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Leo Trotzki 19330128 Ernste Lehren aus einer unernsten Sache

Leo Trotzki: Ernste Lehren aus einer unernsten Sache

[Nach Permanente Revolution, 3. Jahrgang Nr. 5 (1. Februarwoche 1933), S. 3 f.]

Es wäre grundfalsch an dem «Fall Well» schweigend vorbeizugehen, und sich darauf zu berufen, dass ein Dutzend fauler Weggenossen weggegangen ist und zwei-drei Dutzend tote Seelen mitgenommen haben, die schon lange keinen Anteil an der Arbeit der Organisation nahmen. Die Größe des «Verlustes» zu übertreiben haben wir wirklich keine Ursache. Es ist aber völlig unerlässlich sich über das Geschehene klare Rechenschaft abzulegen.

Well wie auch sein Doppelgänger Senin blieben die ganze Zeit fremde Figuren im Bestande der Opposition. Nicht einmal musste man sich fragen: «Was bindet diese aufgeblasenen Spießbürger an die Opposition?» Sie gehörten früher zur Partei, schlossen sich dann den Rechten an, kamen dann zur Linken Opposition und begannen sofort bei verschiedenen Gelegenheiten von ihrem Nicht- oder Halbeinverständnis mit diesen oder jenen Punkten unserer Plattform zu sprechen. Nicht einmal jedoch, trotz wiederholter Vorschläge, haben sie versucht ihre wirkliche Position zu formulieren. Das erklärt sich damit, dass sie gar keine Position besaßen. Sie gehören zu jenem, unter der schwankenden Intelligenz und Halbintelligenz ziemlich verbreiteten Typus, für den die Ideen und Prinzipien auf der zweiten Stelle stehen, und auf der ersten die Sorge um die persönliche «Unabhängigkeit», die auf einem bestimmten Stadium in die Sorge um die persönliche Karriere übergeht. Solange ein solcher Nomade nicht einen endgültigen Hafen gefunden hat. ist er niemals und mit nichts voll einverstanden und hält die Tür immer halb geöffnet. Derartige Typen trifft man selbstverständlich auch unter den fortgeschrittenen Arbeitern, aber eher als Ausnahmen. Jedoch im kleinbürgerlichen Milieu «revolutionärer» Halbintellektueller bilden sie, muss man annehmen, nicht weniger als 51%.

Die Kleinbourgeoisie des alten Russland schied aus ihrer Mitte eine bedeutende Anzahl von Revolutionären aus. Die meisten von ihnen blieben aber nur bis zur Beendigung der Universität Revolutionäre, um danach zu Beamten, Staatsanwälten oder einfach Kanaillen zu werden. Nur ein sehr geringer Prozentsatz wurde im proletarischen Geiste umerzogen und verblieb bis an Ende in den Reihen der Revolution.

Der jüdischen Intelligenz und Halbintelligenz, die an der Peripherie des alten Russland (Polen, Litauen, Ukraine) ziemlich zahlreich ist, war der Weg zum Beamten versperrt. Daher der ziemlich hohe Prozentsatz von jüdischen Revolutionären im alten Russland. Jedoch in ihrer Mehrheit gruppierten sich diese um kleinbürgerliche Parteien: die Menschewiki, den Bund. In der Oktoberrevolution stand ihre Mehrheit auf der andere Seite der Barrikade. Um so bereitwillige begannen sie sich nach dem Sieg den Bolschewiki anzuschließen. Zu diesem Typ gehören viele der heutigen Würdenträger und sogar der Sowjetbotschafter: Chintschuk in Deutschland, Majski in London u. s. w.

Aber in noch bedeutenderem Maße als die alten Menschewiki hat sich die junge Generation der Kleinbourgeoisie, und im besonderen der jüdischen Intelligenz der Randgebiete nach dem vollzogenen Oktobersieg und insbesondere nach Beendigung des Bürgerkrieges in die Tore der bolschewistischen Partei gestürzt. Ohne Verbindung mit der bodenständigen Bevölkerung, der bäuerlichen wie der proletarischen, ohne ernste Hingabe an die Sache des Proletariats (woher auch?) beeilten sich diese Elemente die Beamtenposten im Staats-. Partei-, und Gewerkschaftsapparat einzunehmen. Ich erinnere mich, wie nach meiner ersten Reise in die Ukraine in Kriegsangelegenheiten ich Lenin davon erzählte, wie der kleinbürgerliche Intellektuelle dank seiner Biegsamkeit und seiner (nicht allzu hohen) Bildung hier und dort Arbeiter-Bolschewiki mit ernster Kampfesstählung beiseite schiebt. Wir vereinbarten eine Reihe von Maßnahmen zur Reinigung dir Partei und des Sowjetapparats vor derartigen Ankömmlingen zu ergreifen.

Dieses bunte Publikum, das viele Ansprüche und viel Unzufriedenheit besitzt, schloss sich im Folgenden leicht jeder Opposition an, wenn auch nicht für lange: sobald es sich herausstellte, dass es sich um einen ernsten und opfervollen Kampf handelt, kehrten die kleinbürgerlich-bürokratischen Oppositionellen eiligst unter den Segen des Apparats zurück und verwandelten ihre «Reue» gewöhnlich in ein Mittel für karrieristische Zwecke. So war es anfangs auch mit der Linksopposition: Im Jahre 1923 stürzten sich Tausende von Wells unter ihr Banner; erst im Laufe der folgenden Jahre reinigte sich der proletarische Kern der Linksopposition von den kompromittierenden Begleitern. Diese Herren wurden dann die wütendsten Verfolger der Opposition; der Apparat nutzte sie aus, verhielt sich aber nicht ohne Verachtung zu ihnen.

In Westeuropa vollzieht sich der Kampf der Linksopposition, wenn auch in sehr schwierigen Bedingungen, so doch nicht unter einem so furchtbaren Druck wie in der UdSSR. In Deutschland, Frankreich und anderen Ländern konnten sich die Begleiter länger halten. Erinnern wir uns an die «farbigsten» Falle des Überlaufens von Oppositionellen ins Stalinlager in den letzten 1-2 Jahren: In Österreich – Graf, in Frankreich – Mill, in Deutschland – Well und Senin. All das – verschiedene Gattungen eines und desselben sozialen Typus. Hervorgegangen aus Randstädten des ehemaligen zaristischen Russland, aus kleinbürgerlichem Milieu, ohne ernste Überzeugungen, dafür aber mit Fähigkeit begabt, im Fluge zwei-drei Ideen zu ergreifen und mit ihnen nicht ohne Geschicklichkeit zu operieren – bis zu ihrem Ersatz durch andere, ebenso tragbare, aber mehr versprechende Ideen. Jeder der Benannten gehörte zu irgendeiner der ausländischen Komparteien, fand aber nicht die entsprechende Anerkennung, verließ sie oder wurde ausgeschlossen, suchte andere Wege, schloss sich der Rechten, dann der Linken Opposition an – wie der Passant in die Straßenbahn aufspringt, und verließ dann die Opposition, wie der Fahrgast die Straßenbahn verlässt, wenn er in seine Gasse einbiegen will. Diese Menschen sind bedeutend gefährlicher für die Organisation, zu der sie gehören, als für die, gegen die sie kämpfen. Eine halbe Stunde vor der Kapitulation wiesen sie alle, Graf und Mill und Well und Senin allein den Gedanken von der Möglichkeit ihrer Rückkehr ins Stalinlager mit Entrüstung zurück. Und dreißig Minuten nach ihrem letzten Schwur brachen sie mit der Opposition in der frechsten und schreierischsten Art, um sofort ihren Preis auf dem Markte der stalinschen Bürokratie zu erhöhen. Sogar bei der mildesten Bewertung kann man diese Menschen nicht anders als den Kehricht der Revolution bezeichnen.

Und trotzdem spielten sie in einigen Sektionen eine bedeutende Rolle. Wie kann man das erklären? Ein Teil der Erklärung ist bereits durch den Hinweis auf die ukrainische Erfahrung gegeben. Sogar innerhalb der revolutionären proletarischen Organisationen genossen die der Bourgeoisie entstammenden Intellektuellen, wenigstens bis zu einem gewissen Grade und bis zu einem gewissen Zeitpunkt, ihre sozialen Vorteile. Der Arbeiter ist an den Betrieb gebunden. Sogar als Arbeitsloser reißt er sich gewöhnlich nicht von seinen Wurzeln los. Sich im Lande oder gar aus einem Lande ins andere zu bewegen fällt ihm schwer. Die Fremdsprachen beherrscht er nicht. Selbst in seiner Muttersprache schreibt er nicht sehr flink. Die Fabrikation von Artikeln und Resolutionen bereitet ihm Mühe. Das Ergebnis ist, dass der leicht bewegliche Intellektuelle, der weder durch Erfahrungen noch durch Kenntnisse beschwert ist, dafür aber «alles» und «alle» kennt, überall anwesend ist und imstande ist mit dem linken Fuß Artikel über alles zu schreiben, sich nicht selten der Arbeiterorganisation auf den Hals setzt. Selbstverständlich charakterisiert ein solcher Zustand in bedeutendem Maße die Jugend der Organisation. Aber dieses Stadium muss man verlassen. Es ist Zeit reif zu werden. Die Arbeiter müssen in weit größerem Maße als zuvor die ganze Arbeit in ihre Hände nehmen. Es versteht sich, dass das nicht die Vertreibung der Intellektuellen bedeutet, – im Gegenteil, wissende, arbeitende und ergebene Intellektuelle sind uns sehr nötig, – aber das bedeutet jedenfalls eine ernste Prüfung wenig bekannter Intellektueller in der Arbeit und ein langsames, sehr langsames Vorschieben auf leitende Posten. Wir brauchen nur solche Intellektuelle, die sich restlos und bis zu Ende der Arbeiterorganisation zur Verfugung stellen.

Die Bolschewlki-Leninisten müssen ernsthaft die Frage der Vorbereitung und Schulung neuer Kader aus der proletarischen Jugend stellen. Die Linke Opposition hat ihre eigene revolutionäre Konzeption, ihr eigenes politisches System, ihre eigene Geschichte und Tradition. Nur auf dieser Grundlage kann man einen ernsten proletarischen Revolutionär erziehen. Zwei-drei vulgarisierte Losungen, wie «Massenarbeit», «demokratischer Zentralismus», «Einheitsfront» u. s. w. – das genügt vielleicht für die Brandlerianer oder für die SAP, aber nicht für uns. Hand in Hand mit dem politischen Kampf muss daher eine systematische theoretisch-erzieherische Arbeit geführt werden. Man muss für eine ganze historische Epoche die Munition vorbereiten.

Der «Fall Weih hat einen mehr skandalösen als tragischen Charakter. Aber das verringert nicht im geringsten seine Lehren. Aus dem episodischen Kampf mit kleinen Überläufern muss man ein Maximum für die revolutionäre Erziehung der Kader herausholen. Das, was heute im Rahmen einer kleinen Organisation vor sich geht, wird sich später nicht selten im größeren Maßstabe, und dabei nicht nur vor der Revolution, sondern auch nach ihrem Siege wiederholen.

Der Typus Well nimmt einen großen Platz im Apparat der stalinschen Bürokratie, wie in der USSR, so auch in den Parteien der kapitalistischen Länder ein. Der «revolutionäre» Kleinbürger zerreißt sieh immer zwischen Anarchie und Kaserne. Aber auch in ihrer Kasernen-Gattung werden diese Herren nicht wertvoller. Sie halten die Hände an der Hosennaht bis zur ernsten Aufgabe oder bis zur ersten großen Gefahr; aber sie werden stets genügend höhere Gründe finden um dem Kampf auszuweichen. Nach dem endgültigen Sieg des Proletariats werden sie wieder zurückkehren und, wahrscheinlich, die «Gesellschaft alter Bolschewiki-Leninisten» organisieren. Beispiele dafür gab es. Man muss es lernen die Menschen an kleinen Erschütterungen, an zweitrangigen Krisen zu überprüfen, um sich nicht an einer steilen Wendung der Geschichte überraschen zu lassen.

Es gibt noch eine wichtige praktische Lehre, die aus dem Fall Well hervorgeht. Der stalinsche Apparat, in seinem internationalen Maßstabe gesehen, bedeutet außer allem anderen eine Menge Dienststellen: das ist kein belangloser politischer Faktor, insbesondere in den Jahren der Weltkrise. Auf irgendeinen verantwortlichen Posten Anspruch zu erheben, haben die Graf, Well, Mill u. a. keinerlei persönliche Voraussetzungen, um so mehr als die Konkurrenz groß ist und jeder Bürokrat sich mit Zähnen an seinen Posten klammert und mit Argwohn den Neuankömmling betrachtet. Doch die Lage ändert sich sofort, wenn der «Kandidat» vorher in die Opposition eindringt, in ihre Reihen eine gewisse Zersetzung hinein trägt und dann laut hervortritt, – als ein Held des Kampfes gegen den «konterrevolutionären Trotzkismus.» Die Chancen eines solchen Kandidaten werden sofort steigen. Damit will ich nicht sagen, dass Graf oder Well in die Opposition mit der fertigen Absicht sie zu verraten eingetreten sind (obgleich wir in der USSR hunderte von solchen Fällen beobachtet haben). Aber es genügt, dass die Neigung zum Verrat in die Natur dieser Menschen gehört, die jeder revolutionären moralischen Grundlage bar sind. Die ewigen Zweifel und die Unzufriedenheit ob der eigenen Unzulänglichkeit einerseits, und die unaufhörlichen Versuchungen des machtvollen Apparates andererseits, – das genügt vollständig. Bei der Komintern, bei der GPU, bei jeder nationalen Sektion gibt es einen speziellen Apparat zur Zersetzung der Linken Opposition, bestehend vorwiegend aus oppositionellen Überläufern oder aus stalinschen Agenten, die sich für oppositionelle ausgeben. Wenn sich die deutschen Genossen die notwendige Mühe geben werden, werden sie zweifellos die Fäden jener Agentur entdecken, die von Well-Gräf zu Manuilski und Menschinski führen. Wie viele Agabekows sind mit dem Kampf gegen die «konterrevolutionäre» Opposition beschäftigt! Selbstverständlich vermag keine Agentur eine historisch fortschrittliche Strömung zu vernichten, die in sich die Tradition des revolutionären Marxismus verkörpert. Aber es wäre ein unverzeihlicher Leichtsinn die Handlungen der stalinschen Agentur zur Hineintragung von Verwirrung und Zersetzung wie auch der direkten Bestechung zu ignorieren: man muss sehr aufmerksam um sich schauen!

Und unter diesem Gesichtspunkt ist es abermals äußerst wichtig die Kader der Opposition durch revolutionäre Proletarier zu versteifen, die vor den Augen der Masse und unter ihrer ständigen Kontrolle leben. Natürlich sind auch die Arbeiter keine Heiligen. Davon zeugt die gesamte Geschichte der sozialdemokratischen Kader, wie auch die Geschichte des Bolschewismus nach Erkämpfung der Macht. Jedoch geht die Linke Opposition gegenwärtig durch ein viel früheres Stadium. Bürokratische Posten kann ein Arbeiter in der Linken Opposition nicht suchen. Durch die Opposition wie durch einen Durchgangshof zu gehen, um dann ein Sowjetbeamter oder ein Journalist unter Thälmann zu werden – das ist auch gar nicht im Geiste eines Arbeiters. Gerade jetzt, in der Periode ihrer kritischen Offensive, kann und muss die Opposition die besten kampfbereitesten, uneigennützigsten und weitsichtigsten Vertreter der jungen Generation des Proletariats erobern. Die Reinigung der Opposition vom revolutionären Kehricht erleichtert nur diese Aufgabe.

Prinkipo, den 28. Januar 1933.

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