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Leo Trotzki 19331126 Lektion für einen Staatsanwalt

Leo Trotzki: Lektion für einen Staatsanwalt

[Nach Neue Weltbühne, 2. Jahrgang Nr. 50 (14. Dezember 1933), S. 1563-1568]

Der Prozess um die Reichstagsbrandstiftung geht bald zu Ende.

Welches Urteil wird dem Gericht von oben befohlen werden?

Die Lage der Regierung ist nicht leicht. Sucht man nach geschichtlichen Präzedenzfällen, so denkt man natürlich an die Dreyfusaffäre in Frankreich und an den Beilisprozess im zaristischen Russland. Dank den geschlossenen Türen des Kriegsgerichts gelang es, Hauptmann Dreyfus trotz mangelnden Beweisen auf die Teufelsinsel zu verbannen. Im Beilisprozess, der bei offenen Türen und unter aktiver Teilnahme der Presse stattfand, zeigten sich die Machthaber ohnmächtig, die Verurteilung des jüdischen Handlungsgehilfen wegen Ermordung des Christenknaben zu erzwingen. Aber das Gericht fällte die Entscheidung in dem Sinn, dass dieser Mord zu rituellen Zwecken ausgeführt sein „könnte". Wird Hitler nicht gezwungen sein, sich am klassischen Urteilsspruch der Kiewer Justiz zu inspirieren?

Trotz der Unmöglichkeit, auch nur das geringste zur Stützung der Anklage gegen die willkürlich festgenommenen Kommunisten beizubringen, kann das Leipziger Gericht für erwiesen erklären, das Verbrechen sei von der kommunistischen Partei mit Hilfe unvermittelter Verbrecher begangen worden. Natürlich würde Göring Dimitrow sehr gern aufhängen. Doch ist für die Regierung, die in den Reichstagsflammen ihre Kastanien geröstet hat, das Wichtigste der Beweis, dass der Brand eine Tat der Kommunisten ist, – wenn nicht dieser gefangenen, so doch andrer.

Das ist die Aufgabe. Jedoch ist der Leipziger Prozess grade in seinem politischen Teil am schwächsten fundiert. Die Anklage ist nicht nur juristisch falsch, – sie ist auch politisch absurd.

In welcher Absicht soll die kommunistische Partei den Reichstag angezündet haben? Die offizielle Antwort lautet: Sie gab damit das Signal zum Aufstand. Durch die oftmalige Verwendung erlangte diese Formel fast schon den Schein eines Inhalts, in Wirklichkeit ist sie leer. Ein Signal ist nur dann ein Signal, wenn sein Sinn denen klar ist, für die es bestimmt ist. So war während des Oktoberaufstands in Petrograd von den Führern vorher festgelegt, dass der Kreuzer „Aurora" einen Blindschuss abgeben solle, sobald an der Spitze der Peterpaulsfestung eine rote Laterne erschienen sei. Sollte der Winterpalast sich auf diesen Blindschuss hin nicht ergeben, so hatte die Artillerie der Peterpaulsfestung Gefechtsfeuer zu eröffnen. Die rote Laterne war das Signal für die Artilleristen der „Aurora", der Blindschuss der „Aurora" das Signal für die Artilleristen der Festung. Hier hatte das Signalisieren eine ganz bestimmte technische Bedeutung, die denen, welchen es galt, verständlich war.

Aus dem Wesen der Sache selbst erhellt, dass das Signalement so einfach wie möglich und technisch leicht verwirklichbar sein muss Das Signalgerät muss zugleich in der Hand der Führer sein. Die Laterne ist eins, die Reichstagsbrandstiftung keins. Ist es vorstellbar, dass man damit rechnet, es werde im gewünschten Augenblick, sobald das erforderlich wird, gelingen, den Reichstag anzuzünden, ohne dass der Brand sogleich gelöscht wird? Ein derartiges Unternehmen ist mit einer allzu großen Anzahl Unbekannter verknüpft, als dass es für die Wahl eines bloßen Signals in Betracht käme.

Nehmen wir jedoch an, aus Gründen, die uns nicht in den Kopf wollen und die bis jetzt niemand auch nur darzulegen versucht hat, habe das kommunistische Oberkommando beschlossen, durch einen gigantischen Scheiterhaufen im Mittelpunkt der Hauptstadt die Stunde des Angriffs anzukündigen. Um dieses Ziel zu erreichen, hätte der zentrale Stab jedenfalls vorher die Bezirksstäbe anweisen müssen, unverzüglich mit der Waffe in der Hand auf die Straße zu ziehen, sobald die Reichstagskuppel in Flammen aufgehe. In das Geheimnis des Brands hätten vorher sehr viele Personen eingeweiht werden müssen. Auch könnte ja ein so gewaltiges Signalement wie das brennende Parlamentsgebäude überhaupt nicht für Einzelpersonen berechnet sein – für die hätte das Telefon gereicht – sondern für Tausende, wenn nicht Zehn- und Hunderttausende. Auf welche Art versank diese wichtigste Seite der Angelegenheit vollkommen im Prozessdunkel? Aus den Reihen der kommunistischen Partei sind seit dem Brand Zehntausende zu den Nazis übergelaufen, um sich vor dem Terror zu retten. Solche Überläufer traten auch im Prozess als Hauptbelastungszeugen auf. In einigen Konzentrationslagern stimmte die Mehrzahl der Gefangenen für Hitler. Wenn unter den „Reuigen" sich nicht nur keine Hunderte und Tausende sondern nicht einmal Einzelne fanden, die vor dem Gericht das Geheimnis des Signals gelüftet hätten, so bezeugt das unwiderlegbar: Ein solches Geheimnis gibt es nicht. Die Schlussfolgerung ist klar: Ein Signal, von dem niemand etwas weiß, ist kein Signal. Die brennende Reichstagskuppel kündigte nichts an und rief niemanden auf.

Aber könnte es sich vielleicht wenn schon nicht um ein technisches so doch um ein sozusagen „moralisches" Signal gehandelt haben?

Aufgabe der Brandstifter – wird die Staatsanwaltschaft sagen – war es, durch eine verwegene Kampfaktion die Stimmung der Massen zu heben und sie auf den Weg des Aufstands zu treiben. Mit andern Worten: Die Brandstiftung wäre kein Signal im eigentlichen Sinn des Worts gewesen sondern ein Akt des revolutionären Terrorismus.

Jedoch auch diese Version hält dem Hauch der Kritik nicht stand. Ginge es um das Stabsgebäude der Nazis oder, sagen wir, um das Polizeipräsidium, so besäße die Brandstiftung den Schein eines politischen Sinns; vorausgesetzt selbstverständlich, dass sie von andern im Voraus sichergestellten Angriffshandlungen begleitet wäre. Der Brand des Reichstags aber, also eines „neutralen" Gebäudes, das allen Parteien offen steht, konnte den Massen gar nichts sagen. Die Feuersbrunst konnte auch aus zufälligen Ursachen ausgebrochen sein. Wieso und warum hätte die Röte über der Parlamentskuppel bei den Massen den spontanen Zusammenschluss zum sofortigen Aufstand hervorrufen sollen?

Während sie diesen oder jenen Anschlag vorbereitet, ist eine terroristische Partei – wie zum Beispiel die der russischen Sozialrevolutionäre in der zaristischen Epoche – am meisten darauf bedacht, ihren Coup für die Volksmassen so deutlich und mitreißend wie nur irgend möglich zu gestalten. Schon vor der terroristischen Tat erließ die Partei der Sozialrevolutionäre Aufrufe, in denen sie sich bemühte, den Hass der Bevölkerung auf die betreffende Person oder Einrichtung zu konzentrieren. Die Aktion selbst wurde begleitet von Proklamationen, die den revolutionären Sinn der Tat erklärten.

Keine dieser unerlässlichen Voraussetzungen des politischen Terrors finden wir Ende Februar in Berlin vor. Die Kommunisten waren in jenen Tagen mit der Agitation für die Reichstagswahlen und keineswegs für die Reichstagseinäscherung beschäftigt. Weder in der Brandnacht noch nachher erschienen in Deutschland irgendwelche Proklamationen, die den Massen den Sinn des rätselhaften Ereignisses erklärt hätten. Kein Wunder, wenn außer Göring und seinen Agenten niemand den Brand als Aufstandssignal auslegte.

Unter Verkennung des eigentlichen Wesens des politischen Terrors versichert der Staatsanwalt, die kommunistische Partei bemühe sich natürlich wie jeder Verbrecher, ihre Beteiligung am Verbrechen zu verschleiern. Mit demselben Erfolg könnte man sagen, Herostrat habe, als er sich durch die Einäscherung des Tempels von Ephesus berühmt zu machen beschloss, gleichzeitig versucht, seinen Namen zu verheimlichen, um nicht die Verantwortung für die Brandstiftung zu tragen. Gibt es keine Organisation, die offen die Verantwortung für den Zerstörungsakt übernimmt, seinen Sinn erklärt und die Massen zum Handeln aufruft, so bleibt nur der brennende Sitzungssaal übrig, die politische Aktion aber verschwindet. Die übereifrige Staatsanwaltschaft reißt dem politischen Prozess seine politische Achse heraus: Eine Aufstandsleitung kann den Volksmassen ebenso wenig ein anonymes Signal geben, wie eine Regierung anonym den Krieg erklären kann. Andrerseits wird die revolutionäre Partei, die auf die Straße geht, um mit der Waffe in der Hand die bestehende Gesellschaftsordnung zu stürzen, sich nicht scheuen, die Verantwortung für verbrannte Pulte und Teppiche zu übernehmen, wenn das für den Verlauf des Aufstands notwendig ist.

Von hier aus ergibt sich ein natürlicher Übergang zu den Personen der „Brandstifter". Es sind ihrer fünf: der arbeitslose Holländer, der Vorsitzende der kommunistischen Reichstagsfraktion und drei bulgarische Kommunisten.

Vor allem drängt sich die Frage auf: Warum soll das Signal zum Aufstand der deutschen Arbeiter von vier Ausländern gegeben worden sein? Ein Belastungszeuge versuchte eine Erklärung für dieses Rätsel zu liefern: Indem sie Ausländer vorschob, habe die kommunistische Partei so „die Aufmerksamkeit von sich ablenken" wollen. Wir stoßen hier auf dieselbe Absurdität: Die Partei, die doch im Interesse des Aufstands die Aufmerksamkeit der Massen auf sich lenken müsste, wäre darauf bedacht gewesen, die „Aufmerksamkeit von sich abzulenken". Bestand aber die Aufgabe darin, eine politisch anonyme und darum zwecklose Brandstiftung zu vollziehen und die Beteiligung daran zu verheimlichen. – wozu und warum soll dann der Vorsitzende der kommunistischen Reichstagsfraktion darin verwickelt gewesen sein, das heißt der sichtbarste und verantwortlichste Vertreter der Partei innerhalb der Reichstagswände, und zwar nicht als einer der politischen Anführer des Terrors sondern als unmittelbarer Brandstifter?

Noch auffallender – wenn das möglich wäre – erscheint Dimitrows Teilnahme an der Brandlegung. Dimitrows, eines alten Revolutionärs, welcher schon im Jahre 1910, als der Autor dieser Zeilen ihn in Sofia kennenlernte, Generalsekretär der bulgarischen Gewerkschaften war. Dimitrow ist – das seine Erklärung vor Gericht – nach Berlin übersiedelt, um sich besser mit den bulgarischen Angelegenheiten befassen zu können; und eben darum wich er aller Berührung mit der Tätigkeit der deutschen Partei aus. Selbst die Feinde haben keinen Anlass, an seinen Worten zu zweifeln. Es ist nicht schwer zu begreifen, dass der verantwortliche Politiker, der von Berlin aus die Arbeit seiner Partei in Bulgarien leitete, sich nicht dem Risiko einer Verhaftung und Ausweisung wegen einer nebensächlichen Beteiligung an deutschen Angelegenheiten aussetzen wollte: Für Bulgarien war Dimitrow der einzige; für Deutschland konnten ihn tausend andre ersetzen.

Aber selbst wenn man diese an sich unbestreitbare Erwägung beiseite lässt, bleibt die Frage: Konnte die deutsche kommunistische Partei als Helfershelfer Lubbes niemand andern finden als grade ein Mitglied des Präsidiums der kommunistischen Internationale? Dimitrows Teilnahme wäre vielleicht noch erklärlich, wenn das Ziel nicht gewesen wäre, „die Aufmerksamkeit von der Partei abzulenken", sondern im Gegenteil: Zu zeigen, dass die Brandstiftung das Werk der gesamten kommunistischen Internationale sei. Da aber Dimitrow, wie auch die beiden Bulgaren, nach Deutschland aus Moskau kam, so hätte ihre Beteiligung an der Reichstagsbrandstiftung mit der Absicht erfolgen müssen, gleichzeitig auch der ganzen Welt die Mitwirkung der Sowjets zu demonstrieren. Konnte eine solche Demonstration irgend jemandem von Nutzen sein? Jedenfalls nicht den deutschen Kommunisten und nicht Moskau. Warum wäre dann aber die Wahl auf Dimitrow gefallen? Und wer soll diese Wahl getroffen haben? Man muss anerkennen, dass auch vom Standpunkt der politischen Ziele des Prozesses diese Auswahl die unglückseligste aller möglichen ist.

In den Händen der Organisatoren des Gerichtsverfahrens befanden sich ganz außerordentliche Inszenierungsmittel: eine unbeschränkte Anzahl von Belastungszeugen, bereit, alles auszusagen, was ihnen befohlen wird; die panische Furcht der eventuellen Entlastungszeugen; das völlige Fehlen von Kritik in der inländischen Presse; vollständige Unterordnung von Polizei, Staatsanwaltschaft, Richtern und sogar Verteidigern unter die Weisungen der Obrigkeit. Es sollte scheinen, bei solchen Voraussetzungen sei der Erfolg jeder beliebigen Anklage von vornherein gesichert. Und dennoch trat der Prozess in sein drittes, „politisches" Stadium ein als ein für Hitler offensichtlich verlorenes Spiel.

Die Lösung des Rätsels ist sehr einfach: Die kommunistische Partei Deutschlands schritt nicht zum Aufstand. Sie erlitt nicht Schiffbruch wie die Pariser Kommune von 1871, wie das russische Proletariat 1905 –, sie erwies sich als kampfunfähig. Rechnet man den ausschließlich symbolischen Aufruf zum „Generalstreik", diesen Fetzen Papier, der nicht den geringsten Widerhall auslöste, nicht mit, so war und blieb die kommunistische Partei nur ein passives Objekt in den tragischen Ereignissen, die Deutschlands Antlitz veränderten. Wer daran noch zweifelt, möge den Brief von Maria Reese lesen, der volkstümlichen kommunistischen Reichstagsabgeordneten: Sie brach mit ihrer Partei grade deshalb, weil sich diese nicht nur zum Angriff sondern auch zur Verteidigung als ohnmächtig erwies, weil sie nichts voraussah, nichts vorbereitete und weder Möglichkeiten noch Anlass hatte, den Massen ein revolutionäres Signal zu geben.

Wäre an der Stelle dieser Partei eine andre gestanden, die zur Verteidigung fähig gewesen wäre, so hätte sie verschiedene Wege und Kampfmethoden wählen können, – aber keiner dieser Wege hätte über die Reichstagsbrandstiftung geführt.

Wenn die revolutionäre Partei allen Argumenten der politischen Vernunft zuwider beschlossen hätte, den Reichstag anzustecken, so würde sie dazu auf keinen Fall heranziehen: einen geheimnisvollen holländischen Arbeitslosen, mit dem man sich schwer verständigen und auf den man sich nicht verlassen kann; den Vorsitzenden der Parlamentsfraktion, der sich stets im Blickmittelpunkt Aller befindet; ein Mitglied des Präsidiums der kommunistischen Internationale, der „Moskau" personifiziert; zwei junge Bulgaren, die kein Deutsch verstehen.

Schließlich: Wenn schon die kommunistische Partei den Reichstag mit Hilfe einer so phantastischen Brandstiftergruppe angezündet hätte, dann hätte sie zumindest den Arbeitern den politischen Sinn der Brandstiftung erläutern müssen.

Keine Zeugenaussagen, keine „Indizien", keine Schmähungen Görings sind imstande, die politische Inhaltslosigkeit der Anklage zu stützen. Mag der Staatsanwalt mit der Unverschämtheit, die besonders ihn in diesem schamlosen Prozess auszeichnet, behaupten, „Das war so". Die unumstößliche politische Logik erwidert: Das hat so nicht sein können.

(Autorisierte Obersetzung aus dem Russischen von Walter Steen [Rudolf Klement])

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