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Leo Trotzki 19330714 Faschismus und demokratische Losungen

Leo Trotzki: Faschismus und demokratische Losungen

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der deutschen Sektion der ILO, Jahrgang 1, Nr. 10 (Anfang August 1933), S. 2]

1. Ist es wahr, dass Hitler die „demokratischen Vorurteile" vernichtet hat?

Die April-Resolution des EKKI-Präsidiums „Über die Lage in Deutschland" wird vermutlich in die Geschichte eingehen als endgültiges Zeugnis für den Bankrott der Epigonen-Komintern. Die Resolution gipfelt in einer Prognose, in der alle Gebrechen und Vorurteile der Stalinbürokratie ihren Höhepunkt erreichen. „Die Errichtung der offenen faschistischen Diktatur, die alle demokratischen Illusionen in den Massen zunichte macht und sie aus dem Einfluss der Sozialdemokratie befreit", verkündet die Resolution im Fettdruck, „beschleunigt das Tempo der Entwicklung Deutschlands zur proletarischen Revolution."

Der Faschismus erweist sich wider Erwarten als Lokomotive der Geschichte: Er zerschlägt die demokratischen Illusionen, er befreit die Massen vom Einfluss der Sozialdemokratie, er beschleunigt die Entwicklung der proletarischen Revolution. Die Stalinbürokratie überträgt dem Faschismus die Erfüllung all der Grundaufgaben, mit denen fertig zu werden sie selbst sich als ganz untauglich erwies.

Theoretisch ist der Sieg des Faschismus zweifelsohne ein Beweis dafür, dass die Demokratie sich erschöpft hat; aber praktisch konserviert das faschistische Regime die demokratischen Vorurteile, erweckt sie wieder, impft sie der Jugend ein und ist sogar imstande, ihnen für kurze Zeit größere Stärke zu verleihen. Darin besteht auch eine der bedeutendsten Erscheinungen der reaktionären geschichtlichen Rolle des Faschismus.

Doktrinäre denken in Schemata. Die Massen denken in Tatsachen. Die Arbeiterklasse nimmt die Ereignisse nicht als Experimente für die eine oder andere „These", sondern als lebendige Veränderungen im Schicksal des Volkes. Der Sieg des Faschismus wiegt auf der Waage der politischen Entwicklung Millionen Mal schwerer als die Prognose, die für eine unbestimmte Zukunft aus ihm abzuleiten ist. Wüchse aus dem Bankrott der [596] Demokratie die Herrschaft des Proletariats hervor, so hätte die Entwicklung der Gesellschaft wie auch die Entwicklung des Massenbewusstseins einen gewaltigen Schritt nach vorn getan. Da aber in Wirklichkeit aus der Unzulänglichkeit der Demokratie der Sieg des Faschismus entstand, ist das Massenbewusstsein – nicht für immer natürlich – weit zurückgewichen. Die Zerschmetterung der Weimarer Verfassung durch Hitler kann mit den demokratischen Illusionen ebenso wenig Schluss machen, wie die Brandstiftung am Reichstag den parlamentarischen Kretinismus auszuräuchern vermochte.

2. Das Beispiel Spaniens und Italiens

Faschismus und Demokratie, vernahmen wir vier Jahre lang, schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich wechselseitig. Wie kann dann der Sieg des Faschismus ein für allemal die Demokratie liquidieren? Es wäre gut, darob den Verlautbarungen Bucharins und Sinowjews oder Manuilskis „selbst" zu lauschen.

Die militärisch-polizeiliche Diktatur Primo de Riveras wurde von der Komintern für Faschismus erklärt. Doch wenn der Sieg des Faschismus die endgültige Liquidierung der demokratischen Vorurteile bedeutet, wie ist es dann zu erklären, dass Primo de Riveras Diktatur einer bürgerlichen Republik Platz machte? Zwar war Riveras Regime vom Faschismus weit entfernt. Doch hatte es mit ihm jedenfalls das gemein, dass es als Ergebnis eines Bankrotts des parlamentarischen Regimes entstanden war. Das hinderte es jedoch, als es seinen eigenen Bankrott anmeldete, nicht, seinen Platz an den demokratischen Parlamentarismus abzutreten.

Man kann zu entgegnen versuchen, dass die spanische Revolution ihrer Tendenz nach eine proletarische Revolution sei, und dass nur die Sozialdemokratie im Bunde mit anderen Republikanern es fertig brachte, die Entwicklung im Stadium des bürgerlichen Parlamentarismus aufzuhalten. Doch bekräftigt diese an sich richtige Erwägung nur noch schärfer unseren Gedanken: wenn es den bürgerlichen Demokraten gelang, die Revolution des Proletariats lahm zu legen, so gerade deswegen, weil unter dem Druck der „faschistischen" Diktatur die demokratischen Illusionen nicht geschwächt, sondern verstärkt wurden.

Sind während der zehn Jahre der Despotie Mussolinis die „demokratischen Vorurteile" in Italien verschwunden? So möchten die Faschisten selbst die Sache darstellen. In Wirklichkeit aber gewannen die demokratischen Illusionen neue Kraft. Im Laufe dieser Periode ist eine neue Generation entstanden, die politisch nicht unter Freiheitsbedingungen gelebt hat, dafür aber allzu gut weiß, was Faschismus ist. Das ist der Rohstoff für die vulgäre Demokratie. Die Organisation „Gerechtigkeit und Freiheit" verbreitet in Italien nicht ohne Erfolg illegale demokratische Literatur. Die Ideen der Demokratie finden demnach Anhänger, die bereit sind, sich aufzuopfern. Sogar die flachen Gemeinplätze des liberalen Monarchisten Graf Sforza werden in Form illegaler Broschüren verbreitet. So weit ist Italien in diesen Jahren zurückgeworfen worden.

Warum der Faschismus in Deutschland dazu ausersehen sein soll, eine Rolle zu spielen, die derjenigen, die er in Italien spielt, direkt entgegengesetzt ist, bleibt unergründlich. Oder ist „Deutschland nicht Italien"? Der siegreiche Faschismus ist in Wirklichkeit nicht die Lokomotive der Geschichte, sondern ihre riesenhafte Bremse. Wie die Politik der Sozialdemokratie Hitlers Sieg vorbereitete, so führt das Regime des Nationalsozialismus unvermeidlich zur Aufwärmung der demokratischen Illusionen.

3. Kann die Sozialdemokratie wieder auferstehen?

Die deutschen Genossen bezeugen, dass die sozialdemokratischen Arbeiter und sogar viele sozialdemokratische Bürokraten von der Demokratie enttäuscht seien. Aus den kritischen Stimmungen der reformistischen Arbeiter müssen wir im Interesse ihrer revolutionären Erziehung alles, was irgend möglich ist, herausholen. Aber gleichzeitig müssen wir das wirkliche Ausmaß der „Enttäuschung" der Reformisten an der Demokratie richtig einschätzen. Die sozialdemokratischen Bonzen schelten die Demokratie, um sich zu rechtfertigen. Da sie nicht anerkennen wollen, dass sie sich als erbärmliche Feiglinge erwiesen haben, unfähig, auch nur um die von ihnen geschaffene Demokratie samt ihren warmen Posten zu kämpfen, wälzen diese Herren die Verantwortung von sich auf die körperlose Demokratie ab. Dieser Radikalismus ist, wie wir sehen, nicht nur wohlfeil, sondern auch durch und durch falsch! Beliebt es der Bourgeoisie, morgen den „Enttäuschten" den kleinen Finger zu reichen, so werden sie sich Hals über Kopf in eine neue Koalition stürzen. In der Masse der sozialdemokratischen Arbeiter erwacht natürlich auch ein echter Abscheu vor den Täuschungen und Vorspiegelungen der Demokratie. Doch in welchem Umfang? Die größere Hälfte der sieben, acht Millionen sozialdemokratischer Wähler befindet sich in einem Zustand von Verwirrung, düsterer Passivität und Kapitulation vor den Siegern. Inzwischen wird sich unter den Fersen des Faschismus eine neue proletarische Generation herausbilden, für die die Weimarer Demokratie eine geschichtliche Überlieferung ist. Auf welcher Linie wird sich die politische Kristallisierung in der Arbeiterklasse vollziehen? Das hängt von vielen Umständen ab, darunter auch von unserer Politik.

Geschichtlich ist ein direktes, unmittelbares Hinüberwechseln vom faschistischen Regime zum Arbeiterstaat nicht ausgeschlossen. Für das Eintreffen dieser Möglichkeit ist es nötig, dass im Prozess des Kampfes gegen den Faschismus eine mächtige, illegale kommunistische Partei entstehe, unter deren Führung das Proletariat die Macht ergreifen kann. Alles, was in der Richtung auf ein solches Endergebnis getan werden kann, muss getan werden. Aber bei all dem muss man sagen, dass die Schaffung im Verborgenen einer solchen revolutionären Partei wenig wahrscheinlich, jedenfalls durch nichts im Voraus gesichert ist. Die Unzufriedenheit, Empörung und Gärung in den Massen werden von einem bestimmten Augenblick an sehr viel schneller wachsen als die geheime Bildung der Parteivorhut. Und alle Unklarheit im Massenbewusstsein wird unvermeidlich der Demokratie zugute kommen.

Das bedeutet durchaus nicht, dass es Deutschland nach dem Sturz des Faschismus bevorsteht, wieder eine lange Schule des Parlamentarismus durchzumachen. Die vorherige politische Erfahrung wird der Faschismus nicht wegwischen, noch weniger ist er imstande, den sozialen Aufbau der Nation zu verändern. Eine neue, große, demokratische Epoche zu erwarten, wäre der allerschwerste Irrtum. Aber in dem revolutionären Erwachen der Massen werden die demokratischen Losungen unvermeidlich das erste Kapitel abgeben. Selbst wenn der weitere Verlauf des Kampfes überhaupt keinen demokratischen Staat, auch nicht für einen Tag, erstehen ließe – und das ist durchaus möglich –, könnte der Kampf selbst sich nicht entfalten unter Umgehung demokratischer Losungen. Die revolutionäre Partei, die versuchen wollte, dies Stadium zu überspringen, bräche sich beide Beine.

Mit dieser allgemeinen Perspektive ist die Frage der Sozialdemokratie eng verknüpft. Wird sie wieder auf der Bildfläche erscheinen? Die alte Organisation ist unrettbar verloren. Doch das bedeutet keineswegs, dass die Sozialdemokratie nicht unter neuer geschichtlicher Maske wieder auferstehen könnte. Opportunistische Parteien fallen und brechen zusammen unter den Schlägen der Reaktion ebenso leicht, wie sie bei der erstbesten politischen Belebung wieder auferstehen. In Russland haben wir das am Beispiel der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre gesehen. Die deutsche Sozialdemokratie kann nicht nur neu entstehen, sondern auch großen Einfluss gewinnen, wenn die revolutionäre proletarische Partei statt eines dialektischen Verhältnisses zu den demokratischen Losungen ihnen eine doktrinäre „Ablehnung" entgegenstellen wird. Das Präsidium der Komintern bleibt auf diesem Gebiet wie auf allen anderen ein uneigennütziger Helfer des Reformismus.

4. Die Brandlerianer „vertiefen" die Stalinisten

Der Wirrwarr in der Frage der demokratischen Losungen gebärdet sich am tiefsinnigsten in den Programmthesen der opportunistischen Gruppe Brandler-Thalheimer („Der Kampf gegen den Faschismus"). Die Kommunistische Partei, verkündigen die Thesen, „muss alle Kundgebungen der Unzufriedenheit aller (!) Klassen gegen die faschistische Diktatur zusammen fassen" („Gegen den Strom" Nr. 5, S. 7; das Wort „aller" ist im Original hervorgehoben). Gleichzeitig mahnen die Thesen beharrlich: „Die Teillösungen können daher nicht bürgerlich-demokratischer Art sein." Zwischen diesen beiden Thesen, von denen jede falsch ist, besteht ein unversöhnlicher Gegensatz. Zunächst klingt geradezu unglaublich die Formel von der Zusammenfassung der „Unzufriedenheit aller Klassen". Die russischen Marxisten trieben ehemals Missbrauch mit einer solchen Formel im Kampf gegen den Zarismus. Aus diesem Missbrauch erwuchs eben die menschewistische Auffassung von der Revolution, die später von den Stalinisten in China ausprobiert wurde. Doch in Russland handelte es sich wenigstens um den Zusammenprall der bürgerlichen Nation mit der ständischen Monarchie. In welchem Sinne aber kann man vom Kampf „aller Klassen" der bürgerlichen Nation gegen den Faschismus sprechen, der das Werkzeug der Großbourgeoisie gegen das Proletariat ist? Ergötzlich wäre es zu sehen, wie Thalheimer, Fabrikant theoretischer Plattheiten, die Unzufriedenheit Hugenbergs – denn der ist auch unzufrieden – mit der Unzufriedenheit des Arbeitslosen zusammenfassen wird. Wie ist es aber andererseits möglich, die Bewegung „aller Klassen" zusammenzufassen, ohne sich auf den Boden der bürgerlichen Demokratie zu stellen? In der Tat, eine klassische Verbindung von Opportunismus mit phrasenhaftem Ultraradikalismus!

Die Bewegung des Proletariats gegen das faschistische Regime wird zunehmend Massencharakter annehmen in dem Grade, wie das Kleinbürgertum vom Faschismus enttäuscht sein und dadurch die besitzenden Spitzen sowie den Staatsapparat isolieren wird. Die Aufgabe der proletarischen Partei wird darin bestehen, das Nachlassen des Drucks seitens der kleinbürgerlichen Reaktion zu dem Zweck auszunutzen, die Aktivität des Proletariats zu steigern und sie dann auf den Weg der politischen Eroberung der unteren Schichten des Kleinbürgertums zu lenken. Allerdings wird das Wachstum der Unzufriedenheit bei den Mittelschichten und das Wachstum des Widerstandes bei den Arbeitern einen Spalt im Block der besitzenden Klassen schaffen und deren „linken Flügel" veranlassen, Verbindung mit dem Kleinbürgertum zu suchen. Die Aufgabe der proletarischen Partei hinsichtlich des „liberalen" Flügels der Besitzenden wird jedoch nicht darin bestehen, ihn in einen Block „aller Klassen" gegen den Faschismus hereinzunehmen, sondern umgekehrt darin, ihm unverzüglich entschiedenen Kampf anzusagen, was die Einflussnahme auf den niederen Teil des Kleinbürgertums betrifft.

Unter welchen politischen Losungen wird dieser Kampf vor sich gehen? Die Hitlerdiktatur wuchs unmittelbar aus der Weimarer Demokratie hervor. Die Vertreter des Kleinbürgertums übergaben Hitler eigenhändig das Mandat für die Diktatur. Eine sehr günstige und schnelle Entwicklung der faschistischen Krise angenommen, kann die Forderung nach Einberufung des Reichstags einschließlich aller aus ihm verbannten Abgeordneten in einem bestimmten Augenblick die Arbeiter mit breiten Schichten des Kleinbürgertums vereinen. Bricht die Krise später aus, wenn die Erinnerung an den Reichstag verwischt sein wird, so kann die Losung der Neuwahlen größere Volkstümlichkeit erlangen. Wir sagen nicht, dass die Entwicklung unfehlbar diesen Weg gehen muss. Genug, dass ein solcher Weg möglich ist. Sich die Hände binden hinsichtlich der demokratischen Etappenlosungen, die uns von den kleinbürgerlichen Verbündeten und den rücständigen Schichten des Proletariats aufgezwungen werden können, wäre verderblicher Doktrinarismus.

Brandler-Thalheimer meinen jedoch, dass wir nur „für die demokratischen Rechte der Werktätigen: Versammlungs-, Vereinsrecht, Pressefreiheit, Koalitions- und Streikrecht" ins Feld ziehen dürfen. Um ihren Radikalismus noch dicker zu unterstreichen, fügen sie hinzu: „Diese Forderungen sind streng (!) zu unterscheiden von den bürgerlich-demokratischen Forderungen der allgemeinen demokratischen Rechte." Keine kläglichere Gestalt als der Opportunist, der das Messer des Ultraradikalismus zwischen die Zähne klemmt!

Versammlungs- und Pressefreiheit nur für die Werktätigen ist nicht anders denkbar als unter der Diktatur des Proletariats, d.h. bei Sozialisierung der Gebäude, der Druckereien usw. Möglich, dass die Diktatur des Proletariats auch in Deutschland Ausnahmegesetze gegen die Ausbeuter zur Anwendung bringen muss – das hängt ab von dem geschichtlichen Augenblick, den internationalen Umständen, dem inneren Kräfteverhältnis. Doch ist es durchaus nicht ausgeschlossen, dass die Arbeiter Deutschlands, wenn sie die Macht erobert haben, mächtig genug sein werden, um Versammlungs- und Pressefreiheit auch den gestrigen Ausbeutern zu gewähren – versteht sich: entsprechend ihrem wirklichen politischen Einfluss und nicht nach Maßgabe ihrer Kasse; die Kasse wird man expropriieren. Auf diese Weise ist sogar für die Periode der Diktatur des Proletariats kein Grund vorhanden, von vornherein prinzipiell Versammlungs- und Pressefreiheit nur auf die Werktätigen zu beschränken. Zu einer solchen Beschränkung kann das Proletariat gezwungen sein, aber das ist keine Prinzipienfrage. Doppelt widersinnig ist es, eine derartige Forderung unter den Bedingungen des heutigen Deutschlands aufzustellen, wo die Freiheit der Presse und der Versammlungen im Grunde genommen für alle, außer für die Werktätigen, besteht. Das Erwachen des proletarischen Kampfes gegen das faschistische Zuchthaus wird wenigstens in der ersten Zeit ausgehen von Losungen wie „Gebt auch uns Arbeitern das Recht auf Versammlungen und Presse!". Die Kommunisten werden auch in diesem Stadium eine Propaganda für das Sowjetregime betreiben, aber gleichzeitig werden sie jede wirkliche Massenbewegung unter demokratischen Losungen unterstützen und, wo sie nur können, selbst die Initiative zu einer solchen Bewegung übernehmen.

Zwischen dem Regime der bürgerlichen Demokratie und dem Regime der proletarischen Diktatur gibt es kein drittes, keine „Demokratie der Werktätigen". Zwar nennt sich die spanische Republik sogar in ihrem Verfassungstext eine „Republik der Werktätigen". Doch ist dies eine Formel politischer Scharlatanerie. Die Brandlersche Formel der Demokratie „nur für die Werktätigen", noch dazu in Verbindung mit der Taktik der Zusammenfassung „aller Klassen", ist wie besonders dazu ausersehen, die revolutionäre Avantgarde in der wichtigsten Frage ganz und gar zu verwirren: Wie und in welchen Grenzen muss man sich der Bewegung der kleinbürgerlichen und rückständigen Arbeitermassen anpassen, welche Zugeständnisse muss man ihnen in den Fragen des Tempos der Bewegung und der Übergangslosungen machen, um das Proletariat mit umso größerem Erfolg unter der Fahne seiner eigenen revolutionären Diktatur zu sammeln.

Auf dem 7. Kongress der RKP im März 1918 führte Lenin bei der Erörterung des Parteiprogramms einen entschiedenen Kampf gegen Bucharin, der meinte, dass man über den Parlamentarismus ein für alle Mal das Kreuz schlagen müsse, da er geschichtlich „erledigt" sei. „Wir müssen", antwortete ihm Lenin, „… ein neues Programm der Sowjetmacht schreiben, dabei uns aber keineswegs lossagen von der Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus. Zu glauben, dass wir nicht mehr zurückgeworfen werden, ist eine Utopie … bei jedem Zurückwurf, wenn die feindlichen Klassenkräfte uns auf diese alte Position zurücktreiben, werden wir wieder anstreben, was schon durch die Erfahrung erobert wurde, die Sowjetmacht… "

Lenin trat gegen den doktrinären Antiparlamentarismus auf sogar in Bezug auf ein Land, das schon das Sowjetregime erobert hatte: man darf sich die Hände nicht binden – lehrte er Bucharin –, da man uns zurückwerfen kann auf von uns schon zurückgelegte Positionen. In Deutschland gab und gibt es keine proletarische Diktatur, dafür aber die Diktatur des Faschismus; Deutschland ist sogar hinter die bürgerliche Demokratie zurückgeworfen. Von vornherein unter diesen Umständen auf die Ausnutzung der demokratischen Losungen und des bürgerlichen Parlamentarismus verzichten, heißt, der Sozialdemokratie das Feld für eine Neuformierung zu räumen.

Prinkipo, 14. Juli 1933

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