Leo Trotzki‎ > ‎1933‎ > ‎

Leo Trotzki 19330602 Hitler und die Abrüstung

Leo Trotzki: Hitler und die Abrüstung

[Nach Neue Weltbühne, 2. Jahrgang Nr. 25 und 26 (22. und 29. Juni 1933), S. 760-766 und 796-802, der zweite Teil unter dem Titel „Hitlers Pazifismus“]

I.

Diplomatische Routine hat ihre Vorzüge, solange die Ereignisse sich in den alten Geleisen bewegen. Vor neue große Tatsachen gestellt, gerate sie sogleich aus der Fassung. Das Gefährlichste ist, den Feind zu unterschätzen, weil sein System über den Rahmen der Routine hinausgeht. Die Sache darauf zurückzuführen, dass Hitler ein Demagoge, Hysteriker und Komödiant ist, heißt die Augen schließen, um die Gefahr nicht zu sehen Nicht jede Hysterie führt zur Ergreifung der Macht. In der Hysterie des Nationalsozialismus muss jedenfalls Methode sein. Wehe denen, die sie nicht rechtzeitig begreifen. Die Führer der deutschen Arbeiterorganisationen wollten Hitler nicht ernst nehmen; während sie sein Programm reaktionär und utopisch nannten, zeigten sie sich unfähig, die wirkliche Kraft dieses Programms abzuschätzen. Dieselbe Gefahr kann sich auf der Ebene der Weltpolitik wiederholen.

Bis zum 17. Mai schien es vielen, dass Hitler in der Frage des Versailler Vertrags mit Gewalt vorgehen und mit dem europäischen Regime annähernd ebenso verfahren würde wie mit dem Reichstagsgebäude, der marxistischen Literatur oder den jüdischen Warenhäusern. Niemand eigentlich wusste, woher der Blitz kommen und wo er einschlagen würde. Aber niemand konnte ja auch nur vierundzwanzig Stunden vorher den nach allen Bankräuberregeln ausgeführten Überfall auf die Gewerkschaften voraussagen.

Hitlers Rede im Reichstag hat durch ihre unerwartete Friedfertigkeit verblüfft. Schon damit allein schien ihr unmittelbarstes Ziel erreicht. Es ist immer von Vorteil, den Gegner zu überrumpeln. Hitler baut seinen ersten Erfolg aus. Seine Gegenspieler haben sich gehörig verheddert. Sehr gewiegte Diplomaten haben sich, wenigstens zur Hälfte, mit einigen gut gewählten friedfertigen Sentenzen beschwichtigen lassen, wie sie sich zuvor von den Schreihalsphrasen Papens erschrecken ließen. John Simon hat in der Kanzlerrede dankbar den gemäßigten Ton des Staatsmanns vermerkt. Denselben Eindruck hatte auch Austin Chamberläin. Hitler Papen gegenüberstellend, entdeckte die ,Morning Post' in der Erklärung den „weicheren Akzent des Südens". Die Presse erklärte insgesamt: die Atmosphäre hat sich sogleich entspannt. Zusammen damit wurde die Hypothese aufgestellt: Der schlaue Diplomat Mussolini habe Hitler zur Vernunft gebracht; auch sei der Druck Washingtons sichtlich nicht ohne Einfluss geblieben. Und das Ergebnis: die Chancen der Abrüstungspolitik hätten sich merklich verbessert. Welch schreiender Irrtum! Das psychologische Geheimnis des Drunter und Drüber ist einfach zu lösen: Wer erwartete, mit einem Unzurechnungsfähigen zusammenzustoßen, der eine Axt hin und her schwenkt, und statt dessen einem Menschen mit einem unsichtbaren Browning in der Hosentasche begegnet, könnte nicht umhin, ein Gefühl der Erleichterung zu verspüren. Aber das hindert den Browning nicht, gefährlicher als die Axt zu sein.

Es mangelt andererseits nicht an Misstrauischen, die In Hitlers Erklärung lediglich ein episodisches Manöver sehen, veranlasst durch das ungünstige Echo auf die Rede Papens: Es genüge, die öffentliche Meinung wenigstens für einige Wochen zu täuschen und dann werde man sehen Eine allzu einfache Erklärung! Die durch die Papenrede veranlasste Sanktionsdrohung des Lord Hailshams mochte Hitler zwar als Anstoß gedient haben, Aber all das berührt nur den Ablauf und den Ton der politischen Erklärungen, das heißt nur die technische Seite. Hinter den diplomatischen Fechtereien verbergen sich jedoch tieferliegende Faktoren und Pläne. Es wäre gleicherweise verfehlt, Hitlers Friedfertigkeit aufs Wort zu glauben, wie es verfehlt wäre, sie als die Rederei eines „Demagogen" abzutun, ohne in ihren Sinn eingedrungen zu sein. Die politische Aufgabe besteht darin, den inneren Zusammenhang zwischen Hitlers Erklärung und seinen wirklichen Plänen herzustellen, zu verstehen, auf welchen Wegen das faschistische Deutschland jene Ziele zu erreichen gedenkt, die es nicht mit Namen nennen will und kann. Die Vergangenheit müsste schon zur Genüge gezeigt haben: Wenn es in der Politik des Nationalsozialismus Phantasterei und Fiebervorstellungen gibt, bedeutet das ganz und gar nicht, dass Hitler nicht fähig wäre, die Wirklichkeit abzuwägen; seine Phantastereien und Fiebervorstellungen sind zweckvoll in Bezug auf seine realen politischen Ziele. Das ist unser Ausgangspunkt für die Beurteilung sowohl der Innen- wie der Außenpolitik des Nationalsozialismus.

Die leitenden philosophischen und geschichtlichen Ideen von Hitlers Erklärung sind wahrhaft kläglich in ihrer anmaßenden Beschränktheit. Der von Hitler verkündigte Gedanke von der Notwendigkeit, die Staatsgrenzen Europas wieder den Volksgrenzen anzupassen, stellt eine jener reaktionären Utopien dar, mit denen das nationalsozialistische Programm vollgepfropft ist. Das heutige Europa zerfällt wirtschaftlich und kulturell durchaus nicht deswegen, weil seine nationalen Grenzen unvollkommen sind, sondern weil dieser alte Kontinent nach allen Richtungen hin zerschnitten ist von den Kerkermauern der Zölle, in Stücke gerissen durch die babylonische Verwirrung der Geldsysteme und niedergetreten vom Militarismus, den Europa zur Sicherung seiner Zerstückelung und seines Zerfalls benötigt. Eine Verschiebung der inneren Grenzen um einige zehn oder hundert Kilometer nach der einen oder der andern Seite würde, ohne irgend etwas zu ändern, mehr Menschenopfer fordern, als die Bevölkerung des umstrittenen Streifens ausmacht.

Die Zusicherungen, dass die Nationalsozialisten auf die „Germanisierung" verzichten, bedeuten nicht, dass sie auf Eroberungen verzichten: Einer der leitenden und zähesten Gedanken ihres Programms ist die Besitzergreifung von den weiten Räumen im „Osten" zugunsten der Ansiedlung eines starken deutschen Bauerntums. Nicht zufällig warnte die pazifistische Erklärung, unvermittelt und unerwartet den Boden der „idealen" Scheidung der Völkerschaften verlassend, in halb drohendem Tone, dass die Quelle künftiger Zusammenstöße die „Überfüllung des europäischen Westens" sein könne. Hitler weist dem übervölkerten Europa, vor allem Deutschland, den einzigen Ausweg: nach Osten. Und als er, sich über die Ungerechtigkeit der deutsch-polnischen Grenze beklagend, erklärte, dass „im Osten eine Lösung ohne weiteres gefunden werden könne, die imstande ist, die Ansprüche Polens genau so wie die natürlichen Rechte Deutschlands zu befriedigen", so hatte er ganz einfach die Aneignung von Sowjetgebieten im Auge. Der Verzicht auf die Germanisierung bedeutet in diesem Zusammenhang den Grundsatz der Vorzugsstellung der germanischen „Rasse" als der Herrenkaste in dem eroberten Land. Die Nazis sind gegen Assimilation, aber nicht gegen Annexion. Sie rotten lieber die besiegte „niedere" Bevölkerung aus, statt sie zu germanisieren. Zum Glück handelt es sich einstweilen um bloß beabsichtigte Eroberungen.

Wenn Hitler mit Empörung davon spricht, wie das große deutsche Volk in eine Nation zweiter Klasse verwandelt sei, und dass dies den Interessen der internationalen Solidarität und dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Völker widerspreche, so erscheint dieser Gedanke in diesem Munde nicht am Platze; die ganze Geschichtsphilosophie des Nationalsozialismus geht ja von der angeblich im Blut wurzelnden Ungleichheit der Nationen aus und von dem Recht der „höheren" Rassen, die „niederen'' zu zerstampfen und zu vertilgen. Im Ganzen genommen Ist Hitlers Programm des europäischen Umbaus eine reaktionär-utopische Verquickung rassischer Mystik mit nationalem Kannibalismus. Es einer vernichtenden Kritik zu unterwerfen, ist nicht schwer. Aber auf der Tagesordnung der faschistischen Diktatur steht nicht die Erfüllung dieses Programms, sondern die Wiederherstellung der militärischen Kraft Deutschlands, ohne die es unmöglich ist, von irgendeinem Programm zu reden. Nur unter diesem Gesichtswinkel ist die Erklärung auch von Interesse.

Hitlers Programm ist das Programm des deutschen Kapitalismus, des dynamischsten und angriffslustigsten, der aber infolge der Niederlage zugleich an Händen und Füßen gebunden ist. Durch diese Verbindung von potentieller Stärke und tatsächlicher Schwäche sind der äußerst explosive Charakter, der nationalsozialistischen Ziele wie auch die äußerste Vorsicht bei den nächsten, im Dienst dieser Ziele, stehenden Schritten vorherbestimmt. Heute kann die Rede sein von einer Lockerung und allmählichen Lösung, aber nicht vom Zerhauen der Knoten.

Jede Revision der Verträge, insbesondere des Rüstungssystems, würde eine Verschiebung des heutigen Kräfteverhältnisses bedeuten: Deutschland müsste stärker, Frankreich schwächer werden. Anders hat die Frage der Revision für Deutschland gar keinen Sinn. Nun ist vollkommen klar, dass das regierende Frankreich mit keiner Veränderung einverstanden sein wird, die seine Stellung zugunsten Deutschlands schwächen würde. Die Nazis halten deshalb jede Politik für illusorisch und phantastisch, die mit einer Verbesserung der Weltstellung Deutschlands auf dem Wege gutwilliger Verständigung mit Frankreich rechnet. Aus dieser Überzeugung, die sich, wie im Weiteren gezeigt werden wird, durch die ganze politische Wirksamkeit Hitlers hindurchzieht, entspringt die Unvermeidlichkeit eines neuen Zusammenstoßes Deutschlands mit Frankreich. Aber nicht heute und auch nicht morgen. Diese „Korrektur" hinsichtlich der Frist bringt eben Hitlers Erklärung an, und in diesem Sinne ist sie nicht einfach „Betrug". Bei der Brandstiftung am Reichstag setzte Göring nichts als die Köpfe seiner Agenten aufs Spiel; Brand an Europa zu legen, ist ein gewagteres Unternehmen. In seinem heutigen Zustand kann Deutschland nicht Krieg führen. Es ist abgerüstet. Das ist keine Phrase, sondern Tatsache. Bebrillte Studenten und Arbeitslose mit dem Hakenkreuzabzeichen ersetzen nicht die hohenzollernsche Armee. Hitler wird hier und da die Verpflichtungen bezüglich der Bewaffnung zum Teil verletzen. Aber er wird sich nicht zu irgendeiner offenen Maßnahme größeren Maßstabs entscheiden, die ihn in direkten und schroffen Gegensatz zu den Versailler Vorschriften setzten würde. Nur irgendwelche „glücklichen" Umstände – etwa Verwicklungen zwischen den schwer gerüsteten Staaten Europas – könnten dem Nationalsozialismus gestatten, schon in der nächsten Zeit den Panthersprung zu tun, eine Art 5. März der Außenpolitik. Aber ohne sie wird Hitler gezwungen sein, sich auf große diplomatische Kombinationen nach außen hin und auf kleine militärische Konterbande im Innern zu beschränken.

Der Kampf der Nationalsozialisten in Österreich und in Danzig widerspricht trotz seiner Schärfe nicht dem oben angedeuteten Aktionsprogramm. Vor allem in Österreich ist das Wachsen des Nationalsozialismus eine unabwendbare Tatsache, besonders nach dem Sieg in Deutschland. Der Widerstand des Auslands gegen die Hitlerisierung Österreichs wird nur den faschistischen Ansturm verstärken. Österreich von innen her erobernd, schafft sich Hitler einen nicht unwichtigen Hilfsstützpunkt. Die daraus erwachsenden internationalen Verwicklungen sind nicht leicht in die Paragraphen des Versailler Vertrages einzugliedern. Hitler weiß natürlich, dass seiner Politik außer textlichen Einwänden auch solche der Gewalt entgegengehalten werden können. Den Rückzug in dem Falle, wo es tatsächlich notwendig ist, wird er immer antreten können, wobei er seine Positionen in Österreich wie auch in Danzig als Tauschmittel für internationale Abmachungen gebrauchen wird.

Potentielle Stärke befreit nicht von tatsächlicher Schwäche. Das Hohenzollemdeutschland stellte sich zur Aufgabe, „Europa zu organisieren", um dann eine Aufteilung der Welt vorzunehmen; das heutige Deutschland, durch die Niederlage weit zurückgeworfen, ist wieder gezwungen, jene Aufgaben zu stellen, die seinerzeit das Preußen Bismarcks schon löste: Erlangung des europäischen Gleichgewichts als Vorstufe der Vereinigung aller deutschen Länder. Hitlers praktisches Programm ist heute auf den europäischen Horizont beschränkt. Die Probleme der Kontinente und Ozeane überschreiten sein Gesichtsfeld und können ihn praktisch nur insoweit beschäftigen, als sie mit innereuropäischen Problemen verflochten sind. Hitler spricht ausschließlich in Ausdrücken der Verteidigung; das entspricht vollkommen dem Stadium, durch welches der entstehende deutsche Militarismus hindurchgehen muss. Wenn die Kriegsregel „die beste Verteidigung ist der Angriff" richtig ist, so ist nicht weniger richtig die Diplomatenregel: die beste Vorbereitung des Angriffs ist die Sorge um die Verteidigung. In diesem Sinne sagte Brockdorff-Rantzau, der eine Vorliebe für Paradoxa hatte, in Moskau zu mir: „Si vis bellum para pacem."

Hitler rechnet mit der Unterstützung Italiens; und In bestimmten Grenzen ist sie ihm sicher, nicht so sehr wegen der Gleichartigkeit der inneren Regime (das echt deutsche Dritte Reich ist, wie man weiß, ein lateinisches Plagiat) als wegen des Parallelismus der äußeren Bestrebungen, wenigstens der negativen. Aber auf der einen italienischen Krücke wird sich der deutsche Imperialismus nicht erheben. Nur wenn es die Unterstützung seitens Englands erhält, kann das faschistische Deutschland die nötige Bewegungsfreiheit gewinnen. Darum: Keine Abenteuer; keine Erklärungen, die nach Abenteuern riechen. Hitler begreift: Jeder Schlag nach Westen (ein Schlag gegen Polen hätte einen Rückstoß im Westen) würde unverzüglich England Frankreich annähern und Italien zu größter Zurückhaltung nötigen. Jeder unvorsichtige gewagte Akt von Revanchepolitik führte automatisch zur Isolierung Deutschlands und bei seiner militärischen Ohnmacht zu einer neuen demütigenden Kapitulation. Die Schlinge des Versailler Vertrages würde noch strammer gezogen werden. Die Verständigung mit England erfordert Selbstbeschränkung. Aber Paris (es handelt sich eben um Paris) ist wohl eine Messe wert. Wie die Verständigung mit Hindenburg, durch Papen vermittelt, Hitler gestattete, den Staatsstreich unter dem Anschein einer Auslegung der Weimarer Verfassung zu vollziehen, so soll die Verständigung mit England, unter Mitwirkung Italiens, Deutschland gestatten, den Versailler Vertrag „legal" auszuhöhlen und umzureißen. In diesem Rahmen muss man die Erklärung vom 17. Mai sehen. Hitlers Friedfertigkeit ist keine zufällige diplomatische Improvisation, sondern Teil eines großen Manövers, das das Kräfteverhältnis gründlich zugunsten Deutschlands verändern und das Fundament zum europäischen und Weltangriff des deutschen Imperialismus legen soll.

Jedoch ist dies nur die eine, eher negative Seite von Hitlers Programm; die Enthaltung von vorzeitigen Revancheversuchen ist im Grunde genommen eine Fortsetzung der Politik Stresemanns Dies allein kann die aktive Unterstützung durch England noch nicht verbürgen. Die Erklärung vom 17. Mai enthält einen deutlichen Hinweis auch auf die andre, die „positive" Seite des Naziprogramms: den Kampf gegen den Bolschewismus. Es ist nicht von den Organisationen des deutschen Proletariats die Rede, sondern vom Kampf gegen die Sowjetunion. In enger Verbindung mit dem „Drang nach Osten" übernimmt Hitler, die Aufgabe des Schutzes der europäischen Zivilisation, der christlichen Religion, der britischen Kolonien und andrer geistiger und materieller Kostbarkeiten vor bolschewistischer Barbarei. Aus dieser geschichtlichen Mission, grade aus ihr, vor allem aus ihr, hofft er Deutschlands Recht auf Aufrüstung zu schöpfen. Hitler ist überzeugt, dass auf Großbritanniens Wage die Gefahr des deutschen Faschismus für Westeuropa leichter wiegt als die Gefahr der bolschewistischen Sowjets im Osten. Diese Beurteilung stellt den wichtigsten Schlüssel zur gesamten Außenpolitik Hitlers dar.

Den wichtigsten, aber nicht den einzigen. Die nationalsozialistische Diktatur wird nicht nur auf den Gegensätzen zwischen West und Ost spielen, sondern auch auf allen Gegnerschaften in Westeuropa; es herrscht kein Mangel an ihnen. Sich vom Gaukelbild Österreich-Ungarn lossagend, beteuert Hitler Deutschlands besonderes Verständnis für die „jungen europäischen Nationalstaaten". Er sucht ergänzende Hebel für die Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts, indem er den kleinen und schwachen Staaten vorschlägt, sich um die besiegten und nicht um die Siegerstaaten zu scharen. Wie der Nationalsozialismus in der Innenpolitik unter seinem Banner die Zugrundegerichteten und Verzweifelten sammelte, sie um so gewisser den Interessen des Monopolkapitals unterjochend, so wird Hitler in der Außenpolitik danach streben, eine Einheitsfront der Besiegten und Übervorteilten zu schaffen, um sie später um so unerbittlicher mit der ganzen Schwere des deutschen Imperialismus zu zerquetschen.

Wenn Hitler mit solcher Bereitwilligkeit den englischen Plan der Rüstungsbeschränkungen aufnahm, so darum, weil er im Voraus und in voller Zuversicht mit seinem Scheitern rechnete. Er selbst brauchte nicht die anrüchige Rolle des Totengräbers der pazifistischen Vorschläge übernehmen; dies Amt überlässt er lieber Andern. Aus dem gleichen Grunde geizte er nicht mit „warmem Dank" an den amerikanischen Präsidenten für sein Auftreten zugunsten der Rüstungsbeschränkung. Je breiter und eindringlicher das Abrüstungsprogramm der ganzen Welt vor Augen geführt wird, und je unvermeidlicher es schließlich zusammenbricht, um so unbestreitbarer zeigt sich Deutschlands Recht auf Aufrüstung. Nein, Hitler schickt sich nicht an, gewalttätig – für Gewalt ist Kraft nötig! – Versailles zu berennen, Aber er rechnet fest damit, dass nach dem Scheitern des von ihm „unterstützten" britischen Programms England ebenso wie Italien mit ihrem ganzen Gewicht Deutschlands Recht unterstützen werden, seinen Schutz – gegen den Osten zu verstärken. Nur den Schutz, und nur gegen den Osten!

II.

Der skeptische oder der nur vorsichtige Leser wird erwidern, dass unsre Auslegung von Hitlers Programm bestenfalls eine Hypothese darstelle, die zwar Merkmale der Wahrscheinlichkeit, aber keinesfalls beglaubigten Charakter besitze. Darauf kann man antworten: Das Programm entspringt der gebieterischen Logik der Umstände, und in der großen Politik muss man davon ausgehen, dass der Gegner immer den stärksten Schachzug tun wird. Die Schwierigkeit, die oben entwickelte Hypothese textlich zu belegen, besteht darin, dass die Oppositionsliteratur des Nationalsozialismus außerordentlich umfangreich und widerspruchsvoll, die Regierungspraxis aber bis jetzt erst von kurzer Dauer und spärlich ist. Der Verfasser hat sich über diese Schwierigkeit voll Rechenschaft abgelegt, als er an die Arbeit schritt. Aber es kam ein glücklicher Zufall zur Hilfe, der uns rechtzeitig ein politisches Dokument von außergewöhnlichem Wert in die Hände spielte.

Es handelt sich um den „Offenen Brief" Hitlers an Papen, der am 16. Oktober 1932 in Form einer Broschüre veröffentlicht wurde. Im Ton scharf polemisch, blieb der „Offene Brief" hinter Deutschlands Grenzpfählen unbemerkt; die Führer des Nationalsozialismus reden und schreiben allzu viel! Indessen müsste er auf dem Tisch aller Diplomaten und Journalisten liegen, die sich mit der Außenpolitik des heutigen Deutschland beschäftigen.

Erinnern wir an die Voraussetzungen der Polemik. Papen war zu jener Zeit Kanzler. Hitler befand sich in abwartender Opposition – zwischen dem 13. August, als Hindenburg sich weigerte, ihn zum Reichskanzler zu ernennen, und dem 30. Januar, als der Feldmarschall sich gezwungen sah, das Kommando an Hitler abzutreten. Der „Offene Brief" war nicht für die Massen bestimmt sondern für die Herrschenden, und er hatte den offenen Zweck, ihnen zu beweisen, dass man die Gesellschaftsordnung Deutschlands nicht durch bürokratische Methoden allein retten könne; dass nur die Nationalsozialisten ein ernstzunehmendes außenpolitisches Programm hätten; dass schließlich ihm, Hitler, charakterlose Nachgiebigkeit wie Abenteurertum gleicherweise ferne lägen. Der Brief ist fast frei von Demagogie, ernst gehalten und im Grunde wahrhaftig. Heute würde Hitler, so ist anzunehmen, mit Freuden seine eigne Broschüre auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Um so aufmerksamer müssen sich die Gegner mit ihr beschäftigen.

Es ist … unsinnig zu denken," setzte Hitler dem Herrn v. Papen auseinander, „dass die Macht, die uns abrüstete, nun heute, ohne dazu gezwungen zu sein, selbst ebenfalls ernstlich abrüsten werde." Gleicherweise unsinnig sei es zu erwarten, dass Frankreich überhaupt jemals in eine Aufrüstung Deutschlands einwilligen würde. Das riesige militärische Übergewicht befreie Frankreich von der Notwendigkeit, sich mit dem besiegten Feind auf der Grundlage der Gleichberechtigung zu verständigen. Alle Versuche, Frankreich ein Militärbündnis vorzuschlagen als Austausch gegen Rüstungen, würden nicht nur sehr kühl aufgenommen, sondern auch unverzüglich zur Kenntnis desjenigen Staates gebracht werden, gegen den es gerichtet sein sollte: Hitler spielt natürlich auf die Sowjetunion an. Deutschland könne das Recht auf Rüstungen nicht anders wiedererlangen als vermittels der „tatsächlichen Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts". An der Erreichung dieses Ziels besäßen ein Interesse England und Italien, aber auf keinen Fall und unter keinen Umständen Frankreich … Geradezu unfassbar aber ist es zu glauben, man würde die fehlende Fühlungnahme und Übereinstimmung mit England oder Italien durch die Herstellung besserer Beziehungen zu Frankreich ersetzen können." Hitlers außenpolitische Leitsätze, die über die Gedanken oder – wenn man will – Illusionen von Locarno das Kreuz schlagen, lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. In der Erklärung vom 17. Mai begegnen wir natürlich keiner derartigen Deutlichkeit der Darstellung. Aber keineswegs widerspricht die Erklärung dem „Offenen Brief": im Gegenteil, sein Programm wird in ihr auf einer bestimmten Etappe weiterentwickelt und angewandt.

Ziel der deutschen Politik ist die Wiederherstellung der militärischen Oberhoheit des Staates. Alles Übrige ist nur Mittel. Aber das Mittel braucht nicht nach dem Ebenbild des Ziels geschaffen sein. Deutschland „durfte unter keinen Umständen mit einem eigenen Aufrüstungsprogramm vor die Welt oder gar vor diese Konferenz treten". Aus zwei Gründen: Keine Konferenz sei in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, die das materielle Kräfteverhältnis von Grund auf veränderte; die Forderung nach dem Recht, aufzurüsten, werde, während sie eine rein platonische Demonstration bliebe, Frankreich hingegen die Möglichkeit geben, die Frage der eigenen Abrüstung fallen zu lassen, und – was noch schlimmer sei – England und Frankreich einander näher bringen.

Dies letztere Ergebnis ist nach Hitlers Meinung durch die unüberlegte Politik Papens schon in gewissem Grade eingetreten: England ist gezwungen, Frankreich viel mehr zu unterstützen als es selber möchte. Man maß anerkennen, dass Hitlers Kritik am „Herrenklub" und am Reichskanzler selbst, den er als Dilettanten und Abenteurer angreift, nicht nur scharf sondern auch durchaus überzeugend ist. Die nationalen Barone und Bürokraten hatten überhaupt keine Außenpolitik. Das Rasseln mit dem nicht vorhandenen Säbel ist ihnen durch innenpolitische Erwägungen vorgeschrieben: Sie haben nichts dagegen, die nationale Bewegung auszunützen, wollen sie aber zugleich an weiterem Wachstum hindern.

Unschwer ist nach dem Gesagten zu verstehen, wie sehr sich jener Teil der Presse und der Diplomaten irrte, der das wahre Programm der heutigen deutschen Regierung in dem Erguss Papens über die besondere Annehmlichkeit des Todes auf dem Schlachtfeld zu entdecken versuchte. Man darf nicht aus dem Auge verlieren, dass Papen, den die Nazi in der kurzen Periode seiner Kanzlerschaft mit Vorliebe einen Dragonerrittmeister nannten, sich in der Naziumgebung in der Lage eines ewigen Prüflings fühlt. Am 13. Mai griff er den Ton äußerst hoch, um ihn richtig zu treffen, aber er vergriff sich.

Welcher Meinung auch immer man über den Geschmack des bejahrten Dragonerrittmeisters sein mag, der zwischen einer Dosis Urodonal und einem Glas Hunijadi-Janos den jungen Leuten von den Vorzügen eines Schrapnells gegenüber der Arterienverkalkung predigt, – eines ist unbestreitbar: Hinter der Rede Papens verbirgt sich keinerlei Programm. Die „Friedfertigkeit" des heutigen Kanzlers ist viel gefährlicher als die Kriegsbegeisterung des Vizekanzlers.

Nebenbei erhalten wir Aufschluss über den scharfen Gegensatz zwischen Hitlers Erklärung und der vorausgehenden Politik Neuraths, Nadolnys und der andern. Hitler wurde Kanzler um den Preis des Einverständnisses mit einem Ministerium von Baronen und Geheimräten. Die Kamarilla um Hindenburg tröstete sich mit dem Gedanken, auch durch das Medium Hitler ihre eigne Politik zu führen. Anscheinend gab erst das drohende Echo auf die Papenrede Hitler die Möglichkeit, die Zügel der Außenpolitik endgültig selbst in die Hand zu nehmen. Nicht die Wilhelmstraße schrieb dem neuen Kanzler die Erklärung des 17. Mai vor. Im Gegenteil, Hitler hat mit der Eigenmächtigkeit der Barone und Geheimräte aus der Wilhelmstraße Schluss gemacht.

Aber kehren wir zu dem „Offenen Brief" zurück. Mit besonderer Schärfe greift er die von Papen aufgestellte Losung der Seerüstungen an: Wenn Deutschland auch Mittel hätte – es hat sie nicht –, würde ihm doch nicht erlaubt werden, sie für Kriegsschiffe zu verwenden, und es würde nicht die Kraft besitzen, das Verbot zu verletzen. Die Losung der Seerüstungen treibe nur England auf Frankreichs Seite; das sind die Ergebnisse „Ihrer geradezu verhängnisvollen Führung der Außenpolitik, Herr von Papen!"

Der Kampf um die Aufrüstung Deutschlands zur See wie zu Lande soll nach einer bestimmten politischen Idee vor sich gehen. Hitler nennt sie beim Namen: die Notwendigkeit „einer Verstärkung des Schutzes den latenten Ost-Gefahren gegenüber ist verhältnismäßig leicht zu begründen". Sympathie ist einem solchen Programm auch heute schon sicher von Seiten „einsichtsvoller Männer" aus dem Westen – nicht aus Frankreich, versteht sich. Nur unter dem Gesichtswinkel des „uns notwendigen Schutzes im Osten", auf der Ostseeseite, könnte man von England die Zustimmung zu einer „Korrektur" des Seeparagraphen im Versailler Vertrag erreichen.

Die deutsche Volksbewegung kann und muss Aufrüstung verlangen, aber die deutsche Regierung darf auf keinen Fall diese Forderung hervorkehren. Jetzt solle man nur und ausschließlich auf die Abrüstung der Sieger dringen. Hitler selbst hält es für selbstverständlich, dass die Abrüstungskonferenz zum Scheitern verurteilt ist. „Es wäre dabei gar nicht notwendig gewesen," schrieb er etwa drei Monate vor seinem Machtantritt, „dass die deutsche Delegation die Genfer Abrüstungskomödie etwa bis ins Endlose mitgemacht hätte. Es konnte genügen, den Willen Frankreichs, nicht abzurüsten, vor der ganzen Welt eindeutig klarzustellen, um dann die Konferenz mit dem Bemerken zu verlassen, dass damit der Friedensvertrag von Versailles von den Signatarmächten selbst verletzt sei und Deutschland sich vorbehalten müsse, daraus unter Umständen die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen."

Hitlers Kanzlererklärung entwickelt diese Melodie nur weiter. Eine Verweigerung der Abrüstung durch die Siegermächte würde die „moralische und tatsächliche Außerkraftsetzung der Verträge selbst" bedeuten. Deutschland würde eine solche Handlungsweise als den Wunsch auffassen, „es von den Konferenzen zu entfernen". In diesem Falle würde es ihm schwer fallen, „noch weiterhin dem Völkerbund anzugehören". Wahrhaftig, der „Offene Brief" ist als Schlüssel zu Hitlers Strategie unersetzlich!

Der Austritt Deutschlands aus dein Völkerbund müsste begleitet sein von einer Trübung der Beziehungen zwischen Frankreich auf der einen, England und den Vereinigten Staaten auf der andern Seile. So werden die ersten Voraussetzungen für die Wiederherstellung des „europäischen Gleichgewichts" geschaffen, in dem Deutschland einen immer breitem Raum einnehmen soll. Unter Mitwirkung Italiens und Englands wird Hitler die Möglichkeit erhalten. Deutschland schon nicht mehr mit kleinen Schmugglertricks sondern durch umfangreiche „Korrekturen" am Versailler Vertrag aufzurüsten. Parallel damit wird sich das Programm des „Schutzes" gegen den Osten entwickeln, in diesem Prozess muss unvermeidlich ein kritischer Punkt eintreten: der Krieg. Gegen wen? Wenn die Ostlinie sich nicht als die Linie des geringsten Widerstands erweisen sollte, könnte die Explosion auch in andrer Richtung vor sich gehen. Ist es noch gestattet zu erörtern, inwiefern Angriffswaffen sich von Verteidigungswaffen unterscheiden, so stellt es nämlich ganz außer Debatte, dass Kriegsmittel, die sich für den Osten eignen, auch für den Westen taugen.

Hitler bereitet sich auf einen Krieg vor. Seine Politik auf wirtschaftlichem Gebiet ist nicht von einer abstrakten Autarkie bestimmt sondern vor allem von der Sorge um die größtmögliche wirtschaftliche Unabhängigkeit Deutschlands im Kriegsfall. Dem Ziel der Kriegsvorbereitung soll auch die Arbeitsdienstpflicht dienen. Aber der Charakter dieser Maßnahmen selbst bezeugt, dass es sich nicht um den morgigen Tag handelt. Ein Schlag nach Westen könnte in mehr oder weniger naher Zukunft lediglich unter der Voraussetzung eines Kriegsbündnisses zwischen dem faschistischen Deutschland und den Sowjets geführt werden. Aber nur der verzweifeltste Teil der weißen russischen Emigration kann an die Möglichkeit eines solchen Unsinns glauben oder versuchen, damit zu schrecken. Der Schlag nach Osten könnte nur unter der Bedingung seiner Unterstützung durch eine oder mehrere westliche Großmächte stattfinden. Diese Variante ist auf jeden Fall die wirklichkeitsnähere. Aber auch hierin wird die Vorbereitungsperiode weder nach Wochen noch nach Monaten messen.

Der Viermächtepakt, der eigentlich nichts vorausbestimmt, kann lediglich das ständige gegenseitige Abtasten der westeuropäischen Großmächte organisieren; eine Versicherung gegen zweitrangige Zwischenfälle, aber nicht gegen die Hauptgegnerschaften. Hitler wird danach trachten, aus dem Pakt jeden möglichen Vorteil für einen Angriff gegen Osten zu ziehen. Die Statuten des Pakts bestimmen sein weiteres Schicksal nur zu zehn Prozent, nicht mehr. Seine wirkliche geschichtliche Rolle wird durch die realen gegenseitigen Beziehungen und Gruppierungen seiner Teilnehmer, ihrer Verbündeten und Gegner vorgeschrieben.

Hitler hat sich einverstanden erklärt, während der nächsten zehn Jahre keine kriegerischen Handlungen zu unternehmen, weder gegen Frankreich noch gegen Polen. In der Erklärung hat er fünf Jahre als die Frist genannt, in deren Verlauf die tatsächliche Gleichberechtigung Deutschlands bezüglich der Rüstungsstärke verwirklicht werden soll. Man darf diesen Fristen natürlich keine sakramentale Bedeutung zusprechen. Aber mittelbar bezeichnen sie dennoch jenen zeitlichen Rahmen, in den die führenden Kreise des Faschismus ihre Revanchepläne einspannen.

Die inneren Schwierigkeiten, die Arbeitslosigkeit, die Verelendung und Verzweiflung des Kleinbürgertums können Hitler natürlich auch zu verfrühten Aktionen treiben, die er bei kühler Prüfung selbst für verderbenbringend halten muss. In der lebendigen Politik darf man nicht einzig und allein von den Plänen des Gegners ausgehen, man muss das ganze Geflecht der Umstände bedenken, in die er gestellt ist. Die geschichtliche Entwicklung Europas wird nicht gehorsam der im Münchner Braunen Haus gefertigten Marschroute folgen. Aber diese Marschroute wurde nach Hitlers Machtergreifung zu einem der bedeutendsten Faktoren in der europäischen Entwicklung. Der Plan wird nach Maßgabe der Ereignisse umgestaltet werden. Aber die Umgestaltung wird man nur verstehen können, wenn man den Plan im Ganzen vor sich sieht.

Der Verfasser dieser Zeilen hält sich nicht im Geringsten für berufen, vor dem Versailler Vertrag Wache zu stehen. Europa braucht eine Neuorganisation. Aber wehe ihm, wenn diese Sache dem Faschismus in die Hände gerät. Der Geschichtsschreiber des 21. Jahrhunderts würde in diesem Falle unvermeidlich zu schreiben haben: „Die Epoche des Verfalls Europas begann 1914 mit dem Krieg. Zu einem ,Krieg um die Demokratie' erklärt, führte er bald zur Herrschaft des Faschismus, der das Werkzeug zur Zusammenfassung aller Kräfte der europäischen Nationen wurde, mit dem Ziel eines ,Krieges der Befreiung' von den Folgen des vorhergegangenen Krieges. Dergestalt war der Faschismus als Ausdruck der geschichtlichen Ausweglosigkeit Europas zugleich eine Waffe zur Zertrümmerung der wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften."

Wir wollen jedoch hoffen, dass dieser alte Kontinent noch genug Lebenskraft besitzt, sich einen andern Weg durch die Geschichte zu bahnen.

Prinkipo, 2. Juni 1933.

Kommentare