Leo
Trotzki: Die Plattform der Brandler-Gruppe
[Nach
Unser
Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1,
Nr.
6
(Anfang Juni 1933), S. 2]
Die
in Straßburg erschienene Nr. 5 von „Gegen den Strom"
der Gruppe Brandler-Thalheimer enthält Thesen über den Kampf gegen
den Faschismus und andere programmatische Erklärungen. Für die
Bestimmung der Physiognomie der Gruppe ist diese Nummer sehr wichtig.
Was haben die Brandlerianer aus der Katastrophe gelernt? Sind sie
vorwärts gerückt? Sagen wir es sogleich: Die Thesen enthalten eine
Reihe ganz unzweifelhafter Grundsätze, hauptsächlich auf dem Gebiet
der Kritik an dem Parteiregime der Politik der „Einheitsfront nur
von unten" und der Theorie vom Sozialfaschismus. Aber nach Abzug
dieser kritischen Gedanken (die bei all ihrer Elementarheit
beharrlich wiederholt werden müssen) bleibt „Gegen den Strom"
ein Dokument des Opportunismus, sowohl darin, was diese
Veröffentlichung ausspricht, wie in dem, was sie nicht zu Ende
führt.
1.
Die Thesen beschuldigen die Stalinsche Bürokratie zu Recht, dass sie
böswillig die Bedeutung der Niederlage verringert. Aber aus ihrer
eigenen Einschätzung der Katastrophe ziehen die Brandlerianer nicht
die notwendige Schlussfolgerung in Bezug auf die Partei. Als Aufgabe
stellen sie den Neuaufbau der Partei. Wie früher äußern sie den
Wunsch, in die Partei zurückzukehren, d.h. sie verhalten sich so,
als ob keinerlei Katastrophe eingetreten sei. Politisch helfen die
Brandlerianer damit den Stalinisten, die Bedeutung und die Ausmaße
der Niederlage zu verwischen.
2.
„Geschlagen ist nicht der Kommunismus", schreiben sie, „aber
geschlagen ist die ultralinke Taktik, geschlagen ist das
bürokratische Regiment, geschlagen ist die bisherige Methode der
Führung …" Die Frage wird nicht politisch, sondern doktrinär
gestellt, als ob der Kampf zwischen abstrakten Prinzipien vor sich
ginge und nicht zwischen den lebendigen politischen Kräften. Der
Kommunismus ist als Lehre natürlich nicht geschlagen, aber
geschlagen
ist jene Partei in Deutschland, die eine falsche Taktik, ein
bürokratisches Regime besaß und das Proletariat in die Katastrophe
stieß.
3.
Schiffbruch erlitt der „ultralinke Kurs". Woher kommt er?
Welches ist sein sozialer Inhalt? Wer ist sein Träger? In dieser
Hinsicht vernehmen wir wie früher nicht ein Wort. Indessen erkennen
die Brandlerianer an, dass die falsche Politik der Komintern, die zu
ihrem Niedergang geführt hat, schon zehn Jahre dauert. Woher kommt
eine solche unerhörte Beharrlichkeit des körperlosen „ultralinken
Kurses"?
4.
Ist es aber wahr, dass der Kurs der Epigonenkomintern immer
„ultralinks" war? War die fünfjährige Unterordnung der
chinesischen Kompartei unter die Kuomintang ultralinks? Wie soll man
die Politik des Anglo-Russischen Komitees bezeichnen, das die viel
versprechende „Bewegung der Minderheit" in den britischen
Trade Unions zugrunde richtete? War die Politik der Komintern
ultralinks in Indien? In Japan? („Arbeiter- und Bauernparteien")
Ist es etwa nicht offenkundig, dass das Programm der „nationalen
Befreiung" eine grobe, opportunistische Anpassung an die
chauvinistische Psychologie des deutschen Kleinbürgers war und
bleibt? Kann man etwa die heutige Politik des Blocks mit bürgerlichen
Pazifisten, Einzelgänger-Demokraten usw.: den Antikriegskongress,
den Antifaschistischen Kongress, die Antiimperialistische Liga,
überhaupt die ganze von Münzenberg geleitete Arbeit des Ressorts
für Maskeraden und Scharlatanerien als ultralinks buchen? Kann des
Ultralinkstums die Erklärung der Komintern vom 5. März bezichtigt
werden, welche die Bereitschaft äußerte, sich für die ganze Zeit
der Einheitsfront einer Kritik an der Sozialdemokratie zu enthalten?
5.
Die Thesen stellen fest, dass die ultralinke Politik aller
ausländischen Sektionen vom Politbüro der KPdSU kommandiert wird.
Wie aber verhält es sich mit der Politik in der UdSSR selbst? Feiert
nicht auch dort der ultralinke Kurs Orgien? Ist nicht die
durchgängige Kollektivierung und die übertriebene
Industrialisierung Ausdruck eines ultralinken Kurses? Und
andererseits: Kann man leugnen, dass der Periode des wirtschaftlichen
Abenteurertums in der UdSSR Jahre des wirtschaftlichen Opportunismus
vorangingen?
6.
Das Politbüro der KPdSU ist nach dem Wortlaut der Thesen nicht
imstande, unmittelbar die Politik mehrerer Dutzend
Länder
zu führen.
An und für sich ist das unbestreitbar, aber es erklärt gar nicht
den Charakter der Krankheiten, die die Komintern zerfressen. Wenn es
sich bloß handelte um die Entfernung des Politbüros, um den Mangel
an Zeit, den Mangel an Vertrautheit mit der Lage in den verschiedenen
Ländern, so besäßen die Fehler verschiedenartigsten Charakter.
Indessen handelt es sich nicht um einzelne empirische Fehler, sondern
um die von Grund auf falsche Richtung. Was ist ihr Wesen? Wodurch
wird ihre Hartnäckigkeit und ihre verhältnismäßige Beständigkeit
bestimmt?
7.
Was bedeutet das System des Kommandierens einiger Dutzend Parteien
durch das Sekretariat des Politbüros? Ist das Zufälligkeit,
Geistesverwirrung? Die Brandlerianer reden viel vom Bürokratismus,
aber sie verstehen den Sinn dieses Wortes nicht zureichend. Der
Bürokratismus, soweit es sich nicht um einzelne zufällige
Abweichungen, sondern um ein mächtiges System handelt, ist die Art
des Denkens und Handelns einer Bürokratie, d.h. einer besonderen
sozialen Schicht, die in Widerspruch zur proletarischen Avantgarde
treten kann und tritt. Ist nicht die Hauptträgerin des
Bürokratismus in der Komintern die Sowjetbürokratie?
8.
Die Brandlerianer sind gezwungen, diese zentrale Frage zu umgehen,
weil sie ihrem ganzen Charakter und Geist nach nur ein in Acht
erklärter, beleidigter kleiner Trupp derselben Bürokratie sind.
Sie kämpfen gegen das „Ultralinkstum", sagen aber nichts
über den Opportunismus der Bürokratie, da sie selbst alle ihre
rechten Fehler teilten und teilen.
9.
Die Thesen stellen fest, dass der Anfang der falschen Politik der
Komintern ungefähr mit dem Rücktritt Lenins von der Arbeit
zusammenfällt. Ist es jedoch den Brandlerianern bekannt, dass die
Verbiegung der Generallinie – nach rechts und nach links vom
Marxismus – mit Hilfe eines einzigen ideologischen Hebels erfolgt:
des Kampfes gegen den Trotzkismus? Schiebt man die persönlichen
Details, die Fälschung, die Hetze usw. beiseite, und nimmt man das
Wesentliche an der Sache, so ging unter dem Schein des Kampfes gegen
den Trotzkismus die Revision der Methodologie Marxens und Lenins vor
sich. Die Brandlerianer haben dies bis heute nicht begriffen. Sie
meinen, dass der Kampf gegen den Trotzkismus „an und für sich"
richtig war, dass aber unter dem Deckmantel dieses Kampfes, der im
Verlauf mehrerer Jahre den Hauptinhalt der Parteiideologie bildete,
durch irgendein Wunder ein Abrutschen von der Linie des Leninismus
auf die Linie des „ultralinken Kurses" (eigentlich auf die
Linie des bürokratischen Zentrismus) sich vollzog.
10.
Wären die Brandlerianer Marxisten, Internationalisten, so könnten
sie nicht die Politik der zentristischen Bürokratie in der UdSSR
für unantastbar erklären und in Deutschland dieselbe
Unantastbarkeit für sich verlangen. Es geht hier gar nicht um die
Selbstbestimmung der nationalen Sektionen (die Notwendigkeit einer
solchen Selbstbestimmung erkennen wir vollkommen an), sondern um die
falsche Einschätzung der internationalen Gruppierungen im
Kommunismus.
11.
Die Thesen erklären, dass außer der Brandlerorganisation keinerlei
Kräfte vorhanden seien, die die deutsche Partei und die Komintern
neu aufbauen könnten. Selbst wenn man diesen maßlosen Anspruch
hinsichtlich Deutschlands anerkennt (wir sind, wie aus all dem
Gesagten hervorgeht, fern von einer solchen Anerkennung) – wie
soll es aber mit der Komintern geschehen? Die Brandlerianer haben
Recht, dass die Kommunistische Internationale in den letzten zehn
Jahren systematisch verfiel. Aber warum verfiel in den letzten zwei
bis drei Jahren die Internationale der Brandlerianer selbst? Im
Jahre 1929 stellte sie eine ansehnliche Kraft dar, heute besteht sie
aber nur noch aus Bruchstücken. Die Ursache dafür ist, dass in der
Epoche des Imperialismus eine opportunistische Strömung nicht
imstande ist, irgendeine lebensfähige internationale Organisation
zu schaffen, und folglich auch die Komintern wiederaufzurichten.
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★
In
den Thesen ist eine Reihe von fehlerhaften oder zweideutigen
taktischen Erwägungen enthalten, auf die wir vielleicht noch bei
Gelegenheit zurückkommen werden. Jetzt wollten wir nur zeigen, dass
die deutsche Katastrophe leider die Brandlerianer nichts gelehrt hat.
Auf dem Gebiet der Fragen der Taktik sind sie nur soweit im Recht,
als von dem Kampf gegen die ultralinken Zickzacks die Rede ist; aber
sie teilen alle oder fast alle Fehler der rechten Zickzacks des
Stalinismus, und, was wohl noch schlimmer ist, sie sind nicht
imstande, sich von den Fragen der Taktik zu den Fragen der Strategie
zu erheben. Die Politik der Internationale ist für sie eine Summe
von nationalen Politiken. Auch jetzt sind sie nicht imstande, die
Grundströmungen in der Weltarbeiterbewegung zu verstehen und unter
ihnen ihren Platz zu finden. Die Strömung der Brandlerianer hat
daher keinerlei Zukunft.
Prinkipo,
22. Mai 1933