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Leo Trotzki 19330314 Die Tragödie des deutschen Proletariats

Leo Trotzki: Die Tragödie des deutschen Proletariats

Die deutsche Arbeiterklasse wird sich wieder aufrichten, der Stalinismus nie!

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr. 2 (Anfang April 1933), S. 1 f.]

Das nach seiner Rolle in der Produktion, nach seinem sozialen Gewicht, nach der Stärke seiner Organisation mächtigste Proletariat in Europa hat bei dem Kommen Hitlers an die Macht und dem ersten wilden Ansturm auf die Arbeiterorganisationen keinen Widerstand geleistet. Das ist die Tatsache, von der man im Weiteren bei allen strategischen Überlegungen ausgehen muss.

Es wäre selbstverständlich unsinnig zu glauben, dass die Entwicklung in Deutschland den italienischen Weg einschlagen wird – dass Hitler seine Herrschaft ohne ernstlichen Widerstand Schritt für Schritt festigt, dass dem deutschen Faschismus lange Jahre der Herrschaft bevorstehen. Nein, Schlussfolgerungen über das weitere Schicksal des Nationalsozialismus muss man aus der Analyse der deutschen und der internationalen Bedingungen ziehen, nicht aber aus historischen Analogien. Eins steht von jetzt an fest: haben wir von der Komintern bereits seit September 1930 für Deutschland eine Politik auf kurze Sicht gefordert haben, muss man sich jetzt umstellen auf eine Politik der weiten Sicht. Bevor entscheidende Kämpfe möglich sein werden, wird sich die Avantgarde des deutschen Proletariats umorientieren müssen, d.h. das Vorgefallene klar begreifen, die Verantwortung für die große historische Niederlage richtig verteilen, neue Wege vorzeichnen und das Selbstvertrauen wiedergewinnen müssen.

Die verbrecherische Rolle der Sozialdemokratie erfordert keine Kommentare; die Komintern wurde vor 14 Jahren gerade zu dem Zweck geschaffen, das Proletariat dem demoralisierenden Einfluss der Sozialdemokratie zu entreißen. Dass es bis jetzt nicht gelungen ist, dass das deutsche Proletariat bei der größten historischen Prüfung sich als ohnmächtig, entwaffnet, paralysiert erwies, ist die direkte und unmittelbare Schuld der nachleninschen Führung der Komintern. Das ist die erste Folgerung, die heute gezogen werden muss.

Unter den Schlägen der Stalinschen Bürokratie hatte die Linke Opposition der offiziellen Partei bis zum Ende Treue bewahrt. Die Bolschewiki-Leninisten teilen jetzt das Schicksal aller übrigen kommunistischen Organisationen: unsere Kaderarbeiter werden verhaftet, unsere Presse ist verboten, unsere Literatur konfisziert. Hitler hat sich beeilt, sogar das in russischer Sprache erscheinende „Bulletin der Opposition“ zu verbieten. Wenn aber die Bolschewiki-Leninisten zusammen mit der proletarischen Avantgarde die Folgen des ersten ernsten Sieges des Faschismus teilen, können und wollen sie nicht auch nur den Schatten einer Verantwortung für die offizielle Politik der Komintern tragen.

Seit 1923, d.h. seit Beginn des Kampfes gegen die Linke Opposition, hatte die Stalinsche Führung mit aller Kraft, wenn auch vom anderen Ende aus, der Sozialdemokratie geholfen, das deutsche Proletariat vom richtigen Weg abzudrängen, zu verwirren und ohnmächtig zu machen; sie hemmte und bremste die Arbeiter, wo die Bedingungen einen kühnen revolutionären Angriff diktierten; proklamierte revolutionäre Situationen als bevorstehend, wenn sie bereits verpasst waren; schloss Bündnisse mit Phrasenhelden und Schwätzern aus dem Lager des Kleinbürgertums; humpelte ohnmächtig im Schwanze der Sozialdemokratie unter dem Schein der Einheitsfrontpolitik; proklamierte die „dritte Periode" und den Kampf um die Eroberung der Straße unter den Bedingungen der politischen Ebbe und des Schwächezustandes der Kommunistischen Partei; ersetzte den ernsten Kampf durch Wettkämpfe, Abenteuer und Paraden; isolierte die Kommunisten von den Gewerkschaftsmassen, identifizierte die Sozialdemokratie mit dem Faschismus und lehnte eine Einheitsfront mit den Massenorganisationen der Arbeiter gegen den unmittelbaren Angriff der nationalsozialistischen Banden ab; sabotierte jede lokale Initiative zur defensiven Einheitsfront und täuschte gleichzeitig die Arbeiter systematisch über das wirkliche Kräfteverhältnis; entstellte Tatsachen, stellte Freunde als Feinde dar und Feinde als Freunde und schnürte der Partei die Kehle immer enger zu, indem sie ihr die Möglichkeit raubte, frei zu atmen, zu sprechen und zu denken.

Aus der unermesslichen, dem Faschismus gewidmeten Literatur genügt es, auf die Rede des offiziellen Führers der deutschen Kommunistischen Partei, Thälmann, zu verweisen, der auf dem EKKI-Plenum im April 1931 die „Pessimisten", d.h. die Menschen, die etwas weiter vorauszusehen vermochten, mit folgenden Worten bedachte: „Wir haben nicht geduldet, dass uns panische Stimmungen von unserem Wege abdrängen … Wir haben nüchtern und fest klargestellt, dass der 14. September (1930) in gewissem Sinne Hitlers bester Tag wurde, dem keine besseren, sondern schlechtere Tage folgen werden … Jene Einschätzung, die wir der Entwicklung dieser Partei gegeben, haben die Ereignisse bestätigt… Der Faschismus hat heute schon keinen Grund zum Lachen." Mit Hinweis darauf, dass die Sozialdemokratie Schutzformationen aufstellt, erklärte Thälmann in der gleichen Rede, dass diese Formationen sich nicht von den Kampfformationen des Nationalsozialismus unterschieden, und dass beide in gleichem Maße zur Niederschlagung der Kommunisten bestimmt seien.

Thälmann ist in Haft. Vor dem Angesicht der triumphierenden Reaktion stehen die Bolschewiki-Leninisten in einer Reihe mit ihm. Aber Thälmanns Politik ist Stalins Politik, d.h. die offizielle Politik der Komintern. Und diese Politik ist ja gerade die Ursache der völligen Demoralisierung der Partei im Augenblick der Gefahr, wenn die Führer den Kopf verlieren, die des Denkens entwöhnten Parteimitglieder in Prostration verfallen, und größte historischen Positionen ohne Kampf abgetreten werden. Eine falsche politische Theorie trägt die Strafe in sich selbst. Macht und Beharrlichkeit des Apparats steigern nur die Ausmaße der Katastrophe.

Während sie dem Feinde alles überließen, was man in so kurzer Zeit nur überlassen konnte, bemühen sich die Stalinisten, die Vergangenheit durch konvulsivische Akte zu korrigieren, die die ganze Kette begangener Verbrechen nur noch greller beleuchten. Jetzt, wo die Presse der Kommunistischen Partei erdrosselt, der Apparat zertrümmert ist, über dem Liebknechthaus straflos der blutgetränkte Lappen des Faschismus weht, nimmt das Exekutivkomitee der Komintern den Weg der Einheitsfront nicht nur von unten, sondern auch von oben. Der neue Zickzack, der noch schroffere als alle vorangegangenen, ist vom EKKI nicht aus eigener Einsicht vollzogen worden – die Stalinsche Bürokratie überließ die Initiative der II. Internationale.

Ihr gelang es, die Waffe der Einheitsfront, vor der sie sich so tödlich gefürchtet hat, in ihre Hände zu bekommen. Sofern man unter den Bedingungen eines panischen Rückzugs von politischen Vorteilen sprechen kann, sind sie völlig auf Seiten des Reformismus. Gezwungen, auf die direkte Frage Antwort zu geben, wählt die Stalinsche Bürokratie den schlimmsten aller Wege: Sie lehnt eine Verständigung der beiden Internationalen nicht ab, aber nimmt sie auch nicht an, sie spielt Versteck. Sie hat einen solchen Grad von Misstrauen zu sich selbst, einen solchen Grad von Erniedrigung erreicht, dass sie es schon nicht mehr wagt, den Führern der II. Internationale, den gebrandmarkten Agenten der Bourgeoisie, den Wählern Hindenburgs, die dem Faschismus den Weg geebnet haben, vor dem Weltproletariat von Angesicht zu Angesicht entgegenzutreten.

In dem Aufruf des EKKI („An die Arbeiter aller Länder") vom 5. März sprechen die Stalinisten kein Wort vom „Sozialfaschismus" als dem Hauptfeind. Sie erinnern nicht mehr an die große Offenbarung ihres Führers: „Sozialdemokratie und Faschismus – sind keine Antipoden, sondern Zwillinge". Sie behaupten nicht mehr, dass dem Kampf gegen den Faschismus die Zertrümmerung der Sozialdemokratie vorangehen muss. Sie erwähnen mit keinem Wort, dass die Einheitsfront von oben indiskutabel ist. Im Gegenteil, sie führen Fälle aus der Vergangenheit an, wo die Stalinsche Bürokratie, überraschend für die Arbeiter und für sich selbst, gezwungen war, den reformistischen Spitzen ganz plötzlich eine Einheitsfront anzubieten. So fallen im Wirbel des geschichtlichen Sturmes alle künstlichen, falschen, betrügerischen Theorien auseinander.

Indem sie sich auf die „Eigenart der Bedingungen in den einzelnen Ländern" und die sich daraus angeblich ergebende Unmöglichkeit der Bildung einer Einheitsfront im Weltmaßstabe berufen (vergessen ist der Kampf gegen den „Exzeptionalismus", d.h. die Theorie der Rechten von den nationalen Besonderheiten!), empfehlen die Stalinschen Bürokraten den nationalen Kommunistischen Parteien, „den Zentralkomitees der sozialdemokratischen Parteien" die Bildung von Einheitsfronten anzubieten. Gestern noch wurde das als Kapitulation vor dem Sozialfaschismus gebrandmarkt! So fallen unter den Tisch in den Papierkorb die hehrsten Lehren des Stalinismus der letzten vier Jahre. So zerfällt in Asche ein ganzes politisches System.

Die Sache macht nicht dabei halt: Nachdem es soeben die Unmöglichkeit erklärt hat für eine Aufstellung von Bedingungen für die Einheitsfront im internationalen Maßstabe, vergisst das EKKI dies sofort und formuliert bereits 20 Zeilen tiefer die Bedingungen, unter denen die Einheitsfront in allen Ländern, trotz verschiedenartiger nationaler Bedingungen, annehmbar und zulässig sei. Der Rückzug vor dem Faschismus wird begleitet vom panischen Rückzug von den theoretischen Geboten des Stalinismus. Fetzen und Splitter von Gedanken werden unterwegs wie Ballast abgeworfen.

Die von der Komintern für alle Länder aufgestellten Bedingungen einer Einheitsfront (Aktionskomitees gegen den Faschismus, Demonstrationen und Streiks gegen Lohnabbau) sind nichts Neues. Im Gegenteil, sie bilden eine schematische, bürokratische Wiedergabe jener Losungen, die die Linke Opposition viel präziser und konkreter vor zweieinhalb Jahren formuliert hat und um derentwillen sie dem Lager des Sozialfaschismus zugeteilt wurde. Die Einheitsfront auf einer solchen Basis hätte für Deutschland von entscheidenden Folgen sein können, doch hätte sie rechtzeitig verwirklicht werden müssen. Zeit ist der wichtigste Faktor der Politik.

Was ist der praktische Wert der EKKI-Vorschläge jetzt? Für Deutschland ist er minimal. Die Politik der Einheitsfront setzt voraus die „Front", d.h. stabile Positionen und eine zentralisierte Leitung. Die Bedingungen der Einheitsfront hatte die Linke Opposition seinerzeit aufgestellt als Bedingungen einer aktiven Verteidigung mit der Perspektive eines Übergangs zur Offensive. Jetzt ist das deutsche Proletariat in einen Zustand des regellosen Rückzugs gebracht worden, sogar ohne Rückzugskämpfe. Unter diesen Umständen können und werden eigenmächtige Vereinigungen von kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeitern entstehen zum Zwecke vereinzelter episodischer Aufgaben ; doch eine systematische Verwirklichung der Einheitsfront wird unvermeidlich in eine Ungewisse Zukunft verschoben. Darüber braucht man sich keine Illusionen zu machen.

Vor anderthalb Jahren sagten wir, der Schlüssel zur Situation befände sich in Händen der deutschen Kommunistischen Partei. Jetzt hat die Stalinsche Bürokratie diesen Schlüssel aus ihren Händen entgleiten lassen. Es werden große, außerhalb des Willens der Partei liegende Ereignisse nötig sein, die es den Arbeitern ermöglichen, sich zu sammeln, zu festigen, ihre Reihen zu formieren und zur aktiven Verteidigung zu schreiten. Wann das eintreten wird, wissen wir nicht. Vielleicht eher, als es die triumphierende Konterrevolution wähnt. Aber die Politik der Einheitsfront in Deutschland werden jedenfalls nicht jene leiten, die das Manifest des EKKI verfassten.

Wenn die zentrale Position preisgegeben ist, muss man sich an den Nebenpunkten befestigen, Stützpunkte vorbereiten für den künftigen konzentrischen Angriff. Diese Vorbereitung verlangt innerhalb Deutschlands die kritische Beleuchtung der Vergangenheit, die Stützung des Mutes der vordersten Kämpfer, deren Zusammenschluss, wo es möglich ist, die Organisierung von Nachhutkämpfen – in Erwartung des Augenblicks, wo die einzelnen Abteilungen sich zu einer großen Armee zusammenschließen können. Diese Vorbereitung bedeutet gleichzeitig die Verteidigung der proletarischen Positionen in jenen Ländern, die mit Deutschland verbunden sind oder sich ihm unmittelbar anschließen: Österreich, Tschechoslowakei, Polen, Ostseeprovinzen, Skandinavien, Belgien, Holland, Frankreich und die Schweiz. Man muss das faschistische Deutschland mit einem mächtigen Ring proletarischer Stützpunkte umgeben. Ohne auch nur für einen Augenblick den Versuch aufzugeben, den regellosen Rückzug der deutschen Arbeiter aufzuhalten, muss man schon jetzt befestigte proletarische Positionen um Deutschlands Grenzen schaffen.

An erster Stelle steht Österreich, dem die faschistische Umwälzung am unmittelbarsten droht. Man darf mit Bestimmtheit sagen: Gelänge es dem österreichischen Proletariat, jetzt die Macht zu erobern und sein Land in einen revolutionären Sammelpunkt zu verwandeln, Österreich würde für das revolutionäre deutsche Proletariat das sein, was Piemont für die revolutionäre italienische Bourgeoisie war. Wie weit das österreichische Proletariat, von den Ereignissen vorwärts gestoßen, aber von der reformistischen Bürokratie paralysiert, auf diesem Weg kommen wird, lässt sich nicht voraussagen. Die Aufgabe des Kommunismus ist es, den Ereignissen entgegen dem Austromarxismus, nachzuhelfen. Die Losungen der Linken Opposition, die das EKKI-Manifest mit solcher Verspätung wiederholt, behalten somit ihre volle Kraft.

Jedoch birgt die Politik der Einheitsfront in sich nicht nur Vorteile, sondern auch Gefahren. Sie erzeugt leicht Abmachungen der Führer hinter dem Rücken der Massen, passive Anpassung an den Verbündeten, opportunistische Schwankungen. Diese Gefahren sind nur dann zu bannen, wenn die folgenden zwei Garantien unbedingt vorhanden sind: Aufrechterhaltung der vollen Kritikfreiheit gegenüber dem Verbündeten und Wiederherstellung der vollen Kritikfreiheit innerhalb der eigenen Partei. Verzicht auf die Kritik des Verbündeten führt direkt und unmittelbar zur Kapitulation vor dem Reformismus. Die Politik der Einheitsfront ohne Parteidemokratie, d.h. ohne Kontrolle der Partei über den Apparat, gibt den Führern die Möglichkeit zu opportunistischen Experimenten, die unvermeidlich eine Ergänzung der Experimente des Abenteurertums bilden.

Was macht in diesem Falle das EKKI? Dutzende von Malen hat die Linke Opposition vorausgesagt, dass die Stalinisten unter den Schlägen der Ereignisse gezwungen sein werden, sich von ihren ultralinken Tendenzen loszusagen, und dass sie, den Weg der Einheitsfront betretend, beginnen werden, alle jene opportunistischen Verrätereien zu begehen, deren sie gestern noch uns beschuldigt haben. Diese Voraussage hat sich Wort für Wort erfüllt.

Indern das EKKI den halsbrecherischen Sprung auf die Position der Einheitsfront vollzogen hat, zertrampelt es jene grundlegenden Garantien, die allein der Politik der Einheitsfront den revolutionären Inhalt sichern können. Die Stalinisten akzeptieren die heuchlerisch-diplomatischen Forderungen der Reformisten, den so genannten „gegenseitigen Nichtangriffspakt". Auf alle Traditionen des Marxismus und Bolschewismus verzichtend, empfiehlt das EKKI den Sektionen der Komintern, im Falle einer Verwirklichung der Einheitsfront „auf alle Angriffe gegen sozialdemokratische Organisationen für die Zeit des gemeinsamen Kampfes zu verzichten". Wortwörtlich! Verzicht auf „Angriffe gegen die Sozialdemokratie" (welch schändliche Formulierung) bedeutet Verzicht auf die Freiheit der politischen Kritik, d.h. auf die grundlegenden Funktionen einer revolutionären Partei.

Die Kapitulation ist hervorgerufen nicht durch praktische Notwendigkeiten, sondern durch Stimmungen der Panik. Die Reformisten akzeptieren und werden ein Bündnis nur insoweit akzeptieren, als sie dazu der Druck der Ereignisse und der Druck der Massen dazu zwingt. Die Forderung des „Nichtangriffspaktes" ist eine Erpressung, d.h. ein Versuch der reformistischen Führer, Vorteile zu gewinnen. Einer Erpressung nachgeben heißt, die Einheitsfront auf morschem Boden bauen und den reformistischen Machern die Möglichkeit bieten, diese Einheitsfront bei willkürlichen Anlässen beliebig zu sprengen.

Kritik muss im Allgemeinen, und im Besonderen unter den Bedingungen der Einheitsfront, den realen Verhältnissen entsprechen und notwendige Grenzen einhalten. Unsinnigkeiten über „Sozialfaschismus" müssen wegfallen; das ist ein Zugeständnis nicht an die Sozialdemokratie, sondern an den Marxismus. Man muss den Verbündeten kritisieren nicht für seine Verrätereien im Jahre 1918, sondern für seine schlechte Arbeit im Jahre 1933. Aber die Kritik kann nicht für eine Stunde aufhören, wie das politische Leben selbst, dessen Stimme sie zu sein hat. Entsprechen die kommunistischen Entlarvungen der Wirklichkeit, dann dienen sie den Zielen der Einheitsfront, stoßen den zeitweiligen Verbündeten vorwärts und – was noch wichtiger ist – bilden eine revolutionäre Erziehung für das Proletariat in seiner Gesamtheit. Verzicht auf diese grundlegende Pflicht bedeutet die erste Stufe jener schändlichen und verbrecherischen Politik, die Stalin den chinesischen Kommunisten in Bezug auf die Kuomintang aufzwang.

Nicht viel besser verhält sich die Sache auch mit der zweiten Garantie. Indem er auf Kritik der Sozialdemokratie verzichtet hat, denkt der Stalinsche Apparat nicht daran, den Mitgliedern das Recht der Kritik an der eigenen Partei wieder einzuräumen. Die Wendung selbst wird wie üblich als bürokratische Offenbarung vollzogen. Weder nationale Parteitage noch ein internationaler Kongress oder selbst eine Sitzung des EKKI-Plenums, nicht einmal eine Vorbereitung durch die Parteipresse oder gar eine Analyse der Politik der Vergangenheit sind ihr vorausgegangen. Das ist auch nicht verwunderlich. Beim ersten Schritt einer Parteidiskussion würde jeder denkende Arbeiter den Apparatbürokraten die Frage stellen: Weshalb wurden die Bolschewiki-Leninisten aus allen Sektionen ausgeschlossen und in der UdSSR verhaftet, verbannt und erschossen? Etwa nur deshalb, weil sie tiefer graben und weiter sehen? Diese Schlussfolgerung kann die Stalinsche Bürokratie nicht zulassen. Sie ist zu jedem Sprung und zu jeder Schwenkung fähig, aber sie kann nicht und wagt nicht, vor dem Angesicht der Arbeiterschaft den Bolschewiken-Leninisten ehrlich gegenüberzutreten. So entwertet der Apparat im Kampf um seine Selbsterhaltung die Bedeutung der neuen Schwenkung, untergräbt von vornherein das Vertrauen zu ihm nicht nur bei den sozialdemokratischen, sondern auch bei den kommunistischen Arbeitern.

Die Veröffentlichung des EKKI-Manifestes ist noch von einem Umstand begleitet, der zwar abseits von der analysierten Frage steht, aber ein sehr grelles Licht auf die heutige Lage der Komintern wie wirft auf die Haltung der regierenden Stalinschen Gruppe zu ihr. In der „Prawda" vom 6. März ist das Manifest abgedruckt nicht als direkter und offener Aufruf im Namen des in [491] Moskau sitzenden EKKI – wie es stets gehandhabt wurde! –, sondern als von der TASS aus Paris telegraphisch übermittelte Übersetzung eines Dokuments aus der „Humanité"! Welch sinnloser und würdeloser Kniff! Nach allen Erfolgen – nach der Erfüllung des ersten Fünfjahresplanes, nach der „Vernichtung der Klassen", dem „Eintritt in den Sozialismus" wagt die Stalinsche Bürokratie es nicht mehr, einen Aufruf des EKKI in eigenem Namen zu veröffentlichen! So sieht ihre wirkliche Stellung zur Komintern aus, und so fühlt sie sich in Wirklichkeit in der internationalen Arena.

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Das Manifest ist nicht die einzige Antwort auf die Initiative der II. Internationale. Vermittels vorgeschobener Organisationen, der deutschen und polnischen RGO, Antifa und der sogenannten „Allgemeinen Arbeiterkonföderation Italiens", ruft die Komintern für April einen „Gesamteuropäischen antifaschistischen Arbeiterkongress" ein. Die Liste der Aufgeforderten ist, wie es sich gehört, nebelhaft und unermesslich: „Betriebe" (so steht es da: „Betriebe", obwohl die Kommunisten dank den Bemühungen Stalin-Losowskis aus allen Betrieben hinausgedrängt sind), lokale revolutionäre, reformistische, katholische, Partei-, parteilose-, Sport-, antifaschistische und Bauern-Arbeiterorganisationen. Mehr noch: „Wir wollen ferner einladen alle Einzelgänger, die wirklich (!) für die Sache der Werktätigen kämpfen." Nachdem sie für lange Zeit die Sache der Massen vernichtet haben, appellieren die Strategen an die „Einzelgänger", an jene Gerechten, die in den Reihen der Massen keinen Platz zu finden wussten, aber nichtsdestoweniger „wirklich für die Sache der Werktätigen kämpfen". Barbusse und General v. Schönaich werden wiederum mobilisiert, Europa vor Hitler zu retten.

Vor uns liegt das fertige Libretto eines jener verlogenen Schauspiele, mit deren Hilfe die Stalinisten gewohnt sind, ihre Ohnmacht zu verdecken. Was hat der Amsterdamer Block der Zentristen und Pazifisten im Kampfe gegen den räuberischen Überfall Japans auf China unternommen? Nichts. Mit Rücksicht auf die Stalinsche „Neutralität" haben die Pazifisten nicht einmal einen Protest erlassen. Jetzt wird eine Neuauflage des Amsterdamer Kongresses vorbereitet, nicht gegen den Krieg, sondern gegen den Faschismus. Was wird der Antifaschistenblock, gebildet aus abwesenden „Betrieben" und ohnmächtigen „Einzelgängern", beginnen? Nichts. Er wird ein hohl tönendes Manifest erlassen, wenn es diesmal überhaupt zum Kongress kommt.

Die Neigung zu „Einzelgängern" hat zwei Seiten, eine opportunistische und eine abenteurerliche. Die russischen Sozialrevolutionäre pflegten in alter Zeit die rechte Hand den Liberalen entgegenzustrecken und in der linken die Bombe zu halten. Die Erfahrung des letzten Jahrzehnts beweist, dass die Stalinsche Bürokratie nach jeder durch die Politik der Komintern hervorgerufenen oder mindestens durch sie verschärften großen Niederlage versucht hat, ihre Reputation durch irgendein grandioses Abenteuer zu korrigieren (Estland, Bulgarien, Kanton). Besteht diese Gefahr nicht auch jetzt? Wir halten es jedenfalls für nötig, unsere warnende Stimme zu erheben. Abenteuer, die den Zweck haben, das Handeln der paralysierten Massen zu ersetzen, desorganisieren die Massen noch mehr und vergrößern nur die Katastrophe.

Die Bedingungen der heutigen Weltsituation wie die Bedingungen jedes einzelnen Landes sind ebenso tödlich für die Sozialdemokratie wie günstig für eine revolutionäre Partei. Die Stalinsche Bürokratie aber hat es verstanden, die Krise des Kapitalismus und die Krise des Reformismus in eine Krise des Kommunismus zu verwandeln. Das ist das Fazit des zehnjährigen unkontrollierten Kommandos der Epigonen.

Es werden sich Heuchler finden, die sagen: Die Opposition kritisiert die Partei, die in die Hände der Henker geraten ist. Lumpen werden hinzufügen: Die Opposition hilft dem Henker. Durch ein Gemisch aus falscher Sentimentalität und vergifteter Lüge werden die Stalinisten versuchen, das ZK hinter dem Apparat, den Apparat hinter der Partei zu verstecken, die Frage nach den Schuldigen der Katastrophe, nach der falschen Strategie, dem vernichtenden Regime, der verbrecherischen Leitung beiseite zu schieben; das aber heißt gerade, den Henkern zu helfen, den heutigen wie den morgigen.

Die Politik der Stalinschen Bürokratie in China war nicht weniger vernichtend als heute in Deutschland. Nur vollzog sie sich dort hinter dem Rücken des Weltproletariats in einer ihm unverständlichen Situation. Die kritische Stimme der Opposition erreichte aus der UdSSR die Arbeiter der anderen Länder fast nicht. Die Erfahrung Chinas ging für den Stalinschen Apparat fast straflos vorüber. In Deutschland steht die Sache anders. Alle Etappen des Dramas haben sich vor den Augen des Weltproletariats entwickelt. Auf jeder Etappe erhob die Opposition ihre Stimme. Der gesamte Gang der Ereignisse wurde vorausgesagt. Die Stalinsche Bürokratie verleumdete die Opposition, unterschob ihr falsche Gedankengange und Pläne, schloss alle aus, die von Einheitsfront sprachen, half der sozialdemokratischen Bürokratie, gemeinsame lokale Abwehrkomitees zu sprengen, versperrte den Arbeitern jede Möglichkeit, den Weg des Massenkampfes zu beschreiten, desorganisierte die Avantgarde, paralysierte das Proletariat. Und während sie sich einer gemeinsamen Abwehrfront mit der Sozialdemokratie widersetzte, geriet sie mit dieser in eine Einheitsfront der Panik und der Kapitulation.

Und jetzt, vor den Trümmern stehend, zittert die Leitung der Komintern am meisten vor dem Licht und der Kritik. Möge die Weltrevolution zugrunde gehen, aber das aufgeblasene Prestige muss erhalten bleiben! Die Bankrotteure suchen Verwirrung zu stiften, die Tatsachen zu begraben, die Spuren zu verwischen. Die Tatsache, dass die deutsche Partei unter den ersten Schlägen „nur" 1.200.000 Stimmen verlor – bei einem Zuwachs von insgesamt 4 Millionen Wählern – proklamierte die „Prawda" als „gewaltigen politischen Sieg". Genau so proklamierte im Jahre 1924 Stalin die Tatsache zu einem „gewaltigen Sieg", dass die kampflos zurückweichenden Arbeiter Deutschlands für die kommunistische Partei 3.600.000 Stimmen abgegeben hatten, wenn das von zwei Apparaten betrogene und wehrlos gemachte Proletariat der Partei diesmal etwa 5 Millionen Stimmen gab, so bedeutet das nur, dass es ihr die doppelte und dreifache Stimmenzahl gegeben haben würde, wenn es den Glauben an seine Führung gehabt hätte. Es hätte sie an die Macht gehoben, wenn die Partei in der Lage gewesen wäre zu zeigen, dass sie fähig ist, die Macht zu nehmen und zu halten. Aber sie brachte dem Proletariat nichts außer Wirrwarr, Zickzacks, Niederlagen und Unheil.

Ja, 5 Millionen Kommunisten sind noch einzeln an die Urne gegangen. Aber in den Betrieben und auf den Straßen existieren sie nicht. Sie sind kopflos, zerstoben, demoralisiert. Sie sind durch das Joch des Apparats der Selbständigkeit entwöhnt worden. Der bürokratische Terror des Stalinismus hatte ihren Willen paralysiert, bevor die Reihe an den Banditenterror des Faschismus kam.

Man muss es klar, präzise und offen aussprechen: Der Stalinismus in Deutschland hat seinen 4. August erlebt. Die fortgeschrittenen Arbeiter dieses Landes werden von nun an nicht anders als mit brennendem Schamgefühl, mit Worten das Hasses und des Fluchs von der Periode der Herrschaft der Stalinschen Bürokratie sprechen. Über die offizielle Kommunistische Partei ist das Urteil gesprochen. Sie wird nun zerfallen, zerbröckeln, in Nichts versinken. Keine künstlichen Mittel werden sie retten.

Der deutsche Kommunismus kann nur auferstehen auf neuen Grundlagen und unter einer neuen Führung.

Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung zeigt sich auch am Schicksal des Stalinismus. In den verschiedenen Ländern befindet er sich in verschiedenen Stadien des Verfalls. In welchem Umfange die tragische Erfahrung Deutschlands Anstoß sein wird zum Wiederauferstehen der übrigen Sektionen der Komintern, wird die Zukunft zeigen. In Deutschland ist das unheilvolle Lied der Stalinschen Bürokratie jedenfalls zu Ende.

Das deutsche Proletariat wird sich wieder aufrichten, der Stalinismus – niemals. Den Arbeitern Deutschlands steht bevor, unter den schrecklichen Schlägen des Feindes die neue Partei aufzubauen. Die Bolschewiki-Leninisten werden dieser Arbeit ihre ganze Kraft widmen.

Prinkipo, 14. März 1933

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