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Leo Trotzki 19331200 Nation und Weltwirtschaft

Leo Trotzki: Nation und Weltwirtschaft

[Nach Neue Weltbühne, 2. Jahrgang Nr. 52 (28. Dezember 1933), S. 1630-1634]

Der italienische Faschismus bezeichnete den heiligen Egoismus der Nation als den einzigen schöpferischen Faktor. Der deutsche Nationalsozialismus führt die menschliche Geschichte auf die Nation zurück, er leitet noch dazu die Nation ab von der Rasse und die Rasse vom Blut. Aber auch in den Ländern, die in der Politik sich nicht zum Faschismus erheben oder absinken ließen, werden die Wirtschaftsprobleme immer mehr in den Rahmen der Nation gepresst Nicht immer entschließt man sich, offen die Autarkie zu proklamieren; aber die praktische Politik ist überall auf möglichst hermetische Abschließung von der Weltwirtschaft gerichtet. Vor ganzen zwei Jahrzehnten brachten einem die Schulbücher bei, die Weltarbeitsteilung, die auf den natürlichen und geschichtlichen Entwicklungsbedingungen der Menschheit beruht, sei ein mächtiger Faktor des Reichtums und der Kultur. Heute erweist sich der Weltaustausch als die Quelle aller Übel und Gefahren. Zurück und heim zum nationalen Herd! Es muss nicht nur der Fehler des Admirals Perry korrigiert werden, der eine Bresche in die japanische „Autarkie" schlug, sondern auch der viel bedeutendere Fehler des Christoph Columbus, der so ohne Maß den Spielraum der menschlichen Kultur ausdehnte.

Der von Mussolini und Hitler entdeckte unvergängliche Wert der Nation wird entgegengestellt den falschen Werten des zwanzigsten Jahrhunderts: Demokratie und Sozialismus. Wieder geraten, wir in unversöhnbaren Widerspruch zu den alten Lehrbüchern und – was noch schlimmer ist – zu unumstößlichen Geschichtstatsachen. Nur bösartige Unwissenheit kann mit der leeren Gegenüberstellung von Nation und liberaler Demokratie operieren. In Wirklichkeit trugen alle Freiheitsbewegungen der Neuzeit, selbst wenn man sie erst von Hollands Kampf um die Unabhängigkeit datieren wollte, gleicherweise nationalen wie demokratischen Charakter. Das Erwachen der unterdrückten und zerstückelten Nationen, ihr Kampf um die Vereinigung getrennter Teile und um die Unabhängigkeit von fremdem Joch waren ohne Kampf um politische Freiheit unmöglich. An der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert gestaltete sich im Sturmgewitter einer demokratischen Revolution die französische Nation. In einer Reihe von Kriegen und Revolutionen bildeten sich im 19. Jahrhundert die italienische und die deutsche Nation. Die machtvolle Entwicklung der nordamerikanischen Nation, die ihre Taufe in der Freiheitserhebung des 18. Jahrhunderts empfangen hatte, wurde endgültig gesichert durch den Sieg der Nord- über die Südstaaten im Bürgerkrieg. Nicht Mussolini und nicht Hitler haben die Nation entdeckt. Der Patriotismus in seinem neuen – genauer: bürgerlichen – Sinn ist ein Erzeugnis des 19. Jahrhunderts. Das Nationalbewusstsein des französischen Volks – wohl des konservativsten und zähesten – schöpft noch heute aus den Quellen der demokratischen Tradition.

Jedoch machte die wirtschaftliche Entwicklung der Menschheit, nachdem sie den mittelalterlichen Partikularismus zu Fall gebracht hatte, auch vor dem nationalen Rahmen nicht Halt. Parallel mit der Formung der Nationalwirtschaft wuchs der Welthandel. Die Entwicklungstendenz äußerte sich – wenigstens für die fortgeschritteneren Länder – in der Verlagerung des Schwerpunkts vom inneren auf den äußeren Markt. War für das 19. Jahrhundert kennzeichnend die Verknüpfung des Geschicks der Nation mit dem der Wirtschaft, so ist die Grundtendenz unseres Jahrhunderts der wachsende Widerspruch zwischen Wirtschaft und Nation. In Europa hat dieser Widerspruch völlig unerträgliche Schärfe angenommen.

Den bewegtesten Charakter hatte die Entwicklung des deutschen Kapitalismus. Wurde es dem deutschen Volk in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Käfigen von einigen Dutzend Vaterländern zu enge, so erstickte schon vier Jahrzehnte nach der Schaffung des deutschen Reichs die deutsche Industrie im Rahmen des Nationalstaates. Eine der Hauptursachen des Weltkriegs war das Bestreben des deutschen Kapitals, in eine breitere Arena vorzustoßen. Der Gefreite Hitler focht 1914-18 nicht im Namen der Einheit der deutschen Nation sondern im Namen eines übernationalen, imperialistischen Programms, dessen Ausdruck die berühmte Formel war: „Europa organisieren!" Unter der Oberhoheit des deutschen Militarismus vereint, sollte Europa zum Sammelplatz für ein noch weiter greifendes Unternehmen werden: die Organisierung des Erdballs.

Deutschland bildete dabei keine Ausnahme. Es sprach nur in hochgespannter und aggressiver Form die Tendenz einer jeden nationalen kapitalistischen Wirtschaft aus. Ergebnis des Konflikts dieser Tendenzen war eben der Krieg. Zwar warf der Krieg, wie jede grandiose geschichtliche Erschütterung, die verschiedensten geschichtlichen Fragen auf und gab unter anderem den Anstoß zu nationalen Revolutionen in den rückständigsten Teilen Europas (Zarenrussland, Österreich-Ungarn); aber das waren bloß verspätete Nachklänge einer Epoche, die schon der Vergangenheit angehörte. Dem Wesen nach war der Krieg imperialistischen Charakters. Mit barbarischen Ausrottungs- und Zerstörungsmethoden versuchte er eine fortschrittliche geschichtliche Aufgabe zu lösen: die Organisierung der Wirtschaft in der neuen Einheit, die durch die Weltarbeitsteilung vorbereitet worden war.

Überflüssig zu sagen, dass der Krieg diese Aufgabe nicht gelöst hat. Im Gegenteil, er hat Europa nur noch weiter zerstückelt. Er hat die wechselseitige Abhängigkeit Europas und Amerikas und damit ihre Antagonismen vertieft. Er gab den Anstoß zur selbständigen Entwicklung der Kolonien und verschärfte zugleich die Abhängigkeit der Mutterländer von den Kolonialmärkten. Alle Widersprüche der Vergangenheit traten in der Folge des Kriegs noch verschärfter auf. Davor konnte man in den ersten Jahren, als Europa unter Mitwirkung Amerikas die Generalreparatur seiner zerrütteten Wirtschaft vornahm, noch halbwegs die Augen verschließen. Aber die Wiederherstellung der Produktivkräfte bedeutete unvermeidlich die Potenzierung aller Übel, die zum Krieg geführt hatten. Die heutige Krise – Synthese aller kapitalistischen Krisen der Vergangenheit – bedeutet vor allem die Krise der Nationalwirtschaft.

Der Völkerbund versuchte, die durch den. Krieg nicht gelöste Aufgabe aus der Sprache des Militarismus zu übersetzen in die Sprache diplomatischer Vereinbarungen. War es Ludendorff nicht gelungen, mit dem Schwert „Europa zu organisieren", so machte Briand den Versuch, die „Vereinigten Staaten Europas" zu schaffen mit Hilfe eindringlicher diplomatischer Beredsamkeit. Doch die ununterbrochene Reihe von politischen, wirtschaftlichen, Finanz-, Zoll- und Währungskonferenzen hat nur das ganze Panorama der Unzulänglichkeit der herrschenden Klasse gegenüber der unaufschiebbarsten und brennendsten Aufgabe unsrer Epoche aufgerollt.

Theoretisch lässt sich diese Aufgabe so formulieren: Wie könnte man zur Wirtschaftseinheit des europäischen Territoriums gelangen bei vollständiger Freiheit in der kulturellen Entwicklung seiner Völker? Wie das geeinte Europa in eine ausgewogene Wirtschaft der ganzen Welt einfügen? Die Lösung dieser Frage wird nicht erfolgen auf dem Weg der Vergottung der Nation sondern umgekehrt auf dem Weg der völligen Befreiung der Produktivkräfte aus den Fesseln, die ihnen der Nationalstaat anlegt. Indes, die herrschenden Klassen Europas, entmutigt durch den Bankrott sowohl der militärischen wie der diplomatischen Methoden, treten heute an die Aufgabe vom entgegengesetzten Ende heran: Sie versuchen, die Wirtschaft gewaltsam dem überlebten Nationalstaat zu unterwerfen. Die Sage vom Bett des Prokrustes wird im großen Ausmaß wieder lebendig: Anstatt der modernen Technik den ihr angemessenen Raum zu schaffen, hacken und schneiden die Herrschenden den lebendigen Organismus der Wirtschaft in Stücke.

Mussolini verkündete neulich in einer Programmrede den Tod des „Wirtschaftsliberalismus", das heißt der Herrschaft des freien Wettbewerbs. An sich ist der Gedanke nicht neu. Die Epoche der Trusts, Syndikate, Konsortien hat den freien Wettbewerb längst in den Hintergrund gedrängt. Doch die Trusts vertragen sich mit dem begrenzten nationalen Markt noch weniger als die Unternehmungen des liberalen Kapitalismus. Das neue Monopol verschlang den Wettbewerb in dem Maße, in dem sich die Weltwirtschaft dem nationalen Markt unterwarf. Der Wirtschaftsliberalismus war gleichzeitig mit dem Wirtschaftsnationalismus verendet. Versuche, die Wirtschaft zu retten, indem man sie mit dem Leichengift des Nationalismus impft, führen zu jener Blutvergiftung, welche den Namen Faschismus trägt.

Der geschichtliche Aufstieg der Menschheit ist geleitet von dem Bestreben, mit dem geringsten Arbeitsaufwand die größtmögliche Menge von Gütern zu erlangen. Diese materielle Grundlage des kulturellen Wachstums liefert zugleich das tiefste Kriterium für die Beurteilung der sozialen Herrschaftsformen und politischen Programme. Der jüngste Wirtschaftsnationalismus ist durch seine Rückschrittlichkeit unwiderruflich verurteilt: Er bremst und senkt die Produktivkraft des Menschen.

Die Politik der abgeschlossenen Wirtschaft bedeutet künstliche Verschneidung jener Industriezweige, die mit Erfolg Wirtschaft und Kultur der andern Länder befruchten könnten. Gleichzeitig bedeutet die Tendenz zur Autarkie künstliche Züchtung solcher Zweige, für die sich auf nationalem Boden keine günstigen Bedingungen finden. So verursacht die Fiktion der wirtschaftlichen Unabhängigkeit schwere Unkosten nach beiden Richtungen.

Dazu gesellt sich die Inflation. Als kosmopolitisches Äquivalent wurde das Gold im Laufe des 19. Jahrhunderts Grundlage aller Geldsysteme, die diesen Namen verdienen. Der Verzicht auf den Goldaustausch reißt die Weltwirtschaft noch wirksamer in Stücke als die Zollmauern. Ausdruck für die Störung der inneren Proportionen der Wirtschaft und ihrer internationalen Verflechtungen, verstärkt die Inflation ihrerseits diese Störung und lässt sie aus einer funktionellen zu einer organischen werden. So krönt das „nationale" Geldsystem das verheerende Werk des Wirtschaftsnationalismus.

Die unerschrockensten Vertreter dieser Schule trösten sich damit, dass die Nation, wenn sie auch bei abgeschlossener Wirtschaft ärmer wird, dafür mehr zur Gemeinschaft werde (Hitler), oder dass die Anlässe zu äußeren Konflikten sich mit nachlassender Bedeutung des Weltmarkts verringern. Derartige Hoffnungen beweisen nur, dass die Doktrin des Wirtschaftsnationalismus nicht nur reaktionär ist, sondern auch durch und durch utopisch. Bei den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Wiederbelebung – und diese müssen immerhin auftreten – wird der Kampf um die auswärtigen Märkte ungeahnte Schärfe annehmen. Die frommen Erwägungen über die Vorteile der Autarkie werden sofort über den Haufen geworfen sein, die klugen Pläne nationaler Harmonie werden unter den Tisch fallen. Das bezieht sich nicht nur auf den deutschen Kapitalismus mit seiner explosiven Dynamik oder auf den verspäteten, ungeduldigen und gierigen Kapitalismus Japans, sondern auch auf den bei all seinen neuen Widersprüchen mächtigen Kapitalismus Amerikas.

Die Vereinigten Staaten stellten den vollendetsten Typ der kapitalistischen Entwicklung dar. Das relative Gleichgewicht des unerschöpflich scheinenden inneren Markts sicherte ihnen ein gewaltiges technisches und ökonomisches Übergewicht über Europa. Doch die bloße Tatsache des Eingreifens Amerikas in den Weltkrieg war eine Äußerung des bereits gestörten inneren Gleichgewichts. Ihrerseits bewirkten die Veränderungen, welche der Krieg in der Struktur der Vereinigten Staaten verursachte, dass der amerikanische Kapitalismus in die Weltarena trat und ihm das zu einer Lebensfrage wurde. Viel spricht dafür, dass dieser Ausweg außerordentlich dramatische Formen annehmen muss

Demokratischer Nationalismus hat seinerzeit die Menschheit vorwärts gebracht Auch heute noch ist er fähig, bis zu einem gewissen Grad in den Kolonialländern des Ostens eine fortschrittliche Rolle zu spielen. Aber der faschistische Nationalismus des Niedergangs bringt nichts als Verderben. Er bereitet nicht die Besänftigung der Wirtschaft im nationalen Rahmen sondern vulkanische Ausbrüche und grandiose Zusammenstöße vor. Alles, was wir da während der letzten dreißig Jahre erlebten, wird sich als eine idyllische Ouvertüre erweisen im Vergleich mit der höllischen Musik, die uns erwartet. Diesmal handelt es sich nicht um einen zeitweiligen Absturz der Wirtschaft sondern um ihre vollständige Verwüstung und um den Zusammenbruch unsrer gesamten Kultur – wenn sich nicht die werktätige und denkende Menschheit rechtzeitig fähig zeigen wird, ihre Produktivkräfte zu beherrschen, sie in Europa und in der Welt zu organisieren.

(Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen von Walter Steen [Rudolf Klement].)

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