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Leo Trotzki 19331001Die 4. Internationale und die UdSSR

Leo Trotzki: Die 4. Internationale und die UdSSR

(Die Klassennatur des Sowjetstaates)

[Übersetzt aus dem Russischen von Walter Steen [Rudolf Klement] Nach der Broschüre, Verlag Georg Kopp, Prag, II. Auflage 1934]

Die Fragestellung

Der Bruch mit der Komintern und die Orientierung auf die neue Internationale werfen von neuem die Frage auf nach dem sozialen Charakter der UdSSR. Bedeutet der Schiffbruch der Komintern nicht auch den Schiffbruch des Staates, der aus der Oktoberrevolution hervorging? Hier wie dort handelt es sich doch um ein und dieselbe leitende Organisation: um den stalinschen Apparat. Er wandte ein und dieselben Methoden an innerhalb der UdSSR wie in den internationalen Arena. Wir Marxisten haben nie die doppelte Buchhaltung der Brandlerianer in Schutz genommen, für die die Politik der Stalinisten in der UdSSR untadelhaft, jenseits der Grenzen der UdSSR aber verderbenbringend ist.* Unserer Überzeugung nach ist sie gleich verderblich hier wie dort. Muss man aber in dem Fall nicht auf den gleichzeitigen Schiffbruch der Komintern und die Liquidierung der proletarischen Diktatur in der UdSSR erkennen?

Diese Überlegung scheint auf den ersten Blick unanfechtbar. Doch ist sie falsch. Sind die Methoden der Stalinbürokratie auf allen Gebieten auch gleichartig, so hängen die objektiven Ergebnisse dieser Methoden ab von den äußeren Umständen, oder – in der Sprache der Mechanik – vom Materialwiderstand. Die Komintern stellte ein Werkzeug dar, das zum Sturz der kapitalistischen Ordnung und zur Aufrichtung der Diktatur des Proletariats bestimmt war. Der Sowjetstaat stellt ein Werkzeug zur Erhaltung der Eroberungen eines schon vollzogenen Umsturzes dar. Die kommunistischen Parteien des Westens haben keinerlei ererbtes Kapital. Ihre Stärke (eigentlich ihre Schwäche) liegt in ihnen selbst und nur in ihnen. Die Stärke des stalinschen Apparats liegt zu neun Zehnteln nicht in ihm, sondern in den von der siegreichen Revolution herbeigeführten sozialen Umwälzungen. Diese Erwägung allein löst die Frage natürlich noch nicht, aber sie besitzt große methodologische Bedeutung. Sie zeigt uns, wie und warum der stalinsche Apparat seine Bedeutung als internationaler revolutionärer Faktor endgültig einbüßen und einen Teil seiner fortschrittlichen Bedeutung als Wache vor den sozialen Eroberungen der proletarischen Revolution bewahren könnte. Eine solche zwiespältige Lage stellt – beiläufig gesagt – eine der Erscheinungen der Ungleichmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung dar.

Die richtige Politik des Arbeiterstaates kann nicht nur auf den nationalen Wirtschaftsaufbau hinauslaufen. Wird sich die Revolution nicht nach Art einer Spirale auf der internationalen Arena ausbreiten, so wird sie unvermeidlich beginnen, sich als bürokratische Spirale im nationalen Rahmen zusammenzuziehen. Wird die Diktatur des Proletariats nicht zu einer europäischen und Weltdiktatur, so wird sie ihrem eigenen Untergang entgegengehen. In der großen geschichtlichen Perspektive ist all dies ganz unstreitig. Doch dreht sich alles um die konkreten geschichtlichen Fristen. Kann man sagen, dass die Politik der Stalinbürokratie schon zur Liquidierung des Arbeiterstaates geführt habe? Das ist heute die Frage.

Den Behauptungen, der Arbeiterstaat sei schon liquidiert, steht vor allen ein wichtiger methodologischer Grundsatz des Marxismus entgegen. Die Diktatur des Proletariats wurde errichtet mit Hilfe eines politischen Umsturzes und dreier Jahre Bürgerkrieg. Die Klassentheorie der Gesellschaft sowie die geschichtliche Erfahrung bezeugen gleicherweise die Unmöglichkeit eines Sieges des Proletariats auf friedlichem Wege, d. h. ohne grandiose Klassenkämpfe mit der Waffe in der Hand. Ist in diesem Fall eine friedliche, unmerkliche, „allmähliche" bürgerliche Konterrevolution vorstellbar? Bis heute jedenfalls vollzogen sich die feudalen wie die bürgerlichen Konterrevolutionen niemals „organisch", sondern erforderten ausnahmslos das Eingreifen der Militärchirurgie. Die Theorien des Reformismus – soweit sich der Reformismus überhaupt zu Theorien erhob – beruhen letzten Endes immer auf Unverständnis für die Tiefe und Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze: daher die Perspektive des friedlichen Hinüberwachsens vom Kapitalismus in den Sozialismus. Die marxistische These vom Katastrophencharakter des Übergangs der Macht aus dem Händen der einen Klasse in die der anderen bezieht sich nicht nur auf die revolutionäre Periode, wo die Geschichte wie toll vorwärts rast, sondern auch auf die Periode der Konterrevolution, wo die Gesellschaft zurück rollt. Wer behauptet, der Sowjetstaat habe sich allmählich aus einem proletarischen in einen bürgerlichen verwandelt, der lässt den reformistischen Film in umgekehrter Richtung ablaufen.

Die Gegner mögen einwenden, dass diese allgemeine methodologische Überlegung, wie wichtig sie an und für sich auch sein möge, immerhin zu abstrakt sei, um die Frage zu entscheiden. Die.Wahrheit sei immer konkret. Die These von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze könne und müsse unsere Untersuchung leiten, aber nicht ihre Ergebnisse ersetzen. Man solle sich in den materiellen Inhalt des Geschichtsprozesses selbst vertiefen.

Wir antworten: es ist wahr, ein methodologisches Argument erschöpft das Problem nicht. Aber es wälzt auf jeden Fall die Last der Beweisführung auf die gegnerische Seite ab. Die Kritiker, die sich selbst für Marxisten halten, müssen zeigen, auf welche Weise die Bourgeoisie, die die Macht in dreijährigen Kämpfen abtrat, wieder zu dieser Macht gelangen konnte ohne jegliche Kämpfe. Da jedoch unsere Gegner nicht versuchen, ihrer Einschätzung des Sowjetstaates irgendwelchen ernsthaften theoretischen Ausdruck zu verleihen, so wollen wir hier versuchen, diese Arbeit für sie zu tun.

Diktatur über das Proletariat"

Das verbreitetste, populärste und auf den ersten Blick unwiderlegliche Argument für den nichtproletarischen Charakter des heutigen Sowjetstaates ist der Hinweis auf die Erstickung der Freiheit der proletarischen Organisationen und auf die Allmacht der Bürokratie. Kann man denn in der Tat die Diktatur des Apparats, welche auf die Diktatur einer einzigen Person hinausläuft, gleichsetzen mit der Diktatur des Proletariats als Klasse? Ist nicht klar, dass die Diktatur über das Proletariat die Diktatur des Proletariats .ausschließt?

Diese verführerische Erwägung ist nicht auf der materialistischen Analyse des Prozesses aufgebaut, wie er in Wirklichkeit verläuft sondern auf rein idealistischen Schemata, auf kantianischen Normen. Manche edle „Freunde" der Revolution machten sich eine überaus strahlende Vorstellung von der Diktatur des Proletariats und sind vollkommen erschlagen, wenn sie sehen, wie die reale Diktatur mit der ganzen Erbschaft von Klassenbarbarei, mit allen inneren Widersprüchen, Fehlern und Verbrechen der Führung, ganz und gar nicht dem geleckten Bilde gleicht, das sie sich gemacht hatten. In ihren schönsten Gefühlen enttäuscht, kehren sie der Sowjetunion den Rücken.

Wo und in welchem Handbuch kann man ein unfehlbares Rezept für die proletarische Diktatur finden? Die Diktatur einer Klasse bedeutet bei weitem nicht immer die unmittelbare Teilnahme aller ihrer Massen an der Staatsverwaltung. Wir sehen dies vor allem am Beispiel der besitzenden Klassen. Der Adel herrschte durch die Monarchie, vor der er auf den Knien lag. Die Diktatur der Bourgeoisie nahm verhältnismäßig entwickelte demokratische Formen an nur unter den Verhältnissen des kapitalistischen Aufstiegs, als die herrschende Klasse nichts zu fürchten hatte. Vor unseren Augen wurde die Demokratie in Deutschland ersetzt durch die Selbstherrschaft Hitlers, wobei sämtliche traditionellen bürgerlichen Parteien in Scherben gingen. Die deutsche Bourgeoisie regiert heute nicht unmittelbar: politisch befindet sie sich völlig unter dem Joch Hitlers und seiner Horden. Nichtsdestoweniger bleibt die Diktatur der Bourgeoisie in Deutschland unangetastet, denn alle Bedingungen ihrer sozialen Herrschaft sind gewahrt und befestigt. Die Bourgeoisie politisch expropriierend, rettete Hitler sie. – wenn auch nur zeitweilig – vor der wirtschaftlichen Expropriierung. Die Tatsache, dass sich die Bourgeoisie gezwungen erwies, zu dem faschistischen Regime Zuflucht zu nehmen, zeugt davon, dass ihre Herrschaft zu stürzen drohte, aber keineswegs davon, dass sie stürzte.

Unsere späteren Schlussfolgerungen vorwegnehmend, werden sich unsere Gegner beeilen zu erwidern: kann die Bourgeoisie als ausbeutende Minderheit ihre Herrschaft mit Hilfe einer faschistischen Diktatur erhalten, so muss das Proletariat, das die sozialistische Gesellschaft aufbaut, seinen Staat unmittelbar selbst leiten, unter Einbeziehung immer breiterer Volksmassen in die Verwaltung. In dieser allgemeinen Form ist dies Argument unbestreitbar, aber im vorliegenden Fall bedeutet es nur, dass die heutige Sowjetdiktatur eine kranke Diktatur ist. Die entsetzlichen Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaue in einem isolierten und zurückgebliebenen Land, verbunden mit einer falschen Politik der Führung, die ebenfalls letzten Endes den Druck der Zurückgebliebenheit und Isoliertheit widerspiegelt, führten dazu, dass die Bürokratie das Proletariat politisch expropriierte, um dessen soziale Eroberungen mit ihren Methoden zu schützen. Die Anatomie der Gesellschaft ist bestimmt durch ihre Wirtschaftsverhältnisse. Solange die von der Oktoberevolution geschaffenen Eigentumsformen nicht umgeworfen sind, bleibt die herrschende Klasse das Proletariat.

Die Erörterungen über die „Diktatur der Bürokratie über das Proletariat" ohne tiefere Analyse, d. h. ohne Bloßlegung der sozialen Wurzeln und Klassenschranken des bürokratischen Kommandierens laufen schlechterdings auf demokratisches Phrasengeklingel hinaus, wie es bei den Menschewiki so sehr beliebt ist. Man kann nicht zweifeln, dass die große Mehrzahl der Sowjetarbeiter mit der Bürokratie unzufrieden ist, ein beachtlicher Teil – und nicht der schlechteste – hasst sie. Wenn jedoch diese Unzufriedenheit keinen stürmischen Massencharakter annimmt, so nicht der Repressalien wegen: die Arbeiter fürchten, durch den Sturz der Bürokratie dem Klassenfeind freie Bahn zu schaffen. Das Verhältnis zwischen Bürokratie und Klasse ist in Wirklichkeit viel komplizierter, als es den leichtfertigen Demokraten scheint. Die Sowjetarbeiter würden mit dem selbstherrlichen Apparat abrechnen, wenn sich vor ihnen eine andere Perspektive eröffnete, wenn der Himmel im Westen sich nicht ins Braun des Faschismus, sondern in dem Rot der Revolution färbte. Solange dies nicht geschieht, duldet („toleriert") das Proletariat zähneknirschend die Bürokratie, und in diesem Sinne erkennt sie sie als Trägerin der proletarischen Diktatur an. Kein Sowjetarbeiter wird, wenn man mit ihm unter vier Augen spricht, mit harten Worten über die Stalinbürokratie sparen. Aber nicht einer von ihnen wird anerkennen, dass die Konterrevolution schon vollzogen sei.

Das Proletariat bildet die Wirbelsäule des Sowjetstaates. Soweit aber die Staatsfunktionen in den Händen der verantwortungslosen Bürokratie konzentriert sind, soweit haben wir es mit einem offenkundig kranken Staat zu tun. Ist er heilbar? Bedeuten weitere Heilungsversuche nicht fruchtloses Vergeuden der kostbaren Zeit? Die Frage ist schlecht gestellt. Unter Heilung verstehen wir nicht irgendwelche künstlichen Maßnahmen abseits von der internationalen revolutionären Bewegung, sondern das Weiterkämpfen unter dem Banner des Marxismus. Unerbittliche Kritik an der Stalinbürokratie, Erziehung von Kadern der neuen Internationale, Wiedererweckung der Kampfkraft der Vorhut des Weltproletariats – das ist das Wesen der „Heilung". Sie fällt zusammen mit der Grundrichtung des geschichtlichen Fortschritts.

In den letzten Jahren haben – nebenbei bemerkt – die Gegner uns mehr als einmal gesagt, dass wir nur „unnütz Zeit verlieren", wenn wir uns mit der Heilung der Komintern beschäftigen. Wir haben niemals und niemanden versprochen, dass wir die Komintern ausheilen würden. Wir lehnten es nur ab, vor der entscheidenden Probe den Kranken für tot oder für hoffnungslos krank zu erklären. Jedenfalls verloren wir mit der „Heilung" nicht einen Tag. Wir bildeten revolutionäre Kader heran, und – was nicht weniger wichtig ist – bereiteten die hauptsächlichen theoretischen und programmatischen Grundsätze der neuen Internationale vor.

Die Diktatur des Proletariats als idealistische Norm

Die Herren „kantianischen" Soziologen (entschuldigen wir uns vor dem Schatten Kants) kommen nicht selten zu dem Schluss, dass es die „echte" Diktatur, d. h. diejenige, die ihren idealen Normen entspricht, nur gegeben habe in den Tagen der Pariser Kommune oder in der ersten Periode der Oktoberrevolution bis zum Brest-Litowsker Frieden, bestenfalls bis zur NEP. Das heißt einmal gründlich daneben gehauen! Wenn Marx und Engels die Pariser Kommune als „Diktatur des Proletariats" bezeichneten, so allein kraft der in ihr liegenden Möglichkeiten. An sich war die Kommune noch keine Diktatur des Proletariats. Die Macht in den Händen, wusste sie kaum, was mit ihr beginnen; sie griff nicht an, sondern wartete ab; blieb eingeschlossen in den Ring Paris; wagte nicht, die Staatsbank anzutasten; hat die Umwälzung in den Eigentumsverhältnissen weder vollzogen noch vollziehen können, weil sie nicht über die Macht im nationalen Maßstab verfügte. Da hinzu kommen noch die blanquistische Einseitigkeit und die proudhonistischen Vorurteile, die sogar den Führern der Bewegung nicht erlaubten, die Kommune vollends als Diktatur des Proletariats anzuerkennen.

Von keinem glücklicherem Charakter ist die Berufung auf die erste Periode der Oktoberrevolution. Nicht nur bis zum Brest-Litowsker Frieden, sondern noch bis in den Herbst 1918 hinein beschränkte sich der soziale Inhalt der Revolution auf die kleinbürgerliche Agrarumwälzung und die Arbeiterkontrolle über die Produktion. Das heißt, die Revolution ging ihren Taten nach noch nicht über die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus. In dieser ersten Periode herrschten neben den Arbeiterräten, und oft sie verdrängend, die Soldatenräte. Erst im Herbst 1918 tritt das kleinbürgerlich-agrarische Element allmählich in die Ufer, und nehmen die Arbeiter die Sozialisierung der Produktionsmittel in Angriff. Erst mit dieser Zeit kann man vom Anbruch der wirklichen Diktatur des Proletariats reden. Aber auch hier noch ist ein großer Vorbehalt vonnöten. Die Diktatur beschränkte sich in den ersten Jahren geographisch auf das ehemalige Moskauer Fürstentum, und zwar gezwungen, einen dreijährigen Krieg von Moskau aus in allen Himmelsrichtungen nach der Peripherie zu führen. Das bedeutet, dass bis 1921, d. h. genau bis zur NEP, noch der Kampf ging um die Errichtung der Diktatur des Proletariats im gesamtstaatlichen. Maßstab. Und da mit Einsetzen der NEP die Diktatur, nach Meinung der scheinmarxistischen Philister, verschwunden sei, so heißt das, dass sie überhaupt niemals bestanden hat. Für diese Herren ist die Diktatur des Proletariats einfach ein unwägbarer Begriff, eine ideale Norm, die auf unserer sündigen Erde nicht zu verwirklichen ist. Kein Wunder, wenn die „Theoretiker!" dieses Typs, soweit sie nicht offen auf die Bezeichnung Diktatur selbst verzichten, den unversöhnlichen Gegensatz zwischen ihr und der bürgerlichen Demokratie zu verwischen bestrebt sind.

Äußerst interessant vom Laboratoriumsstandpunkt aus, aber nicht politisch, ist die Pariser Sekte der „Kommunisten-Demokraten" (Souvarine & Co). Schon in der bloßen Benennung ist der Bruch mit dem Marxismus enthalten. In der Kritik des Gothaer Programms lehnt Marx die Bezeichnung „Sozialdemokratie" ab in Anbetracht dessen, dass sie den revolutionären sozialistischen Kampf unter die formale Kontrolle der Demokratie stellt. Es ist ganz klar, dass die „Kommunisten-Demokraten" sich prinzipiell nicht unterscheiden von den „Sozialisten-Demokraten", d. h. Sozialdemokraten. Zwischen Sozialismus und Kommunismus gibt es keine unumstößliche Scheidewand. Der Sündenfall beginnt in den Augenblick, wo Sozialismus und Kommunismus als Bewegung oder als Staat sich nicht den realen Verlauf des Klassenkampfes, nicht den materiellen Bedingungen des geschichtlichen Prozesses unterordnen, sondern der übersozialen und übergeschichtlichen Abstraktion der „Demokratie", die in Wirklichkeit eine Waffe der Bourgeoisie zur Selbstverteidigung gegen die proletarische Diktatur ist. War es in der Epoche des Gothaer Programms noch möglich, in dem Worte Sozialdemokratie lediglich eine unrichtige, unwissenschaftliche Bezeichnung für eine im Wesen gesunde proletarische Partei zu erblicken, so verwandelt die ganze weitere Geschichte der bürgerlichen und „sozialen" Demokratie das Banner des „demokratischen" Kommunismus (?) in das Banner des glatten Klassenverrats.**

Bonapartismus

Der Gegner vom Typus Urbahns wird sagen: die Restauration des bürgerlichen Regimes ist es tatsächlich noch nicht, aber es ist auch kein Arbeiterstaat mehr; das heutige Sowjetregime ist ein über oder zwischen den Klassen stehender bonapartistischer Staat. Mit dieser Theorie haben wir seinerzeit schon abgerechnet. Geschichtlich war und bleibt der Bonapartismus eine Herrschaftsform der Bourgeoisie in der Krisenperiode der bürgerlichen Gesellschaft. Man kann und muss unterscheiden den „fortschrittlichen" Bonapartismus, der die rein kapitalistischen Eroberungen der bürgerlichen Revolution befestigt und den Bonapartismus des Verfalls der kapitalistischen Gesellschaft, den verkrampften Bonapartismus unserer Epoche (Papen, Schleicher, Dollfuß, der holländische Bonapartekandidat Colijn usw.). Bonapartismus bedeutet stets politisches Lavieren zwischen den Klassen; doch behält der Bonapartismus in allen seinen geschichtlichen Erscheinungsformen ein und dieselbe soziale Basis bei: das bürgerliche Eigentum. Es gibt nichts Unsinnigeres als aus dem bonapartistischen Schlängeln zwischen den Klassen oder aus der Stellung der bonapartistischen Rotte „über den Klassen" zu folgern auf einen klassenlosen Charakter des bonapartistischen Staates. Ein ungeheuerlicher Wahnwitz. Der Bonapartismus ist nur eine Abart dar kapitalistischen Herrschaft.

Wenn Urbahns den Begriff des Bonapartismus erweitern will, indem er ihn auch auf das heutige Sowjetregime ausdehnt, so sind wir bereit, eine solche erweiterte Ausdeutung anzunehmen – unter einer Bedingung: dass der soziale Inhalt des Sowjet"bonapartismus" mit der notwendigen Deutlichkeit bestimmt wird. Es stimmt durchaus, dass die Selbstherrlichkeit der Sowjetbürokratie sich herausbildete auf dem Boden des Lavierens zwischen den Klassenkräften, inneren wie äußeren. Soweit das bürokratische Lavieren von dem persönlichen plebiszitären Regime Stalins gekrönt wurde, kann man von einem Sowjetbonapartismus sprechen. Doch wenn der Bonapartismus der beiden Bonaparte, wie auch der heutigen kläglichen Nachfolger., sich auf der Grundlage des bürgerlichen Regimes entfaltete und entfaltet, so steht der Bonapartismus der Sowjetbürokratie auf dem Boden eines proletarischen Regimes. Eine terminologische Neuerung oder eine geschichtliche Analogie können für die Analyse diese oder jene Bequemlichkeit bieten, aber nicht die soziale Natur des Sowjetstaates verändern.

Staatskapitalismus"

In der letzten Periode schuf Urbahns übrigens eine neue Theorie: die Wirtschaftsordnung der Sowjets sei eine Abart des „Staatskapitalismus". Ein „Fortschritt" besteht darin, dass Urbahns von terminologischen Exerzitien auf dem Gebiet des politischen Überbaus hinabstieg zum ökonomischen Fundament. Aber dies Hinabsteigen hat ihm – ach! – nicht gut getan.

Staatskapitalismus ist nach Urbahns die neueste Form der Selbsterhaltung des bürgerlichen Regimes: es genüge, einen Blick zu wenden auf das korporativ-„planschaffende" Staatswesen in Italien, Deutschland und den Vereinigten Staaten. An großen Schwung gewohnt, fügt Urbahns dem auch in UdSSR hinzu. Davon werden wir weiter sprechen. Soweit die Sache die kapitalistischen Staaten betrifft, berührt Urbahns eine sehr wichtige Erscheinung unserer Epoche. Der Monopolkapitalismus ist längst über das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die nationalen Staatsgrenzen hinausgewachsen. Jedoch die Arbeiterklasse, gelähmt durch ihre eigenen Organisationen;, hat nicht rechtzeitig verstanden, die Produktionskräfte der Gesellschaft, aus den kapitalistischen Fesseln zu befreien. Daher die langwierige Epoche wirtschaftlicher und politischer Krämpfe. Die Produktivkräfte rennen gegen die Wände des Privateigentums und d!er nationalen Grenzen an. Die bürgerlichen Staaten sind gezwungen, die Auflehnung der eigenen Produktivkräfte mit Hilfe der Polizeifaust zu bändigen.. Das ist eben die sogenannte „Planwirtschaft1'. Man kann sie bedingt „Staatskapitalismus" nennen, soweit der Staat versucht, die kapitalistische Anarchie zu zügeln und zu disziplinieren.

Erinnern wir uns jedoch daran, dass die Marxisten unter Staatskapitalismus ursprünglich nur selbständige Wirtschaftsunternehmen des Staates verstanden. Als die Reformisten den Kapitalismus mit Hilfe der Vergemeindung und Verstaatlichung einer immer größeren Anzahl von Transport- und Industrieunternehmungen überwinden zu können meinten, riefen die Marxisten: das ist nicht Sozialismus, sondern Staatskapitalismus. Später jedoch erhielt dieser Begriff einen erweiterten Sinn und wurde für alle Formen staatlichen Eingreifens in die Wirtschaft angewandt; die Franzosen benutzen in diesem Sinn das Wort „Etatismus".

Urbahns jedoch stellt die Anläufe zum „Staatskapitalismus" nicht nur fest – er bewertet sie auch auf seine Weise. Soweit man ihn überhaupt verstehen kann, erklärt er das Regime des „Staatskapitalismus" für ein notwendiges und dazu fortschrittliches Stadium in der Entwicklung der Gesellschaft, in demselben Sinne, in dem ein Trust ein Fortschritt ist verglichen mit Einzelbetrieben. Schon dieser Grundfehler in der Einschätzung der kapitalistischen Planung allein genügt, um jede beliebige Bewegung zu begraben.

Konnte man in der Epoche des kapitalistischen Aufstiegs, der durch den Krieg ein Ende gesetzt wurde, verschiedene Formen der Verstaatlichung – bei gewissen politischen Voraussetzungen – als fortschrittliche Erscheinung betrachten,, d. h. dafür halten, dass der Staatskapitalismus die Gesellschaft vorwärts bringe, indem er das künftige Wirtschaftswerk der proletarischen Diktatur erleichtert, so ist die heutige „Planwirtschaft" als ein ganz und gar reaktionäres Stadium zu betrachten: der Staatskapitalismus strebt die Wirtschaft aus der Weltarbeitsteilung herauszureißen, die Produktivkräfte dem Prokrustesbett des nationalen Staates anzugleichen, künstlich die Produktion in einigen Zweigen zu drosseln und ebenso künstlich andere Zweige mit einem riesigen Kostenaufwand, zu schaffen. Die Wirtschaftspolitik des, heutigen Staates, angefangen mit Zöllen altchinesischen Musters, und endend mit Episoden wie dem Maschinenverbot in Hitlers „Planwirtschaft", erzielt eine unbeständige Regulierung um den Preis der Senkung der nationalen Wirtschaft, des Hineintragens von Chaos, in die internationalen Beziehungen und völliger Zerrüttung des Geldsystems, das für die sozialistische Planung unbedingt erforderlich sein wird. Durch den heutigen Staatskapitalismus wird die zukünftige Arbeit des sozialistischen Staates nicht vorbereitet und erleichtert, sondern für sie, im Gegenteil, kolossale weitere Schwierigkeiten geschaffen. Das Proletariat hat eine Reihe von Gelegenheiten zur Machtergreifung versäumt. Dadurch schuf es die Voraussetzungen; in der Politik für die faschistische Barbarei, in der Wirtschaft für das Zerstörungswerk des „Staatskapitalismus". Nach der Machteroberung wird das Proletariat wirtschaftlich zu zahlen haben für die politischen Versäumnisse.

Die Wirtschaft der UdSSR

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit interessiert uns jedoch am meisten der Umstand, dass Urbahns versucht, dem Begriff „Staatskapitalismus" auch die Wirtschaft der USSR zu unterstellen. Dabei beruft er sich – es ist kaum zu glauben! – auf Lenin. Diese Berufung kann man nur durch eins erklären: in der Eigenschaft eines ewigen Erfinders, der allmonatlich eine neue Theorie erschafft, hat Urbahns nicht die Zeit, die Bücher zu lesen, auf die er sich beruft. Den Ausdruck „Staatskapitalismus" hat Lenin tatsächlich gebraucht, aber nicht für die Sowjetwirtschaft als Ganzes, sondern für einen begrenzten Teil von ihr: die ausländischen Konzessionen, die gemischten Industrie- und Handelsgesellschaften, und zum Teil für die vom Staat kontrollierte bäuerliche, in erheblichem Maße kulakische Kooperative. All das sind unbestreitbar Elemente von Kapitalismus; und da sie vom Staat kontrolliert sind und sogar unter seiner unmittelbaren Teilnahme betrieben werden, wie die gemischten Gesellschaften, so nannte Lenin diese Wirtschaftsgebilde bedingt – „in Gänsefüßchen", nach seinem eigenen Ausdruck – „Staatskapitalismus". Die Bedingtheit des Ausdrucks war dadurch bestimmt, dass es sich nicht um eine bürgerlichen, sondern einen proletarischen Staat handelte: die Gänsefüßchen sollen eben diesen nicht unwichtigen Unterschied unterstreichen. Soweit jedoch der proletarische Staat Privatkapital zuließ und diesem in gewissen Grenzen gestattete, die Arbeiter auszubeuten, soweit beschirmte er mit einem Flügel bürgerliche Verhältnisse. In diesem streng begrenzten Sinne konnte man von „Staatskapitalismus" reden.

Mit dem Ausdruck selbst trat Lenin in der Zeit des Übergangs zur NEP auf, als er annahm, dass Konzessionen und „gemischte Gesellschaften", d. h. Unternehmungen, die auf einer Verquickung von staatlichem mit privatem Kapital fußten, einen sehr großen Raum in der Sowjetwirtschaft einnehmen würden, neben den rein staatlichen Trusts und Syndikaten. Zum Unterschied von den staatskapitalistischen Unternehmungen, d. h. den Konzessionen usw. umschrieb Lenin die Sowjettrusts und -syndikate als „Unternehmungen konsequent sozialistischen Typs". Die weitere Entwicklung der Sowjetwirtschaft, insbesondere der Industrie, stellte sich Lenin vor in Form der Konkurrenz zwischen den staatskapitalistischen und den rein staatlichen Unternehmungen.

Jetzt ist hoffentlich klar, in welchen Grenzen Lenin den Ausdruck gebrauchte, der es Urbahns angetan hat. Um die theoretische Entgleisung des Führers des „Lenin(!)-bundes" vollkommen zu machen, muss man noch daran erinnern, dass sowohl die Konzessionen wie die gemischten Gesellschaften, entgegen Lenins ursprünglicher Erwartung, in der Entwicklung der Sowjetwirtschaft fast keine Rolle spielten. Heute ist von diesen „staatskapitalistischen" Unternehmungen überhaupt nichts mehr übrig. Im Gegenteil, die Sowjettrusts, deren Schicksal im Dämmerlicht der NEP noch sehr trübe schien, nahmen in den Jahren nach Lenins Tod eine gigantische Entwicklung. Wendet man auf diese Art die leninsche Terminologie gewissenhaft und mit Sachkenntnis an, so muss gesagt werden, dass die Entwicklung der Sowjetwirtschaft das Stadium des „Staatskapitalismus" völlig umgangen und sich durch den Kanal der Unternehmungen „konsequent sozialistischen Typs" entwickelt hat.

Jedoch muss man auch hier mögliche Missverständnisse – diesmal direkt entgegengesetzten Charakters – aus dem Wege räumen. Lenin wählte seine Ausdrücke genau. Er nannte Trusts nicht sozialistische Unternehmungen, wie es heute die Stalinisten tun, sondern Unternehmungen „sozialistischen Typs". Dieser feine terminologische Unterschied bedeutete in Lenins Feder, dass die Trusts das Recht, sich – nicht ihrem Typ, d.h. nicht der Tendenz, sondern ihrem eigentlichen Inhalt nach – sozialistisch zu nennen, erhalten werden, wenn die Landwirtschaft sich revolutioniert, der Gegensatz zwischen Stadt und Land verschwindet, wenn man gelernt – mit anderen Worten, nur in dem Maße, wie auf der Grundlage der sozialisierten Industrie und der kollektivierten Landwirtschaft sich die wirklich sozialistische Gesellschaft gestaltet .Die Erreichung dieses Ziels dachte sich Lenin als das sich vererbende Werk von zwei, drei Generationen, dabei untrennbar verbunden mit der Entfaltung der internationalen Revolution.

Fassen wir zusammen. Unter Staatskapitalismus im strengen Sinne des Wortes ist zu verstehen der Betrieb von Industrie- und anderen Unternehmungen durch den bürgerlichen Staat auf eigene Rechnung, oder die „regulierende" Einmischung des bürgerlichen Staates in die Arbeit privatkapitalistischer Unternehmungen. Unter Staatskapitalismus „in Gänsefüßchen" verstand Lenin die Kontrolle des proletarischen Staates über privatkapitalistische Unternehmungen und Verhältnisse. Keine dieser Definitionen passt irgendwie auf die heutige Sowjetwirtschaft. Welchen konkreten wirtschaftlichen Inhalt Urbahns eigentlich in den Begriff des Sowjet„staatskapitalismus" hineinlegt, bleibt vollkommen schleierhaft. Rund heraus gesagt, seine ganze neueste Theorie baut sich auf ein schlecht durchgelesenes Zitat auf.

Bürokratie und herrschende Klasse

Es gibt aber noch eine andere Theorie vom „nichtproletarischen" Charakter des Sowjetstaates, verwickelter, vorsichtiger, aber nicht ernsthafter. Der französische Sozialdemokrat Lucien Laurat, Gefährte Blums und Lehrer Souvarines, schrieb ein Buch zur Verteidigung der Ansicht, dass die Sowjetgesellschaft weder eine proletarische, noch eine bürgerliche sei, sondern einen ganz neuen Typ von Klassenorganisation darstelle, da die Bürokratie das Proletariat nicht nur politisch beherrsche, sondern auch wirtschaftlich ausbeute, indem es jenen Mehrwert verzehrt, der früher auf die Bourgeoisie entfiel. Laurat umgibt seine Offenbarungen mit gewichtigen Formeln aus dem „Kapital" und verleiht auf diese Art seiner oberflächlichen, rein beschreibenden „Soziologie" den Anschein der Tiefe. Dieser Zusammenstoppler weiß offenbar nicht, dass seine ganze Theorie, nur mit sehr viel mehr Feuer und Glanz, vor mehr als dreißig Jahren von dem russisch-polnischen Revolutionär Machaiski formuliert wurde, der vor seinem französischen Vulgarisator den Vorzug hatte, dass er weder die Oktoberrevolution noch die Stalinbürokratie abwartete, um schon im voraus die „Diktatur des Proletariats" als ein Gerüst für die Kommandoposten einer ausbeutenden Bürokratie zu bezeichnen. Aber auch Machaiski schuf seine Theorie nicht aus dem Nichts: er „vertiefte" nun soziologisch und ökonomisch die anarchistischen Vorurteile gegen den Staatssozialismus. Machaiski hat – beiläufig bemerkt – sich ebenfalls marxistischer Formeln bedient, doch folgerichtiger als Laurat: nach Machaiski hat der Verfasser des „Kapital" in den Formeln der Reproduktion (2. Band) böswillig jenen Teil des Mehrwerts unterschlagen, den die sozialistische Intelligenz (Bürokratie) verzehren wird. In unserer Zeit wurde eine ähnliche Art „Theorie", doch ohne Entlarvung des Ausbeuters Marx, von Mjasnikow vertreten, der erklärte, dass die Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion abgelöst sei von der Herrschaft einer neuen Klasse: der Sozialbürokratie. Höchstwahrscheinlich hat Laurat unmittelbar oder mittelbar seine Theorie bei Mjasnikow entlehnt und ihr nur einen pedantisch-„gelehrten" Ausdruck verliehen. Der Vollständigkeit halber muss man noch hinzufügen, dass Laurat sich alle Fehler (nur die Fehler) von Rosa Luxemburg zu eigen gemacht hat, darunter auch die, denen sie selbst entsagte.

Treten wir jedoch dichter an diese „Theorie" heran. Die Klasse stellt für den Marxisten einen außerordentlich wichtigen und dabei wissenschaftlich umrissenen Begriff dar. Eine Klasse wird bestimmt nicht durch den Anteil am Nationaleinkommen allein, sondern durch eine selbständige Rolle in der allgemeinen Wirtschaftsstruktur, selbständige Wurzeln im ökonomischen Fundament der Gesellschaft. Jede Klasse (Feudaladel, Bauern, Kleinbürgertum, kapitalistische Bourgeoisie, Proletariat) arbeiten ihre Grundformen des Eigentums heraus. All dieser sozialen Züge ist die Bürokratie bar. Sie nimmt keinen selbständigen Platz im Produktions- und Verteilungsprozess ein. Sie hat keine selbständigen Eigentumswurzeln. Ihre Funktionen betreffen im Grunde die politische Technik der Klassenherrschaft. Das Vorhandensein einer Bürokratie charakterisiert, bei allen Unterschieden in Form und spezifischem Gewicht, jedes Klassenregime. Ihre Kraft trägt widergespiegelten Charakter. Die Bürokratie ist unlöslich verknüpft mit der wirtschaftlich herrschenden Klasse, nährt sich aus deren sozialen Wurzeln, steht und fällt mit ihr.

Klassenausbeutung und soziales Schmarotzertum

Laurat wird sagen, dass er gegen die Bezahlung der Arbeit der Bürokratie „nichts einzuwenden" habe, soweit die notwendige politische wirtschaftliche und kulturelle Funktionen erfüllt, dass es sich aber handle um die unkontrollierte Aneignung eines ganz übermäßigen Teils des Volkseinkommens durch sie: eben in diesem Sinne sei sie eine „Ausbeuterklasse". Dies Argument, das sich auf unbestreitbare Tatsachen stützt, ändert jedoch nichts an der sozialen Physiognomie der Bürokratie.

Stets und unter jedem Regime verschlingt die Bürokratie einen nicht geringen Teil des Mehrwerts. Es wäre zum Beispiel nicht uninteressant auszurechnen, welchen Anteil am Volkseinkommen in Italien oder in Deutschland die faschistischen Heuschrecken verschlingen! Aber diese an sich nicht unwichtige Tatsache reicht ganz und gar nicht aus zur Verwandlung der faschistischen Bürokratie in eine selbständige herrschende Klasse. Sie ist ein Kommis der Bourgeoisie. Zwar sitzt dieser Kommis seinem Herrn auf den Buckel, schnappt ihm mitunter fette Bissen vom Mund weg und spuckt ihm obendrein auf die Glatze. Ein – man muss schon zugeben – recht unbequemer Kommis. Die Bourgeoisie söhnt sich mit ihm aus, denn ohne ihn würde es ihr und ihrem Regime erst recht dreckig gehen.

Mutatis mutandis (ändernd, was der Änderung bedarf), enthält das Gesagte nichts, was nicht auf die Stalinbürokratie anzuwenden wäre. Sie verschlingt, vergeudet und raubt einen beträchtlichen Teil des Volksvermögens. Ihre Verwaltung kommt den Proletariat recht teuer zu stehen. Sie nimmt in der Sowjetgesellschaft eine außerordentlich privilegierte Stellung ein, nicht nur im Sinne politischer und administrativer Rechte, sondern auch im Sinne gewaltiger materieller Vorrechte. Doch die größten Wohnungen, die saftigsten Beefsteaks und selbst Rolls-Royces verwandeln die Bürokratie nicht in eine selbständige herrschende Klasse.

In der sozialistischen Gesellschaft wäre eine Ungleichheit, und gar erst eine so schreiende, natürlich ganz unmöglich. Aber entgegen den amtlichen und halbamtlichen Lügen ist das heutige Sowjetregime kein sozialistisches, sondern ein Übergangsregime Es schleppt noch mit sich ein ungeheuerliches Erbteil des Kapitalismus, insbesondere die soziale Ungleichheit, und zwar nicht nur zwischen Bürokratie und Proletariat, sondern auch innerhalb der Bürokratie und innerhalb des Proletariats selbst. In gewissen Grenzen bleibt die Ungleichheit noch im gegebenen Stadium ein bürgerliches Werkzeug für den sozialistischen Fortschritt: der gestufte Arbeitslohn, Prämien usw., als Anreiz zum Wetteifer.

Während er die Ungleichheit erklärt, rechtfertigt der Übergangscharakter der heutigen Ordnung mit nichts jene ungeheuerlichen, offenen und heimlichen Privilegien, welche sich die unkontrollierten Spitzen der Bürokratie verschaffen. Die linke Opposition hat nicht auf die Offenbarungen Urbahns, Laurats, Souvarines, Simone Weils*** usw. gewartet, um zu erklären, dass der Bürokratismus, in allen seinen Erscheinungsformen die moralischen Grundfesten der Sowjetgesellschaft ins Wanken bringt, bei den Massen scharfe und gerechtfertigte Unzufriedenheit erzeugt und große Gefahren ansammelt. Nichtsdestoweniger ändern die Privilegien der Bürokratie für sich allein noch nichts an den Grundlagen der Sowjetgesellschaft, denn die Bürokratie schöpft ihre Privilegien nicht aus irgendwelchen besonderen, ihr als „Klasse" eigentümlichen Besitzverhältnissen, sondern aus den Eigentumsformen, die von der Oktoberrevolution geschaffen wurden, und im Grunde der Diktatur des Proletariats adäquat sind.

Soweit die Bürokratie das Volk – rundweg gesagt – bestiehlt (und das tut in verschiedenen Formen jede Bürokratie), haben wir es nicht mit Klassenausbeutung zu tun, im wissenschaftlichen Sinn des Wortes, sondern mit sozialem Schmarotzertum, wenn auch in sehr großem Maßstab. Die Geistlichkeit im Mittelalter war eine Klasse, oder ein Stand, soweit ihre Herrschaft sich auf das genau bestimmte System des Bodenbesitzes und der Fronarbeit stützte. Die heutige Kirche ist keine ausbeutende Klasse, sondern eine schmarotzende Körperschaft. Es wäre wahrhaftig unsinnig, von der amerikanischen Geistlichkeit als von einer besonderen herrschenden Klasse zu sprechen; indes ist es unzweifelhaft, dass die Pfaffen verschiedener Färbung in den Vereinigten Staaten einen beträchtlichen Teil des Mehrwerts verschlingen. Durch die Züge des Schmarotzertums nähert sich die Bürokratie, wie die Geistlichkeit, dem Lumpenproletariat, das bekanntlich ebenfalls keine selbständige „Klasse" darstellt.

Zwei Perspektiven

Die Frage nimmt plastischere Formen an, wenn wir sie nicht im statischen, sondern im dynamischen Querschnitt nehmen. Einen gewaltigen Teil des Nationaleinkommens unproduktiv verschwendend, ist die Bürokratie am wirtschaftlichen und kulturellen Wachstum des Landes interessiert: je höher das Nationaleinkommen, umso reichlicher der Fonds ihrer Privilegien. Indes muss auf den sozialen Grundlagen des Sowjetstaates der wirtschaftliche und kulturelle Aufstieg der werktätigen Massen die Grundlagen der bürokratischen Herrschaft selbst untergraben. Es ist klar, dass bei dieser glücklichen geschichtlichen Variante die Bürokratie sich nur als ein Werkzeug – ein schlechtes und kostspieliges – des sozialistischen Staates erweist.

Aber indem sie einen immer größeren Teil des Nationaleinkommens verschlingt, und die Grundproportionen der Wirtschaft verletzt – so wird man uns entgegnen – verzögert die Bürokratie das wirtschaftliche und kulturelle Wachstum des Landes. Ganz richtig! Eine weitere ungehinderte Entwicklung des Bürokratismus müsste unvermeidlich zu einer Stockung des wirtschaftlichen und kulturellen Wachstum, zu einer grausamen sozialen Krise und zu einem Rückfluten der gesamten Gesellschaft führen. Doch das würde nicht bloß der Zusammenbruch der proletarischen Diktatur, sondern zugleich auch das Ende der bürokratischen Herrschaft bedeuten. An die Stelle des Arbeiterstaats träten nicht .„sozialbürokratische", sondern kapitalistische Verhältnisse.

Wir hoffen, dass diese perspektivenmäßige Fragestellung ein für alle Mal helfen werde, uns in dem Streit um die Klassennatur der UdSSR zurechtzufinden: ob wir uns die Variante des weiteren Fortschreitens des Sowjetregimes, oder die Variante seines Zusammenbruchs zu eigen machen, die Bürokratie erweist sich gleichviel nicht als selbständige Klasse, sondern als eine Wucherung am Proletariat. Die Geschwulst kann gewaltige Ausmaße annehmen und sogar den lebenden Organismus ersticken, doch niemals kann die Geschwulst sich in einen selbständigen Organismus verwandeln. Fügen wir endlich zur völligen Klarstellung hinzu: wäre heute in der UdSSR eine marxistische Partei an der Macht, so würde sie das ganze politische Regime erneuern, die Bürokratie umkrempeln, säubern und der Kontrolle durch die Massen unterstellen, die ganze administrative Praxis umgestalten, eine Reihe kapitaler Reformen in der Wirtschaftsführung vornehmen, aber keinesfalls würde sie genötigt sein, einen Umsturz in den Eigentumsverhältnissen, d. h. eine neue soziale Revolution zu vollziehen.

Mögliche Wege der Konterrevolution

Die Bürokratie ist keine herrschende Klasse. Aber die Weiterentwicklung des bürokratischen Regimes kann zur Entstehung einer neuen herrschenden Klasse führen; nicht auf dem organischen Wege des Entartens, sondern über die Konterrevolution. Gerade darum nennen wir den stalinschen Apparat zentristisch, weil er eine doppelte Rolle ausführt: heute, wo es eine marxistische Führung schon nicht mehr und noch nicht gibt, verteidigt er mit seinen Methoden die proletarische Diktatur; aber diese Methoden sind derart, dass sie einen morgigen Sieg des Feindes erleichtern. Wer diese doppelte Rolle des Stalinismus in der UdSSR nicht begriffen hat, der hat gar nichts begriffen.

Die sozialistische Gesellschaft wird leben ohne Partei, wie auch ohne Macht. In den Verhältnissen der Übergangsepoche aber spielt der politische Überbau die entscheidende Rolle. Eine entfaltete und fest stehende Diktatur des Proletariats setzt voraus die führende Rolle der Partei als selbsttätige Vorhut, die Zusammenfassung des Proletariats mit Hilfe des Systems der Gewerkschaftsverbände, die untrennbare Bindung der Werktätigen an den Staat durch das System der Sowjets, endlich die Kampfeinheit des Arbeiterstaates mit dem Weltproletariat durch die Internationale. Indes, die Bürokratie hat Partei, Gewerkschaften, Sowjets und Komintern erstickt. Unnötig, hier darzulegen, welch gigantischer Anteil der Schuld an der Entartung des proletarischen Regimes auf die mit Verbrechen und Verrat bedeckte internationale Sozialdemokratie fällt, zu der auch Herr Laurat gehört.x

Aber welches auch immer die wirkliche Verteilung der geschichtlichen Verantwortung sein möge, das Ergebnis ist dasselbe: die Erstickung von Partei, Sowjets und Gewerkschaften bedeutet die politische Atomisierung des Proletariats. Die sozialen Antagonismen werden nicht politisch überwunden, sondern administrativ unterdrückt. Sie häufen sich unter dem Druck in demselben Maße, in dem die politischen Hilfsquellen für ihre normale Lösung schwinden. Die erste größere soziale Erschütterung, von außen oder innen her, kann die atomisierte Sowjetgesellschaft in Bürgerkriegszustand versetzen. Die Arbeiter, die die Kontrolle über Staat und Wirtschaft verloren haben, können zum Massenstreik Zuflucht nehmen als zu einer Waffe der Selbstverteidigung. Die Disziplin der Diktatur wird gebrochen sein. Unter dem Stoß der Arbeiter wie unter dem Druck der wirtschaftlichen Schwierigkeiten werden sich die Trusts als gezwungen erweisen, das Plansystem zu durchbrechen und in gegenseitige Konkurrenz zu treten. Die Erschütterung des Regimes wird natürlich stürmischen und chaotischen Widerhall auf dem Lande finden und unvermeidlich auch auf die Armee übergreifen Der sozialistische Staat wird zusammenstürzen, Platz machend dem kapitalistischem Regime, richtiger, dem kapitalistischen Chaos.

Die Stalinpresse wird unsere warnende Analyse natürlich als konterrevolutionäre Prophezeiung oder gar als „Wunsch" der Trotzkisten wiedergeben. Für das Zeitungsgesinde des Apparats haben wir längst kein anderes Gefühl mehr übrig als stille Verachtung. Wir finden die Lage gefährlich, aber keineswegs hoffnungslos. Jedenfalls wäre es schändlicher Kleinmut und glatter Verrat, gäbe man die größte revolutionäre Position verloren – vor dem Kampf und ohne Kampf.

Ist eine „friedliche" Enthebung der Bürokratie möglich?

Wenn es wahr ist, dass die Bürokratie in ihren Händen die ganze Macht und alle Zugänge zu ihr hält – und das ist wahr – so taucht die nicht unwichtige Frage auf: wie soll man die Reorganisierung des Sowjetstaates erreichen?, und kann man diese Aufgabe mit friedlichen Mitteln lösen?

Vor allem stellen wir, in Form eines unumstößlichen Axioms fest, dass die Aufgabe nur durch eine revolutionäre Partei zu lösen ist. Die Schaffung einer revolutionären Partei in der UdSSR aus den gesunden Elementen der alten Partei und aus der Jugend ist die geschichtliche Hauptaufgabe. Weiter unten wird gesagt werden, unter welchen Umständen sie gelöst werden kann. Stellen wir jedoch fest, dass eine solche Partei schon bestellt. Auf welche Weise könnte sie die Macht erobern? Schon 1927 sagte Stalin zur Opposition: „die heute regierende Gruppierung kann nur durch Bürgerkrieg beseitigt werden." Das war eine ihrem Geiste nach bonapartistische Herausforderung – gerichtet nicht an die Linke Opposition, sondern an die Partei. Als sie in ihren Händen alle Hebel vereinigt hatte, kündigte die Bürokratie offen an, dass sie dem Proletariat nicht mehr erlauben werde, das Haupt zu erheben. Der weitere Gang der Ereignisse verlieh dieser Herausforderung ein großes Gewicht. Nach der Erfahrung der letzten Jahre wäre es eine Kinderei zu glauben, dass die Stalinbürokratie mit Hilfe eines Partei- oder Sowjetkongresses abzusetzen wäre. Im Grunde war der 12. Kongress (Anfang 1923) der letzte Kongress der bolschewistischen Partei. Die nachfolgenden Kongresse waren bürokratische Paraden. Heute sind auch solche Kongresse abgeschafft. Zur Beseitigung der regierenden Clique sind keine normalen „konstitutionellen" Wege geblieben. Die Bürokratie zwingen, die Macht in die Hände der proletarischen Vorhut zu legen, kann man nur mit Gewalt.

Die Lakaien werden sogleich im Chor einfallen: die „Trotzkisten" predigen, ganz wie Kautsky, den bewaffneten Aufstand gegen die Diktatur des Proletariats. Aber gehen wir weiter. Für die neue proletarische Partei kann die Frage der Machteroberung praktisch nur in dem Augenblick stehen, wo sie um sich die Mehrheit der Arbeiterklasse geschart hat. Auf dem Wege zu einer solchen radikalen Änderung des Kräfteverhältnisses wird die Bürokratie sich als immer zerrissener herausstellen. Die sozialen Wurzeln der Bürokratie liegen, wie wir wissen, im Proletariat: wenn nicht in seiner aktiven Unterstützung, so wenigstens in seiner „Tolerierung". Geht das Proletariat zur Aktivität über, so wird der stalinsche Apparat in der Luft hängen. Versucht er jedoch, sich zu widersetzen, so werden gegen ihn nicht Bürgerkriegs-, sondern eher Polizeimaßnahmen zu ergreifen, sein. Jedenfalls wird es sich nicht um einen Aufstand gegen die Diktatur des Proletariats handeln, sondern um die Entfernung einer bösartigen Geschwulst von ihr.

Ein wirklicher Bürgerkrieg könnte sich nicht entwickeln zwischen der Stalinbürokratie und dem sich erhebenden Proletariat, sondern zwischen dem Proletariat und den aktiven Kräften der Konterrevolution. Von einer selbständigen Rolle der Bürokratie für den Fall des offenen Zusammenpralls der beiden Massenlager könnte nicht die Rede sein. Ihre polaren Flügel würden sich auf die verschiedenen Seiten der Barrikade verteilen. Das Schicksal der weiteren Entwicklung würde natürlich bestimmt sein durch den Ausgang des Kampfes. Jedenfalls wäre ein Sieg des revolutionären Lagers nur denkbar unter der Führung der proletarischen Partei, die durch den Sieg über die Konterrevolution auf natürliche Weise zur Macht emporgehoben wäre.

Die neue Partei in der UdSSR

Was steht näher bevor: die Gefahr des Zusammenbruchs der vom Bürokratismus zernagten Sowjetmacht, oder die Stunde des Zusammenschlusses des Proletariat zu einer neuen Partei, fähig, das Oktobererbe zu retten? Auf diese Frage gibt es keine aprioristische Antwort; entscheiden wird der Kampf. Das Kräfteverhältnis wird festgestellt werden bei einer großen geschichtlichen Probe, die auch ein Krieg sein kann. Klar ist jedenfalls, dass mit den inneren Kräften allein bei weiterem Niedergang der proletarischen Weltbewegung und der Ausbreitung der faschistischen Herrschaft man die Sowjetmacht nicht lange halten kann. Die Hauptvoraussetzung, bei der eine gründliche Reform des Sowjetstaates erst möglich ist, ist eine siegreiche Entwicklung der Weltrevolution.

Die revolutionäre Bewegung in Westen kann auch ohne Partei wiederauferstehen, siegen kann sie nur unter der Führung der Partei. Für die gesamte Epoche der sozialen Revolution, d. h. für eine Reihe von Jahrzehnten, bleibt die internationale revolutionäre Partei das Hauptwerkzeug des geschichtlichen Fortschritts. Urbahns, der herumschreit, dass die „alten Formen" sich überlebt hätten, dass etwas „neues" vonnöten sei – was aber? – offenbart nur seine Verwirrung … und zwar in recht alten Formen. Die Gewerkschaftsarbeit unter den Verhältnissen des „Plan"kapitalismus, der Kampf gegen den Faschismus und den heranrückenden Krieg werden unzweifelhaft diese oder jene neuen Methoden und Typen von Kampforganisationen hervor rücken lassen. Man muss nur nicht, wie die Brandlerianer, vom illegalen Gewerkschaften fantasieren, sondern aufmerksam den tatsächlichen Verlauf des Kampfes beobachten, die Initiative der Arbeiter selbst aufgreifen, sie entwickeln und verallgemeinern. Aber eben, um diese Arbeit durchzuführen, braucht man vor allem eine Partei, d. h. einen politisch geschlossenen Kern der proletarischen Vorhut Urbahns Einstellung ist subjektiv: er ist von der Partei enttäuscht, nachdem er mit Erfolg seine eigene „Partei" auf den Grund gesteuert hat.

Manche Neuerer erklären: wir haben schon „längst" gesagt, dass neue Parteien nötig seien, jetzt sehen das endlich auch die „Trotzkisten" ein; einmal werden sie auch begreifen, dass die Sowjetunion kein Arbeiterstaat ist. Diese Leute machen astronomische „Entdeckungen", anstatt den realen Geschichtsprozess zu verfolgen. Gorters Sekte und die deutsche „Kommunistische Arbeiter-Partei" entschieden schon 1921, dass die Komintern verloren sei. Solche Erklärungen gab es seither nicht wenig (Loriot, Korsch, Souvarine usw.). Jedoch aus diesen „Diagnosen" entstand absolut nichts, weil sie nur die subjektive Enttäuschung von Zirkeln oder Personen und nicht das objektive Erfordernis des Geschichtsprozesses ausdrückten. Eben darum bleiben auch die schreihalsigen Neuerer heute abseits.xx

Der Gang der Ereignisse folgt nicht einer im Voraus angegebenen Marschroute. In den Augen der Massen und nicht einiger Einzelgänger, hat sich die Komintern mit der Kapitulation vor dem Faschismus zugrunde gerichtet. Aber der Sowjetstaat besteht, allerdings mit stark gesunkener Autorität, auch nach dem Schiffbruch der Komintern weiter. Man muss die Tatsachen nehmen, wie sie die wirkliche Entwicklung liefert, darf nicht launisch werden, schmollen wie Simone Weil, nicht sich von der Geschichte beleidigt fühlen und ihr nicht den Rücken kehren.

Um neue Parteien und eine neue Internationale zu errichten, bedarf es vor allem zuverlässiger prinzipieller Grundlagen, die auf der Höhe unserer Epoche stehen. Wir machen uns keinerlei Illusionen über die Mängel und Lücken im theoretischen Inventar der Bolschewiki-Leninisten. Jedoch ihre zehnjährige Arbeit schuf die hauptsächlichen theoretischen und strategischen Voraussetzungen für den Aufbau der neuen Internationalen. Hand in Hand mit den neuen Bundesgenossen werden wir diese Voraussetzungen entwickeln und auf Grund der Kampfpraxis konkretisieren

Die 4. Internationale und die UdSSR

Den Kern der neuen Partei in der UdSSR – eigentlich der unter neuen Umständen wiedererstehenden bolschewistischen Partei – wird die Gruppierung der Bolschewiki-Leninisten bilden. Sogar die offizielle Sowjetpresse der letzten Monate bezeugt, dass unsere Gesinnungsgenossen mutig und nicht ohne Erfolg ihre Arbeit tun. Aber Illusionen wären nicht am Platze: die Partei des revolutionären Internationalismus wird nur in dem Falle die Arbeiter von denn zersetzenden Einfluss der nationalen Bürokratie befreien können, wenn eine internationale proletarische Vorhut von neuem als Kampfkraft auf der Arena erscheinen wird.

Seit Beginn des imperialistischen Krieges, und in entwickelterer Form seit der Oktoberrevolution spielte die Partei der Bolschewiki die führende Rolle in der internationalen revolutionären Bewegung. Heute ist diese Stellung ganz und gar verloren gegangen. Das bezieht sich nicht nur auf die offizielle Karikatur von Partei. Die ganz außerordentlich schwierigen Arbeitsbedingungen der russischen Bolschewiki-Leninisten schließen für sie die Möglichkeit einer führenden Rolle im internationalen Maßstab aus. Mehr noch: die Gruppierung der „Linken Opposition" in der UdSSR kann sich in eine neue Partei verwandeln nur als Ergebnis eines erfolgreichen Formierens und Wachsens der neuen Internationale. Der revolutionäre Schwerpunkt hat sich endgültig nach Westen verschoben, wo die sofortigen Möglichkeiten für den Parteiaufbau unermesslich größer sind.

Unter dem Einfluss der tragischen Erfahrung der letzten zehn Jahre sammelte sich im Proletariat aller Länder eine gewaltige Menge revolutionärer Elemente, die auf ein klares Wort und ein unbeflecktes Banner warten. Zwar haben die Konvulsionen der Komintern fast überall neue Arbeiterschichten zur Sozialdemokratie getrieben. Aber eben dieser Zustrom aufgerüttelter Massen wird zu einer furchtbaren Gefahr für den Reformismus: er kracht in allen Fugen und zerfällt in Fraktionen, aller Orten den revolutionären Flügel absondernd. Das sind die unmittelbaren politischen Voraussetzungen der neuen Internationale. Der erste Stein ist bereits gelegt: das ist die Prinzipienerklärung der vier Organisationen.

Vorbedingung, für weitere Erfolge ist eine richtige Einschätzung der Weltlage, darunter auch der Klassennatur der Sowjetunion. Auf dieser Linie wird die neue Internationale einer Prüfung schon in den ersten Tagen ihres Daseins unterzogen werden. Bevor sie den Sowjetstaat wird reformieren können, muss sie seine Verteidigung übernehmen.

Jede politische Richtung, die im Zeichen des „nichtproletarischen" Charakters der Union ihr hoffnungslos abwinkt, läuft Gefahr, zu einem passiven Werkzeug des Imperialismus zu werden. Auch vom unserem Gesichtspunkt aus ist selbstverständlich die tragische Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass der erste Arbeiterstaat, entkräftet durch seine Bürokratie, unter den vereinten Schlägen der inneren und äußeren Feinde fällt. Doch selbst bei dieser schlimmsten Variante wird von gewaltiger Bedeutung für den weiteren Gang des revolutionären Kampfes die Frage sein, wo die Urheber der Katastrophe sitzen. Auf die revolutionären Internationalisten darf nicht das geringste Teilchen Schuld fallen. In der Stunde der Todesgefahr müssen sie auf der letzten Barrikade aushalten.

Heute würde eine Erschütterung des bürokratischen Gleichgewichts in der UdSSR fast unfehlbar den konterrevolutionären Kräften zugute kommen. Bei Vorhandensein einer wirklich revolutionären Internationale wird die unvermeidliche Krise des Stalinregimes die Möglichkeit zu einer Wiedergeburt der UdSSR bieten. Das ist unser grundlegender Kurs.

Die Außenpolitik des Kreml fügt jeden Tag dem Weltproletariat neue Schläge zu: sich von den Massen losreißend, treten die diplomatischen Beamten unter Stalins Führung die elementarsten revolutionären Gefühle der Arbeiter aller Länder mit Füßen, zum größten Schaden vor allem der Sowjetunion selbst. Aber das kommt durchaus nicht unerwartet. Die äußere Politik der Bürokratie ergänzt die innere. Wir bekämpfen die eine wie andere. Aber wir kämpfen unter dem Gesichtswinkel der Verteidigung des Arbeiterstaates.

Die Beamten der zerfallenden Komintern in den verschiedenen Ländern fahren fort, der Sowjetunion Treue zu schwören. Es wäre eine unverzeihliche Dummheit, irgendwie auf diese Schwüre zu bauen. Die marktschreierische „Verteidigung" der UdSSR stellt für die meisten von diesen Leuten nicht eine Überzeugung, sondern einen Beruf dar. Sie schlagen sich nicht um die Diktatur des Proletariats, sondern verwischen die Spur der Stalinbürokratie (siehe z. B. die ,,Humanité"). In der kritischen Stunde wird die Stütze, welche die barbussisierte Komintern der Sowjetunion bieten wird, nicht größer sein, als der Widerstand, den sie Hitler leistete. Anders die revolutionären Internationalisten. Seit einem Jahrzehnt von der Bürokratie schimpflich gehetzt, rufen sie unermüdlich die Arbeiter auf zur Verteidigung der Sowjetunion.

An dem Tage, wo die neue Internationale den russischen Arbeitern – nicht in Worten, sondern in der Tat – beweisen wird, dass sie und nur sie für die Verteidigung des Arbeiterstaates einsteht, wird die Stellung der Bolschewiki-Leninisten innerhalb der Union sich in 24 Stunden gewandelt haben. Die neue Internationale wird der Stalinbürokratie die Einheitsfront gegen die gemeinsame Feinde vorschlagen. Und wenn unsere Internationale eine Kraft darstellt, wird die Bürokratie in der Minute der Gefahr die Einheitsfront nicht verweigern können. Was bleibt dann von den jahrelangen Anwürfen von Lügen und Verleumdung?

Die Einheitsfront mit der Stalinbürokratie wird auch im Kriegsfall keine „heilige nationale Einheit" bedeuten, nach dem Beispiel der bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien, die während des imperialistischen Gemetzels die gegenseitige Kritik einstellen, um desto gewisser das Volk zu betrügen. Nein, auch im Kriegsfall würden wir kritische Unversöhnlichkeiten in Bezug auf den bürokratischen Zentrismus bewahren, der seine Unfähigkeit, einen wahrhaft revolutionären Krieg zu führen, wird offenbaren müssen.

Das Problem der Weltrevolution wie das Problem der Sowjetunion lassen sich in ein und dieselbe kurze Formel zusammenfassen:

Vierte Internationale

1. Oktober 1933.

L. TROTZKI.

* Die neunmalklugen amerikanischen Brandlerianer (Lovestonegruppe) komplizieren die Frage noch: nämlich die Wirtschaftspolitik sei einwandfrei, doch das politische Regime sei schlecht: keine Demokratie. Diesen Theoretikern kommt es nicht in den Sinn, sich zu fragen: warum liquidiert denn Stalin die Demokratie bei einer richtigen und erfolgreichen Wirtschaftspolitik? Etwa aus Furcht, Partei und Arbeiterklasse möchten bei Vorhandensein der proletarischen Demokratie allzu ungestüm und stürmisch ihre Begeisterung über die Wirtschaftspolitik ausdrücken?

** Interessenten – wenn sich solche finden sollten – mögen sich mit der „Plattform" der „Kommunisten(!)-Demokraten" bekannt machen. Vom Standpunkt der Grundlagen des Marxismus ist es schwer, sich ein scharlatanhafteres Dokument vorzustellen.

*** In Verzweiflung über die „misslungenen Versuche mit der Diktatur des: Proletariats" fand Simone Weil einen Trost in dem neuem Ruf: Rettung der Persönlichkeit vor der Gesellschaft. Eine Formel des alten Liberalismus aufgefrischt durch billige anarchistische Ereiferung! Und zu denken, dass Simone Weil erhaben von unseren „Illusionen" spricht! Sie und ihresgleichen hätten viele Jahre angestrengter Arbeit nötig, um sich von den reaktionärsten kleinbürgerlichen Vorurteilen zu befreien. Versteht sich, dass ihre neuen Anschauungen in dem Organ Obdach fanden, das die offenbar ironisch gemeinte Bezeichnung „Die proletarische Revolution" trägt. Louzons Blatt ist, wie es besser nicht geht, zugeschnitten auf revolutionäre Melancholiker politische Rentiers, die von den Prozenten eines Erinnerungskapitals leben, und anmaßende Schwätzer die sich vielleicht der Revolution anschließen … wenn sie vollbracht ist.

x Dieser Prophet beschuldigt die russischen Bolschewiki-Leninisten des Mangels an revolutionärer Entschlossenheit. Im austromarxistischen Stil Revolution und Konterrevolution, die Rückkehr zur bürgerlichen Demokratie mit der Rettung der proletarischen Diktatur vermengend, erteilt Laurat Rakowski Lehren im revolutionären Kampf. Eben derselbe Gentleman erklärt beiläufig Lenin für einem „mittelmäßigen Theoretiker". Kein Wunder! Lenin, der den kompliziertesten theoretischen Schlussfolgerungen den schlichtesten Ausdruck verlieh, kann dem anmaßenden Philister nicht imponieren, der dürftigen und platten Verallgemeinerungen ein kabbalistisches Äußeres verleiht.

Entwurf für eine Visitenkarte: „Lucien Laurat, Reservetheoretiker und -stratege der proletarischen Revolution … für Russland; seinem ständigen Berufe nach Gehilfe Leon Blums". Die Aufschrift ist ein wenig lang, aber richtig. Und man sagt, dass dieser „Theoretiker" Anhänger habe unter der Jugend. Arme Jugend!

xx Seinem eigentlichen Wesen nach kann sich das Gesagte nicht auf jene Organisationen beziehen, die vor verhältnismäßig kurzer Zeit sich von der Sozialdemokratie abspalteten oder überhaupt ihren eigenen Entwicklungstyp besaßen (wie die holländische Rev. Soc. Partei) und die es naturnotwendig ablehnten, ihr Schicksal an das der Komintern in ihrer Verfallsepoche zu ketten. Die besten von diesen Organisationen stellen sich heute unter das Banner der neuen Internationale. Andere werden es morgen tun.

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