederlage, um so schwerer ist es für das politische Denken, neue Stellungen zu beziehen, eine neue Perspektive auszuarbeiten, um ihr Richtung und Tempo der ferneren Arbeit unterzuordnen.

Die Geschichte des Kriegswesens und die des revolutionären Kampfes kennen eine große Zahl nachträglicher Niederlagen, die deshalb kamen, weil die Führung – das Ausmaß der grundlegenden Niederlage nicht erkennend – versuchte, sie mit zeitlich deplatzierten Attacken zu verdecken. Im Krieg führen derartige Versuche zur Massenvertilgung lebendiger Streitkraft, die schon durch die vorangegangenen Misserfolge moralisch untergraben wurde. Im revolutionären Kampf fallen als Opfer von Abenteuern die mutigsten, kampfbereitesten Teile, die bereits durch die vorangegangene Niederlage von den Massen losgerissen sind.

Die Entschlossenheit, einen Angriff bis zu Ende zu führen, die Fähigkeit, rechtzeitig eine Niederlage zu erkennen und den Rückzug anzutreten, das sind zwei untrennbare Seiten einer reifen Strategie. Solche Paarung findet man selten. Es hat in der Geschichte keine größere Niederlage der Revolution gegeben, nach der nicht zumindest ein Teil der Führer versucht hätte, in Widerspruch zur veränderten Lage zum Vormarsch zu rufen. Nach der Revolution von 1848 grenzten sich Marx und Engels schroff von jenen Emigranten ab, die über die Niederlage als über eine zufällige Episode einfach hinweg schreiten wollten. Nach dem Sieg des Zarismus über die Revolution von 1905 sah sich Lenin gezwungen, mit jenem Teil seiner Gesinnungsgenossen zu brechen, der wie zuvor Kurs auf den bewaffneten Aufstand halten wollte. In der Fähigkeit, bei jedem Umschwung der Ereignisse schnell umzurüsten, besteht überhaupt die Qualität der marxistischen Schule des revolutionären Realismus.

Die heutige Katastrophe in Deutschland ist zweifellos die bedeutendste Niederlage in der Geschichte der Arbeiterklasse. So unaufschiebbar jetzt eine scharfe Wendung der Strategie ist, so stur ist andrerseits die Parteibürokratie. Sie nennt „Defätisten" nicht jene, die die Niederlage herbeiführten – sonst müsste sie sich selbst nennen – sondern jene, die aus der Tatsache der Niederlage die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Der Kampf, der heute um die Perspektive der politischen Entwicklung Deutschlands entbrennt, besitzt außerordentliche Bedeutung für das Schicksal Europas und der ganzen Welt.

Die Sozialdemokratie lassen wir in diesem Zusammenhang beiseite: Das Verfaulen dieser Partei wird ihr sogar für Manöver des bürokratischen Prestiges keine Möglichkeit lassen. Die Führer wagen nicht einmal so zu tun, als hätten sie Gedanken und Pläne. Nachdem sie endgültig den Kopf politisch verloren haben, ist ihre Sorge jetzt darauf gerichtet, ihn physisch zu retten. Ihre schmachvolle Niederlage haben diese Leute seit Beginn des imperialistischen Krieges mit ihrer gesamten Politik vorbereitet. Der Versuch des alten ins Ausland geflüchteten Vorstands, die Partei zu retten, ist im Voraus abgetan: Kein Revolutionär wird in den rauen unterirdischen Kampf treten wollen unter der Führung erwiesener Bankrotteure. Einmal erwacht, wird sich das politische Denken in den Reihen der Sozialdemokratie Bahn brechen. Aber das ist einstweilen noch Sache des morgigen Tages.

Politisches Interesse bietet jetzt lediglich die Orientierung der kommunistischen Partei. Als Massenorganisation ist sie vollständig zerschlagen. Doch erhielt sich der zentrale Apparat, der illegale und Emigrationsliteratur herausgibt, antifaschistische Kongresse einberuft und Pläne für den Kampf gegen die Nazidiktatur produziert. Alle Gebrechen der geschlagenen Stäbe finden in diesem Apparat einen unübertroffenen Ausdruck.

Die Faschisten sind Eintagskönige", schreibt das offizielle Organ der Komintern, „ihr Sieg ist ein kurz bemessener Sieg, dem die proletarische Revolution auf dem Fuße folgt … Der Kampf für die Diktatur des Proletariats steht in Deutschland auf der Tagesordnung." Ununterbrochen zurückweichend, alle Positionen aufgebend, die eignen Anhänger verlierend, fährt der Apparat fort wiederzukäuen, dass die antifaschistische Welle steigt, dass die Stimmung sich hebe, dass es notwendig sei, sich auf den Aufstand vorzubereiten – wenn nicht für morgen, so in einigen Monaten. Die optimistische Phraseologie ist für den geschlagenen Führerstab zu einem Mittel der politischen Selbsterhaltung geworden. Die Gefahr des falschen Optimismus ist um so größer, je tiefer das innere Leben des deutschen Proletariats in Dunkel getaucht ist: Weder Gewerkschaften, noch Parlamentswahlen, weder Mitgliedsbeiträge, noch Zeitungsauflagen – keine Ziffern kontrollieren die Folgen der falschen Politik und stören die Ruhe der Führer.

Der Hauptbeweis für die trostreiche Prognose besteht darin, dass Hitler „seine Versprechen nicht einhalten wird". Als ob Mussolini sein phantastisches Programm hätte erfüllen müssen, um sich über zehn Jahre an der Macht zu halten! Die Revolution ist keine automatische Bestrafung der Betrüger, sondern eine verwickelte gesellschaftliche Erscheinung, die nur bei Vorhandensein einer Reihe geschichtlicher Bedingungen auftritt. Wir kennen sie ja: Ausweglosigkeit und Zerrissenheit der herrschenden Klassen, Empörung des Kleinbürgertums, das seinen Glauben an die bestehende Ordnung verloren hat, wachsende Kampftätigkeit der Arbeiterschaft, schließlich eine richtige Politik der revolutionären Partei – das sind die unmittelbaren politischen Voraussetzungen der Revolution. Sind sie vorhanden?

Die besitzenden Klassen Deutschlands befanden sich während der letzten Jahre in einem Zustand schärfster Zwietracht. Heute unterstützen sie alle – wenn auch schweren Herzens – den Faschismus. Der Antagonismus zwischen Agrariern und Industriellen, sowie zwischen den einzelnen Industriellengruppen ist nicht beseitigt; aber es gibt eine Instanz, die gebieterisch alle Antagonismen reguliert.

Das Kleinbürgertum Deutschlands siedete während der letzten Periode wie ein Kessel. Sogar in seiner nationalistischen Besessenheit lag ein Element sozialer Gefahr. Heute hat es sich um eine Regierung geschart, die auf seinem Rücken emporstieg; es ist in Zucht gehalten durch eine militärische Organisation, die aus seiner Mitte hervorging. Die Mittelklassen wurden zum Hauptpfeiler der Ordnung. Die Schlussfolgerung ist unzweifelhaft: Soweit es sich um die Groß- und Kleinbourgeoisie handelt, sind die Voraussetzungen für eine revolutionäre Lösung in die Vergangenheit entschwunden, oder – was dasselbe ist – in unbestimmte Zukunft.

In Bezug auf die Arbeiterklasse liegt der Fall nicht weniger eindeutig. Erwies sie sich vor einigen Monaten durch die Schuld der Führung unfähig zur Verteidigung ihrer mächtigen legalen Positionen vor dem Angriff der Konterrevolution, so ist sie heute, am Tage nach dem Zusammenbruch, noch viel weniger zu einem Angriff auf die mächtigen legalen Positionen des Nationalsozialismus vorbereitet. Die materiellen und moralischen Faktoren veränderten scharf und einschneidend das Kräfteverhältnis zuungunsten des Proletariats. Muss man das denn noch beweisen? Nicht vorteilhafter der Zustand der Führung: Die kommunistische Massenpartei besteht nicht, ihr Apparat, der frischen Luft der Kritik beraubt, erstickt in tiefem inneren Kampf. In welchem Sinne kann man da sagen, dass „der Kampf für die Diktatur des Proletariats in Deutschland auf der Tagesordnung steht"? Was ist hier unter „Tag" zu verstehen?

Unschwer sind die aufrichtigen wie die heuchlerischen „Entlarvungen" unseres Pessimismus vorherzusehen: Unglauben an die schöpferischen Kräfte der Revolution und so weiter. Billige Vorwürfel Wir wissen nicht schlechter als Andere, dass der Faschismus eine geschichtlich verlorene Sache verteidigt. Seine Methoden können ein grandioses aber ein nur unbeständiges Resultat ergeben. Man kann nur überlebte Klassen mit Hilfe der Gewalt zähmen. Das Proletariat aber ist die Hauptproduktivkraft der Gesellschaft. Man kann es für einige Zeit niederschlagen, – es für immer zu versklaven ist unmöglich. Hitler verspricht, die Arbeiter „umzuerziehen". Aber er ist gezwungen, pädagogische Kunstgriffe anzuwenden, die nicht einmal für die Dressur von Hunden taugen. An der unversöhnlichen Feindschaft der Arbeiter wird sich der Faschismus unvermeidlich den Kopf einrennen. Aber wie und wann? Eine allgemeine geschichtliche Voraussicht räumt nicht die brennenden Fragen der Politik hinweg: Was ist sofort zu tun – und insbesondere zu unterlassen –, um den Zusammenbruch des Nationalsozialismus vorzubereiten und zu beschleunigen?

Die Rechnung auf die unverzügliche revolutionierende Wirkung der faschistischen Repressalien und materiellen Entbehrungen stellt ein Muster des vulgären Geschichtsmaterialismus dar. Jawohl, „das Sein bestimmt das Bewusstsein". Aber das bedeutet durchaus nicht die mechanische und unmittelbare Abhängigkeit des Bewusstseins von den äußeren Umständen. Das Sein bricht sich im Bewusstsein nach den Gesetzen des Bewusstseins Die gleichen objektiven Tatsachen können verschiedene, manchmal entgegengesetzte politische Wirkungen erzielen, je nach der allgemeinen Lage und den vorangegangenen Ereignissen. So riefen im Lauf der menschlichen Entwicklung Repressalien oft revolutionäre Empörung hervor. Aber nach einem Sieg der Konterrevolution erlosch auch oft unter Repressalien das letzte Aufflackern des Protests. Eine Wirtschaftskrise ist imstande, die revolutionäre Explosion zu beschleunigen, und das geschah in der Geschichte mehr als einmal; bricht sie aber nach einer schweren politischen Niederlage über das Proletariat herein, so kann die Krise bloß die Erscheinungen des Zerfalls verstärken. Konkreter gesagt: Von der weiteren Verschärfung der Industriekrise erwarten wir für Deutschland keineswegs unmittelbare revolutionäre Folgen. Zwar ergab eine lang andauernde Belebung oft ein Übergewicht der opportunistischen Strömungen im Proletariat. Aber nach einer langen Periode von Krise und Reaktion kann eine ansteigende Konjunktur im Gegenteil die Aktivität der Arbeiter heben und sie auf den Weg des Kampfes stoßen. Wir halten diese Variante in vieler Hinsicht für wahrscheinlicher.

II.

Jedoch der Schwerpunkt liegt heute nicht in der Konjunkturprognose. Schwerfällige psychologische Wendungen von Millionenmassen brauchen viel Zeit; davon muss man ausgehen Ein Konjunkturumschwung, Zusammenstöße zwischen den besitzenden Klassen, internationale Verwicklungen können und werden ihre Wirkung auf die Arbeiter nicht verfehlen. Aber äußere Ereignisse setzen das Proletariat nicht instand, sich mit einem Sprung über die Folgen der Niederlage hinweg zu heben. Wenn dank einem außergewöhnlich günstigen Zusammentreffen äußerer und innerer Umstände der Beginn der Wendung sogar in außergewöhnlich kurzer Zeit – sagen wir in ein oder zwei Jahren – stattfinden sollte, bliebe noch in vollem Umfang die Frage nach unsrer Politik während der nächsten zwölf oder vierundzwanzig Monate übrig, in denen die Konterrevolution noch weitere Eroberungen machen wird. Man kann keine realistische Taktik entwickeln ohne richtige Perspektive. Man kann keine richtige Perspektive besitzen, wenn man nicht versteht, dass in Deutschland heute nicht die proletarische Revolution heranreift sondern die faschistische Konterrevolution sich vertieft. Und das ist gewiss nicht ein und dasselbe!

Die Bürokratie – darunter auch die revolutionäre – vergisst allzu leicht, dass das Proletariat nicht nur Objekt sondern auch Subjekt, der Politik ist. Mit Hieben über den Schädel wollen die Nazis die Arbeiter in Homunkuli des Rassismus verwandeln. Die Führung der Komintern rechnet umgekehrt vor, dass Hitlers Hiebe die Arbeiter zu folgsamen Kommunisten machen werden. Doch die Arbeiter sind nicht Ton in des Töpfers Hand. Sie fangen die Geschichte nicht jedes mal von vorn an. Bei allem Hass und aller Verachtung für die Nazis sind sie doch am allerwenigsten geneigt, zu jener Politik zurückzukehren, die sie in Hitlers Schlinge stieß. Die Arbeiter fühlen sich hintergangen und verraten von der eignen Führerschaft. Sie wissen nicht, was zu tun ist, aber sie wissen, was nicht wiederholt werden darf. Sie sind unbeschreiblich gepeinigt, sie wollen sich aus dem Teufelskreis von Verwirrung, Drohungen, Lügen und Prahlereien losreißen, beiseite treten, ausweichen, abwarten, die Notwendigkeit abschütteln, Fragen zu entscheiden, die über ihre Kräfte gehen. Sie brauchen Zeit, damit sich die Wunden der Enttäuschung schließen. Die allgemeine Bezeichnung für diesen Zustand ist: politische Indifferenz. Die Massen verfallen in erbitterte Passivität. Ein Teil – und kein geringer – sucht Unterschlupf in den faschistischen Organisationen. Es ist selbstverständlich unzulässig, reklamehaften Übertritt einzelner Politiker auf die Seite des Faschismus dem Eintritt namenloser Arbeiter in die Zwangsorganisationen der Diktatur gleich zur setzen; im ersten Fall handelt es sich um Strebertum, im zweiten um Schutzfärbung, um verbissene Unterwerfung unter den „Herrn im Hause". Aber immerhin ist die Tatsache des Massenübergangs von Arbeitern unter die Hakenkreuzflagge ein unwiderlegliches Zeugnis für das Gefühl der Ausweglosigkeit, das sie ergriffen hat. Die Reaktion ist der revolutionären Klasse tief in die Knochen gefahren. Und das nicht bloß für einen Tag.

In dieser ganzen Lage bildet die Parteibürokratie, die nichts vergessen und nichts zu gelernt hat, einen ausgesprochenen politischen Anachronismus. Vor der offiziellen Unfehlbarkeit ist den Arbeitern übel. Um den Apparat wächst die Leere. Der Arbeiter will nicht, dass man ihn außer mit Hitlers Knute obendrein noch mit der Knute des falschen Optimismus antreibt. Er will Wahrheit. Der schreiende Widerspruch zwischen der offiziellen Perspektive und dem wirklichen Verlauf der Dinge trägt nur ein weiteres Stück Demoralisierung in die Reihen der fortgeschrittenen Arbeiter.

Das, was Radikalisierung der Massen genannt wird, ist ein verwickelter molekularer Prozess des Kollektivbewusstseins. Um wieder vorwärtszukommen, müssen die Arbeiter vor allem verstehen, was geschehen ist. Radikalisierung ist undenkbar, ohne dass die Masse die eigene Niederlage assimiliert hätte, ohne dass wenigstens ihre Avantgarde die Vergangenheit kritisch überprüft und sich über sie hinweg auf eine neue Stufe erhoben hätte.

Heute hat dieser Prozess noch nicht einmal begonnen. Die Apparatpresse selbst ist gezwungen, zwischen zwei optimistischen Ausrufen anzuerkennen, dass nicht nur auf dem Lande die Nazis ihre Stellungen weiter ausbauen, die Kommunisten verfolgen, den Hass der Bauern gegen die Arbeiter bis zur Weißglut erhitzend, sondern dass auch in der Industrie – obendrein ohne jeden Widerstand – eine Verdrängung der letzten kommunistischen Arbeiter vor sich geht. All das enthält gar nichts Unerwartetes. Wer sich schlagen lässt, hat die Folgen zu tragen.

Angesichts dieser Tatsachen fällt die Bürokratie – auf der Suche nach einer Stutze für die optimistische Perspektive – von dem ihr eignen Subjektivismus in vollendeten Fatalismus. Mag die Stimmung der Massen sogar sinken – der Nationalsozialismus wird ohnehin bald durch die eignen Widersprüche in die Luft gesprengt werden. Gestern noch lehrten die Bürokraten, dass alle andern Parteien Deutschlands – von den Nazis bis zur Sozialdemokratie – lediglich Abarten des Faschismus darstellen, die ein gemeinsames Programm durchführen. Heute sind alle Hoffnungen auf Gegensätze im Regierungslager gerichtet. Der Konflikt zwischen Hitler und Hugenberg nimmt den Platz ein, den seinerzeit der nicht ganz unbeträchtliche Antagonismus zwischen Hitler und Wels vergebens beanspruchte. Ein Zusammenstoß der SA und der NSBO-Betriebsausschüsse mit der Hitlerregierung wird nicht nur für unvermeidlich sondern auch für nah gehalten; die Rechnung erstreckt man grade noch nach Wochen und Monaten. Reformist und Faschist waren gestern Zwillinge: aber der enttäuschte Faschist und der an der Macht sitzende Faschist sind heute Antipoden.

Die neuen Fehler des politischen Kalküls sind nicht weniger grob als die alten. Die „Opposition" der alten Parteien des Kapitals gegen den Nationalsozialismus ist nicht größer als der instinktive Widerstand eines Kranken, dem der Lazarettgehilfe einen faulen Zahn zieht: Die Ereignisse folgen der Marschroute. Hugenbergs Konflikt mit Hitler erweist sich bloß als eine Episode im Lauf der Zusammenfassung der ganzen Macht in Hitlers Händen. Um seine Bestimmung zu vollenden, muss der Faschismus sich mit dem Staatsapparat verschmelzen.

Sehr wahrscheinlich, dass viele von den faschistischen Landsknechten schon heute unzufrieden sind; man hat ihnen nicht einmal erlaubt, gehörig zu plündern Aber wie scharfe Formen diese Unzufriedenheit auch annehmen mag, – sie kann kein ernstlicher Faktor sein. Der Regierungsapparat wird die ungehorsamen Prätorianer einen nach dem andern niederschlagen, die unzuverlässigen Abteilungen neu aufbauen, die Spitzen bestechen. Die Ernüchterung der breiten Massen des Kleinbürgertums ist – allgemein gesprochen – völlig unvermeidlich. Aber sie wird zu ungleichen Zeiten und in verschiedenen Formen vor sich gehen Entladungen der Unzufriedenheit können recht wohl in einzelnen Fällen dem Zurücksinken der vom Faschismus enttäuschten Schichten in den Zustand des Marasmus vorangehen. Aber man darf davon auf keinen Fall eine selbständige revolutionäre Initiative erwarten.

Die nationalsozialistischen Betriebsräte sind unvergleichlich weniger von den Arbeitern abhängig als seinerzeit die reformistischen. Zwar könnten in der Atmosphäre einer einsetzenden Wirtschaftsbelebung sogar faschistische Betriebsräte Stützpunkte für den Angriff der Arbeiter werden; die am 9. (22.) Januar 1905 von der zaristischen Ochrana geschaffene Arbeiterorganisation wurde für einen Tag zu einem Hebel der Revolution. Aber heute, wo die deutschen Arbeiter quälende Enttäuschungen und Erniedrigungen durchmachen, wäre es unsinnig zu erwarten, dass sie sich unter der Führung von faschistischen Beamten in einen ernsthaften Kampf einlassen würden. Die Betriebsräte werden, von oben eingesetzt, zu Agenturen des Betrugs und der Bändigung der Arbeiter abgerichtet.

Man soll sich nicht selbst betrügen. Eine mit Illusionen verdeckte Niederlage bedeutet Untergang. Die Rettung liegt in der Klarheit. Nur unversöhnliche Kritik an den eignen Fehlern und Mängeln kann die große Vergeltung vorbereiten.

Man kann als durch die Erfahrung gegeben ansehen, dass die Entwicklung des deutschen Faschismus im Vergleich zum italienischen beschleunigter abläuft; nicht nur deshalb, weil sich Hitler eben schon auf die Erfahrung Mussolinis stützt, sondern vor allem wegen des höher entwickelten Gesellschaftsaufbaus Deutschlands und wegen der größeren Schärfe seiner inneren Widersprüche. Das erlaubt den Schluss, dass der National-Sozialismus an der Macht schneller abwirtschaften wird als sein italienischer Vorläufer. Aber auch wenn er entartet und sich zersetzt, kann der Nationalsozialismus sich selbst nicht zu Fall bringen. Er muss gestürzt werden. D;e Veränderung des politischen Regimes im heutigen Deutschland ist unerreichbar ohne einen Aufstand. Zwar führt zum Aufstand im Augenblick kein direkter und unmittelbarer Weg. Doch welche krummen Wege die Entwicklung auch einschlagen mag, – sie wird unvermeidlich zum Aufstand führen.

Einer selbständigen revolutionären Politik ist das Kleinbürgertum bekanntlich nicht fähig. Aber Politik und Stimmung des Kleinbürgertums sind nicht gleichgültig für das Schicksal des unter seiner Mitwirkung geschaffenen Regimes. Die Enttäuschung und Unzufriedenheit der Zwischenklassen werden – wie das schon in Italien geschah – auch den Nationalsozialismus aus einer Volksbewegung in einen Polizeiapparat verwandeln. Wie stark dieser dann auch immer sei, – er kann den lebendigen Strom der Konterrevolution nicht ersetzen, der in alle Poren der Gesellschaft dringt. Die bürokratische Entartung des Faschismus bedeutet darum den Anfang seines Endes.

Auf dieser Stufe muss jedoch eine neue Schwierigkeit auftreten. Unter der Wirkung der Niederlage überwuchern im Proletariat die bremsenden Zentren. Die Arbeiter werden vorsichtig, misstrauisch, abwartend. Mag der Vulkanausbruch der Reaktion auch zu Ende sein, – die erstarrte Lava des faschistischen Staates erinnert zu sehr an das Durchgemachte. So ist die politische Lage heute in Italien. Zieht man die Ausdrucksweise der Wirtschaftspolitik heran, so kann man sagen: Enttäuschung und Unzufriedenheit der kleinbürgerlichen Reaktion bereiten den Augenblick vor, wo die scharfe Krise der Arbeiterbewegung in Depression übergeht, welche später einer Wiederbelebung Platz machen muss Jetzt zu erraten versuchen, wie, wann und unter welchen Losungen die Wiederbelebung einsetzen wird, wäre leeres Beginnen; sogar die Etappen der Wirtschaftszyklen haben jedes Mal „unerwarteten" Charakter – wievielt mehr Etappen der politischen Entwicklung!

Für einen Organismus, der eine schwere Krankheit durchgemacht hat, ist eine richtige Pflege entscheidend. Bei den Arbeitern, über die die Walze des Faschismus hinweg gerollt ist, muss jede abenteuerhafte Taktik unvermeidlich einen Rückfall in Apathie hervorrufen. Vorzeitige Börsenspekulation zieht oftmals einen Rückfall in die Krise nach sich. Das Beispiel Italiens zeigt, dass der Zustand der politischen Depression, besonders bei einer falschen Führung der Gegenseite, sich jahrelang hinschleppen kann. Eine richtige Politik halst dem Proletariat keine künstliche Marschroute auf, sondern leitet Perspektive und Losungen des Kampfes aus dem lebendigen Gang der Bewegung ab. Günstige äußere Anstöße können die einzelnen Abschnitte des Prozesses erheblich verkürzen: Ist es doch durchaus nicht vorgeschrieben, dass die Depression sich über so viele Jahre erstrecke wie in Italien! Jedoch darf man über organische Etappen der Massenerhebung nicht hinweg springen wollen. Beschleunigen, ohne den Versuch, zu überspringen – darin liegt die ganze Kunst der realistischen Führung! Hat sich die Arbeiterbewegung erst einmal unter dem bleiernen Sargdeckel des Faschismus hervor gezwängt, so kann sie schon in verhältnismäßig kurzer Zeit einen breiten Aufschwung nehmen. Nur dann und nur unter der Führung des Proletariats wird die Unzufriedenheit des Kleinbürgertums politisch fortschrittlichen Charakter annehmen, wieder eine günstige Lage für den revolutionären Kampf herstellen können.

Die herrschenden Klassen werden mit der Kehrseite dieses Prozesses zu tun bekommen: Verliert der faschistische Staat die Stütze im Kleinbürgertum, so erweist er sich als ein äußerst unzuverlässiger Unterdrückungsapparat. Die Politiker des Kapitals werden sich neu orientieren müssen. Die Gegensätze innerhalb der besitzenden Klassen werden nach außen durchbrechen. Einer Front angreifender Massen gegenüber wird Hitler das Hinterland unzuverlässig finden. So bildet sich eine revolutionäre Situation heraus, in der dem Nationalsozialismus die letzte Stunde schlägt.

Bevor jedoch das Proletariat sich wieder große Aufgaben stellen kann, muss es die Bilanz der Vergangenheit ziehen Ihre allgemeinste Formel: Die alten Parteien sind verloren. Eine kleine Minderheit von Arbeitern versteht schon heute: Man muss eine neue Partei schaffen. Die Charakterlosigkeit der Sozialdemokratie und die Verantwortungslosigkeit des offiziellen Scheinbolschewismus werden im Feuer des Kampfes niederbrennen. Die Herren Nazi nahmen den Mund voll von der „Rasse der Krieger". Es kommt der Tag, an dem der Faschismus mit der unausrottbaren Rasse der revolutionären Kämpfer zusammenprallt.

Prinkipo, Ende Juni 1933.

(Autorisierte Übersetzung aus dem russischen Manuskript von Walter Steen)

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