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Leo Trotzki 19331212 Notizen eines Journalisten

Leo Trotzki: Notizen eines Journalisten

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der Internationalen Kommunisten Deutschlands, 2. Jahrgang 1934, Nr. 1, Anfang Januar 1934 (Nr. 17), S. 3]

Nicht nur, sondern auch

Im Jahre 1920 führte der Parteikongress zur Rettung des danieder liegenden Transportwesens auf Trotzkis Vorschlag auf der Eisenbahn sogenannte Politabteilungen ein, d.h. besonders ausgesuchte und militarisierte Parteiapparate, die über der Transportgewerkschaft und über den örtlichen Parteiorganisationen standen. Diese Ausnahmemaßregel war von Erfolg: der Transport hob sich. Aber die Arbeiter verhielten sich feindlich zu den Politabteilungen, die gegen die Gewerkschaftsdemokratie verstießen. Anfang 1921 wurden die Politabteilungen abgeschafft und die normale Ordnung wiederhergestellt.

Heute beherrschen Politabteilungen wiederum, und zwar uneingeschränkt, das Transportwesen. Der Politverwaltungsvorsteher Simin zeichnete in einer öffentlichen Berichterstattung in Leningrad die Lage auf den Eisenbahnen und insbesondere die Ergebnisse der Einrichtung von Politabteilungen ohne jeden Optimismus. Simin erblickt allerorten das Werk von Weißen, Feinden. Saboteuren, und vergisst dabei nie zu erwähnen: all das geschah vor den Augen von Kommunisten. Wodurch die Teilnahmslosigkeit der Kommunisten verursacht ist, erklärt der Berichterstatter nicht. Die von den Politabteilungen eingeführten administrativen Reformen stoßen nach Simins Worten bei jedem Schritt auf Widerstand. „Man muss bemerken“ – sagt er – „dass … Sabotage nicht nur in den unteren Gliedern, sondern auch in den Apparaten der Eisenbahnleitung und des NKPS (Volkskomm. f. Verkehrsw.) vorkommt". In dieser beiläufig fallen gelassenen Formel kommt ungetrübt der Geist des heutigen Sowjetregimes zum Ausdruck. In den ersten Jahren nach dem Umsturz waren die Sabotageherde die Kanzleien, Behörden, Verwaltungsapparate, jegliche Art Stab alter Spezialisten. Der Kampf mit der Sabotage ging über die Kontrolle von unten, d. h. über die einfachen Arbeiter. Heute sind diese Verhältnisse auf den Kopf gestellt: Simin empört sich besonders darüber, dass die Sabotage nicht nur im Arbeitermilieu stattfindet das ist sozusagen ganz in Ordnung – sondern auch in den obersten Stäben, die berufen sind, das Regime zu schützen. Ohne es zu wollen, definiert der politische Diktator des Transports fehlerlos die politische Grundlage der gesamten Stalindiktatur.

Der Kampf um die Qualität

Die Redaktion der Prawda erklärt nicht, kritisiert nicht, sondern kommandiert. Sie „lenkt die Aufmerksamkeit“, „erteilt Verweise", „fordert unverzügliche Erklärungen". Da auf der Tagesordnung (richtiger Jahresordnung) die Frage der Produktionsqualität steht, so trifft die Prawda unwiderruflichen Tones Verfügungen darüber, wie sich Stahl, Baumwolle und Transport zu verbessern haben.

Aber wie steht es denn mit der Qualität der Prawda selbst? Da scheint niemand „die Aufmerksamkeit zu lenken" und „Verweise zu erteilen". Indes ist die Qualität des Blattes, das über außergewöhnliche Mittel und Möglichkeiten verfügt, äußerst niedrig. Unerhört schlecht ist das Papier: in einem Stapel Zeitungen aus aller Welt sticht die Prawda hervor durch Grauheit und Lockerheit. Schlecht ist der Druck, schauderhaft die Druckerschwärze. Aber am schlimmsten ist die Zeitung als Zeitung. Ein entsetzlicher Nachrichtendienst – ein ununterbrochenes Geknatter. Statt politischer Artikel administrative Befehle. Widerwärtige Verhimmelungen des „genialen Führers", des „größten Theoretikers“ usw. in jeder Spalte. Und all das geschrieben im Stil eines erfolglosen Beamten, der nur deshalb die „Ideologie“ verwaltet, weil er zu etwas anderem nicht taugt.

Der Klassenfeind

In einem Brief an Stalin berichten die Ingenieure, Techniker und Arbeiter des Donschachts „Butowka" Ende Oktober über die von ihnen errungenen Erfolge. Nicht leicht“ schreiben sie – „wurde uns der erste Sieg. Die in Steigerkittel gekleideten Agenten des Klassenfeindes haben wütenden Widerstand geleistet, in der Dunkelheit des Schachts dunkle Sachen angestiftet, und versucht, den Mechanismus außer Betrieb zu setzen, den Schacht zu ersaufen, die Stollen zu verstürzen“.

Der in den Steigerkittel verkleidete Klassenfeind" ist niemand anders als der unzufriedene Arbeiter. Dass es sich nicht um einzelne demoralisierte Elemente, sondern, um einen Massenkampf handelt, um den Bürgerkrieg im Schacht, davon spricht mit tragischer Beredsamkeit die angeführte Stelle aus dem Brief. Wenn der Sieg über die Sabotage „nicht leicht wurde", so eben deshalb, weil die Sieger nicht die Unterstützung der Massen fanden. Wie dauerhaft unter diesen Voraussetzungen der Sieg ist, die Verfasser des Briefes geben sich darüber keinen Illusionen hin. „Wir sind davon nicht befriedigt" – schreiben sie „und können nicht befriedigt sein. Wir wissen, dass der Klassenfeind und Saboteur nicht geschlagen ist. Sie verstecken sich, um bei einem für sie günstigen Zufall ihr Zerstörungswerk durchzuführen".

Trotz der aufgepfropften byzantinischen Schreibweise zeigen die Verfasser des Briefes deutlich, wie und warum der Arbeiter sich in einen Klassenfeind verwandelt. Bei der Aufzählung der Siege gibt der Brief beiläufig zu, das „auf dem Gebiet der Verbesserung der lebensnotwendigen und kulturellen Einrichtungen … wir auch weiterhin noch zurückbleiben". Was verbirgt sich hinter diesen Worten? Eine teilweise Lösung des Rätsels finden wir in der Zusammenfassung der Erfolge und Siege: .Bei unserem Schacht ist der individuelle Gemüsebau breit entfaltet … Unsere Kaderarbeiter sind für den ganzen Winter vollständig mit Gemüse versorgt“. Den letzten Satz druckt das Blatt in Fettschrift, um das Ausmaß des Sieges zu unterstreichen. Individuelle Schrebergärten, das bedeutet, nach dem schweren Arbeitstag unter der Erde muss der Arbeiter auf einem kleinen Fleck Erde wie ein chinesischer Bauer schuften; im Endergebnis dieser doppelten Arbeit sind die Kaderarbeiter, d.h. die Aristokraten des Schachts, für den ganzen Winter mit Gemüse versorgt.

Das ist die Wirklichkeit, selbst gesehen durch das Prisma der offiziellen Dankschreiben!

Der Kürbis im Büro des Direktors

Die Prawda beschreibt mit Entzücken. wie der Direktor einer Fabrik von Präzisionswerkzeugen gleichzeitig einen Gemüsegarten, eine Milchwirtschaft, Kaninchenzucht und dergl. unterhält „In diesem Sommer" schreibt die Zeitung – „während der Dürre, waren die Arbeiter nach dem Arbeitstag in der Fabrik im Sowchosgarten mit ihren Eimern und begossen … die aufkeimende Saat, um sie vor dem Verderben zu retten.“ Es handelt sich hier um den Fabrikgarten. Doch wo bleibt da der Siebenstundenarbeitstag? Prawda teilt entzückt die Ergebnisse der doppelten Arbeit mit: „die Fabrikküchen werden vollständig mit Gemüse versorgt … einen nicht geringen Teil des Ertrages erhalten die Arbeiter zum Einzelverbrauch". Welch furchtbare Gespanntheit der Ernährungslage blickt uns aus diesen pathetischen Artikel entgegen!

Kolzow in Paris

Der Korrespondent der Prawda, Kolzow, berichtet den russischen Arbeitern über den Verlauf des Leipziger Prozesses durch Telegramme aus Paris. Hier, was er schreibt

Vor dem Zeugentisch erscheint der ehemalige Trotzkist Karwahne, heute nationalsozialistischer Reichstagsabgeordneter. Ein durchaus würdiger Ersatz … Das bemerkenswerteste an Karwahnes Auftreten ist, dass er sich ganz und gar zum Verteidiger der Einstellung der trotzkistischen Gruppe Katz aufwirft, die nämlich „das unmögliche Regime innerhalb der deutschen Kompartei bekämpfte. Die Verherrlichung der trotzkistischen Thesen durch den faschistischen Abgeordneten vor einem faschistischen Gericht angesichts zum Tode verurteilter kommunistischer Kämpfer – das ist eine durchaus würdige Linie, entsprossen der Saat der trotzkistischen Lehre!“

Zehntausende von Stalinisten liefen und laufen zum Nationalsozialismus über. Viele von ihnen traten als Zeugen im Leipziger Prozess auf. Unter den Renegaten könnte sich natürlich auch ein ehemaliger Links-Oppositioneller befunden haben. Aber weder die Gruppe Iwan Katz noch Karwahne halten jemals Beziehungen zum „Trotzkismus“. Karwahne sagte sich nicht nur von den Ideen der Kompartei los, der er ehemals angehörte, sondern auch von den halb anarchistischen Ideen der Gruppe Iwan Katz. Jedoch Kolzow wiII Karwahne seine Vergangenheit nicht vergaben. Kolzow ist streng zur Vergangenheit. Ob darum. weil seine eigene Vergangenheit so ganz einwandfrei ist?

Nein, darum nicht. Kolzow ist der vollendete Typ eines schmierigen Karrieristen. In der Periode der Oktoberr'evolution war er der böseste Feind der Bolschewiki. in den Jahren des Bürgerkrieges verbarg er sich in die Ukraine als Mitarbeiter der Petljura- und anderer weißgardistischer Blätter; kam nach Moskau, nachdem die Rote Armee die Ukraine von den Weißen gesäubert hatte. Als er sah, dass ihm keine Wahl blieb, stellte Kolzow seine gewandte Feder in den Dienst der proletarischen Diktatur (selbstverständlich unter der Bedingung einer Wohnung und eines Vorzugsbezugscheins). Bucharin, der damalige Redakteur der Prawda. schwankte stark: „die Feder ist nicht ohne Geschick“ – sagte er -- „aber schon eine sehr unsaubere Gestalt".

Nach dem Entstehen der Linken Opposition wusste Kolzow lange nicht, auf welche Seite er sich schlagen solle, und war bestrebt, sich beide Lager warm zu halten. Außerdem war er, seiner Natur entsprechend, zu sehr gewohnt, vor Sosnowski, dem besten und einflussreichsten Sowjetjournalisten, auf den Hinterpfoten zu stehen Im Augenblick der Verbannung der Führer der Linken Opposition (Dezember 1927), brachte Kolzow, um sich ein für alle Mal in den Augen der Obrigkeit von dem Makel reinzuwaschen, Klatsch über Sosnowski in Umlauf. Das ging nicht ohne Folgen ab. Sosnowskis Frau gab Kolzow im Großen Moskauer Theater eine Ohrfeige. Nicht nur die Linksoppositionellen. sondern auch eingefleischte Bürokraten begrüßten begeistert die „Geste" der energischen Revolutionärin: alle, ohne Unterschied der Richtung, fanden, noch keine Ohrfeige habe so gut ihr Ziel getroffen.

Nach dieser biografischen Auskunft bedarf Kolzows Pariser Korrespondenz hoffentlich keines Kommentars.

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