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Leo Trotzki 19330613 Diplomatischer und parlamentarischer Kretinismus

Leo Trotzki: Diplomatischer und parlamentarischer Kretinismus

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr. 7 (Mitte Juni 1933), S. 1]

Die Stärke des Marxismus besteht darin, dass er versteht, die Wirklichkeit zu sehen. „Parlamentarischer Kretinismus" ist im Munde des Marxisten kein Schimpfwort, sondern die Charakteristik eines politischen Systems, das die gesellschaftliche Wirklichkeit vertauscht mit rechtlichen oder sittlichen Konstruktionen, einem Ritual und dekorativen Phrasen. Die Kraft des Bolschewismus bestand darin, dass er in Lenins Person mit höchster theoretischer Ehrlichkeit – keinerlei optimistische Unausgesprochenheiten und tröstende Illusionen zulassend – die materialistische Methode der Analyse auf alle Fragen unserer Epoche anwandte.

In der Hauptfrage der revolutionären Politik – ihrer Methode – bedeutet der Stalinismus nicht nur Absage vom Leninismus, sondern auch die böseste Parodie auf ihn. Wir beobachten dies heute von neuem in der Frage des Schicksals Österreichs sehen. Das Verbot der Kommunistischen Partei, das keinerlei Protest bei den österreichischen Arbeitern hervorrief, sollte eigentlich die Moskauer Organisatoren der internationalen Niederlagen des Proletariats veranlassen, über die traurigen Ergebnisse all ihres bisherigen Tuns nachzudenken. Wenn die legale, über eine eigene Presse verfügende österreichische Kompartei sich als unfähig erwies zum geringsten Widerstand gegen die rein polizeilichen Repressalien des österreichischen Möchtegern-Bonapartismus, was wird sie dann dem Ansturm der faschistischen Banden entgegenstellen? Jedoch entdeckt die Moskauer „Prawda" auch in dem ungehinderten Verbot der österreichischen Sektion der Komintern einen „Sieg", oder wenigstens die unmittelbare Einleitung zum Siege. Die „antifaschistische Bewegung in Österreich“, schreibt die „Prawda" vom 28. Mai „wächst mit jedem Tage (!). „Im ganzen Lande sind trotz der Sabotage der Führer der österreichischen Sozialdemokratie große Vorbereitungen für den Antifaschistischen Arbeiterkongress Europas im Gang." (von uns unterstrichen – L. T.). Aufs Haar so in Deutschland, die antifaschistische Bewegung „mit jedem Tage gewachsen", um am 5. März plötzlich, unbekannt wohin, zu verschwinden. Diese Leute haben nicht nur nichts verstanden. sie wechselten nicht einmal die Schablonen ihres Optimismus. Das sind keine Revolutionäre, sondern Pfaffen, die am Bette jedes Sterbenden ein und dieselben Formeln tröstlicher Lügen wiederholen.

Worin äußert sich jedoch die antifaschistische Bewegung eigentlich? Und warum ging sie selbst schweigend an dem Verbot der Kompartei vorüber? Sie war zu sehr beschäftigt – diese „mit jedem Tag wachsende" Bewegung – mit anderen, höheren Aufgaben: der Vorbereitung des Barbussekongresses in Paris. Das ist ein Muster des parlamentarischen Kretinismus, zur Aufklärung für die Allerrückständigsten. Man muss nicht denken, dass zu parlamentarischem Kretinismus etwa ein Parlament nötig sei – es genügt dazu im Allgemeinen eine beschützte, vom Kampfschauplatz ferne Tribüne, auf der man heuchlerische Reden halten, sich mit leeren Formeln spreizen und für 24 Stunden. „Bündnisse" schließen kann mit Journalisten, Touristen, Pazifisten, gekränkten Radikalen, Tenören und Baritonen.

Eine Abgeschmacktheit ist es natürlich, dass „im ganzen Land" eine „breite Vorbereitung" zur Pariser Maskerade vor sich gehe. Das von Arbeitslosigkeit, Polizeiherrschaft, faschistischen Banden, dem Verrat der Sozialdemokratie und der Ohnmacht der Kompartei niedergedrückte österreichische Proletariat interessiert sich am allerwenigsten für Barbusses Lyrik, Bergerys Rhetorik und Münzenbergs Taschenspielerei. Auf welche Art könnte wohl, das internationale Meeting in Paris etwas an der österreichischen Lage ändern, die nicht in zehn, auch nicht in fünf Jahren, sondern schon heute zur vollständigen Erwürgung des Proletariats führt? Ist es nicht klar, dass mit der prahlerischen Berufung auf den Pariser Kongress die „Prawda" vollständig dessen wahre Bedeutung enthüllt: die Aufmerksamkeit von der Wirklichkeit auf eine Fiktion zu lenken, von der Eroberung der Massen auf ein Spiel mit dem Parlamentarismus, von unversöhnlichen Klassenzusammenstößen auf die Zusammenarbeit mit „Einzelgängern", vom Wiener Pflaster auf einen schicken Saal in einem vornehmen Pariser Viertel, vom Bürgerkrieg auf eine Übung in Beredamkeit. Oder anders: von den Methoden des Bolschewismus auf den parlamentarischen Kretinismus.

Die von der stalinistischen Bürokratie in Basel herausgegebene Zeitschrift „Rundschau" – wie besonders dazu ausersehen, die deutschen Arbeiter zu hindern, aus der Niederlage die notwendigen Lehren zu ziehen – bringt in Nr. 17 den oben angeführten Aufsatz der „Prawda" als große Offenbarung. Lasst den Mut nicht sinken, Proletarier Österreichs: Barbusse, der Verbündete eures Renner (siehe Barbusses Zeitschrift „Monde") wacht für euch! Und wie um das Bild vom Verfaulen des politischen Denkens zu vervollständigen, druckt dieselbe Nummer der „Rundschau" als Leitartikel einen Aufsatz über die heutigen Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich ab. Der „revolutionäre" Philister erzählt mit Entsetzen, dass „das erste Mal (!) in den Beziehungen zweier Staaten" Hitler Österreich gegenüber Repressalien anwendet wegen „innerpolitischer Anordnungen der anderen Regierung". Das erste Mal in den Beziehungen zweier Staaten! Der Artikel endet mit den folgenden bemerkenswerten Worten: „Die Beziehung zwischen Österreich und Deutschland waren niemals seit Bestand des Reiches so schlecht wie heute. Das ist der praktische Erfolg der Hitlerschen Außenpolitik …" Unerträglich ist es, diese Weisheit zu lesen, die eines konservativen Privatdozenten würdig ist. Hitler führt in Österreich die Politik des konterrevolutionären Realismus. Er erobert die kleinbürgerlichen Massen, dem schwankenden österreichischen Bonapartismus den Boden unter den Füßen weggrabend. Hitler verändert beharrlich und fest das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten. Es schert ihn nicht, sein Verhältnis zu Dollfuss zu verderben. Darin unterscheidet er sich – und zwar vorteilhaft – von Otto Bauer und … der stalinistischen Bürokratie, die das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich nicht vom Standpunkt des Klassenkampfes, sondern des – diplomatischen Kretinismus betrachtet.

Das Moskauer Entzücken über den Pariser Kongress, der berufen ist, den revolutionären Kampf in Österreich zu ersetzen, und die Baseler Empörung über Hitlers Politik, dem es im Kampf um die österreichischen Massen nichts ausmacht, sich sogar mit Dollfuss selbst zu überwerfen – „ein stärkeres Tier als die Katze gibt es nicht!", sagt die Maus –, dies Entzücken und diese Empörung ergänzen einander wie die diplomatische und die parlamentarische Abart des Kretinismus. Von einem kleinen Teilchen kann man auf das Ganze schließen. Nach einem Symptom kann man in vielen Fällen fehlerfrei die Krankheit bestimmen. Es genügen zwei Aufsätze – der eine aus der „Prawda", der andere aus der „Rundschau" –, um zu sagen: Mag auch die zentristische Bürokratie genug Mittel haben, um in Paris teure Säle zu mieten und in Basel aufgeschwollene Zeitschriften herauszugeben – der bürokratische Zentrismus als revolutionäre Strömung ist tot, verwest vor unseren Augen und verpestet die Atmosphäre.

Prinkipo, 13. Juni 1933

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