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Leo Trotzki 19330610 Porträt des Nationalsozialismus

Leo Trotzki: Porträt des Nationalsozialismus

[Nach Neue Weltbühne, 2. Jahrgang Nr. 28 (13. Juli), S. 856-862]

Naive Leute glauben, die Königswürde stecke im König selbst, in seinem Hermelinmantel und in der Krone, in seinem Fleisch und Bein. Aber die Königswürde ist ein Verhältnis zwischen Menschen. Der König ist nur darum König, weil sich in seiner Person die Interessen und Vorurteile von Millionen Menschen widerspiegeln. Wenn dieses Verhältnis vom Strom der Ereignisse weggespült wird, erweist sich der König bloß als ein verbrauchter Herr mit herabhängender Unterlippe. Davon dürfte, aus frischen Erlebnissen, jener erzählen können, der sich einst Alfons XIII. nannte.

Der Unterschied zwischen dem Führer von Gottes und dem von Volkes Gnaden ist der, dass dieser darauf angewiesen ist, sich selbst den Weg zu bahnen oder wenigstens den Umständen zu helfen, ihn zu entdecken. Aber jeder Führer ist immer ein Verhältnis zwischen Menschen, ein individuelles Angebot auf eine kollektive Nachfrage. Die Erörterungen über die Persönlichkeit Hitlers sind um so hitziger, je mehr man das Geheimnis seines Erfolges in ihm selbst sucht. Indes ist es schwer, eine andere politische Gestalt zu finden, die in einem solchen Maße Knoten unpersönlicher geschichtlicher Kräfte wäre. Nicht jeder erbitterte Kleinbürger könnte ein Hitler werden, aber ein Stückchen Hitler steckt in jedem von ihnen.

Das rasche Wachstum des deutschen Kapitalismus vor dem Kriege bedeutete bei weitem nicht die einfache Aufreibung der Mittelklassen; während er einzelne Schichten des Kleinbürgertums zugrunde richtete, schuf er wieder neue: Handwerker und Krämer um die großen Betriebe herum, Techniker und Angestellte in den Betrieben. Aber während sie sich zahlenmäßig hielten – das alte und das neue Kleinbürgertum umfasst nicht viel weniger als die Hälfte des deutschen Volkes –, büßten die Mittelklassen den letzten Schatten von Selbständigkeit ein; sie lebten am Rand der Schwerindustrie und des Bankensystems, sie aßen die Brosamen vom Tisch der Kartelle, sie lebten von den geistigen Almosen ihrer alten Theoretiker und Politiker.

Die Kriegsniederlage verbaute dem deutschen Imperialismus den Weg. Die äußere Dynamik verwandelte sich in die innere; der Krieg ging in die Revolution über. Die Sozialdemokratie, die den Hohenzollern geholfen hatte, den Krieg bis zum tragischen Ende zu führen, verbot dem Proletariat, nun seinerseits die Revolution bis zum Ende zu führen. Vierzehn Jahre vergingen unter beständigen Entschuldigungen der Weimarer Demokratie für ihr eigenes Dasein. Die kommunistische Partei rief die Arbeiter zu einer neuen Revolution, erwies sich aber als unfähig, sie zu führen. Die deutschen Arbeiter gingen durch Siege und Zusammenbrüche des Krieges, der Revolution, des Parlamentarismus und des Pseudobolschewismus. Während die alten bürgerlichen Parteien sich restlos verausgabten, war zugleich die Bewegungskraft der Arbeiter gebrochen.

Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer und Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter. Die Landwirtschaftskrise richtete die Bauern zugrunde. Der Verfall der Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten – mit Mühe durch Halstuch und Strümpfe aus Kunstseide verhüllt – fraß allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom demokratischen Parlamentarismus.

Die Vielheit der Parteien, das kalte Fieber der Wahlen, der fortwährende Wechsel der Ministerien komplizierten die, soziale Krise durch das Kaleidoskop unfruchtbarer politischer Kombinationen. In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die scharfen Kränkungen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach einer eisernen Hand.

Die Fahne des Nationalsozialismus wurde erhoben von der unteren und mittleren Offiziersschicht des alten Heeres. Die ordengeschmückten Offiziere und Unteroffiziere konnten nicht darin einwilligen, dass ihr Heroismus und ihre Leiden nicht allein fürs Vaterland umsonst hingegeben seien, sondern auch ihnen selbst keine besonderen Rechte auf Dank gebracht haben sollten; daher stammt ihr Hass gegen die Revolution und das Proletariat. Sie waren unzufrieden damit, dass die Bankiers, Fabrikanten, Minister sie wieder in die bescheidenen Stellungen von Buchhaltern, Ingenieuren, Postbeamten und Volksschullehrern schickten; daher ihr „Sozialismus". An der Yser und vor Verdun hatten sie gelernt, sich und Andere aufs Spiel zu setzen und im Kommandoton zu reden, was dem kleinen Mann im Hinterland mächtig imponierte. So wurden diese Leute Führer.

Zu Beginn seiner politischen Laufbahn zeichnete sich Hitler vielleicht nur durch größeres Temperament, eine lautere Stimme und selbstsichere geistige Beschränktheit aus. Er brachte in die Bewegung keinerlei fertiges Programm mit – wenn man den Rachedurst des gekränkten Soldaten nicht zählt. Hitler begann mit Verwünschungen und Klagen über die Versailler Bedingungen, über das teure Leben, über das Fehlen des Respekts vor dem verdienten Unteroffizier, über das Treiben der Bankiers und Journalisten mosaischen Bekenntnisses. Heruntergekommene, Verarmte, Leute mit Schrammen und frischen blauen Flecken fanden sich genug. Jeder von ihnen wollte mit der Faust auf den Tisch hauen. Hitler verstand das besser als die Anderen. Zwar wusste er nicht, wie der Not beizukommen sei. Aber seine Anklagen klangen bald wie Befehl, bald wie Gebet, gerichtet an das ungnädige Schicksal. Todgeweihte Klassen werden – ähnlich hoffnungslosen Kranken – nicht müde, ihre Klagen zu variieren und Tröstungen anzuhören. Alle Reden Hitlers sind auf diesen Ton gestimmt. Sentimentale Formlosigkeiten, Mangel an Disziplin des Denkens, Unwissenheit bei buntscheckiger Belesenheit – all diese Minus verwandelten sich in ein Plus. Sie gaben ihm die Möglichkeit, im Bettelsack „Nationalsozialismus" alle Formen der Unzufriedenheit zu vereinen und die Masse dorthin zu führen, wohin sie ihn stieß. Von den eignen Improvisationen des Beginns blieb im Gedächtnis des Agitators nur das haften, was Billigung fand. Seine politischen Gedanken waren die Frucht der rednerischen Akustik. So ging die Auswahl der Losungen vonstatten. So verdichtete sich das Programm. So bildete sich aus dem Rohstoff der „Führer".

Mussolini war von Anfang an der sozialen Materie bewusster als Hitler, dem der Polizeimystizismus eines Metternich näher ist als die politische Algebra Machiavellis. Mussolini ist geistig verwegener und zynischer. Als Beweis dürfte genügen, dass der römische Atheist sich der Religion lediglich bedient wie der Polizei oder der Justiz, während sein Berliner Kollege wirklich an die Unfehlbarkeit der römischen Kirche glaubt. In jener Zeit, als der heutige Diktator Italiens Marx noch für „unser aller unsterblichen Meister" hielt, verteidigte er nicht ohne Geschick die Theorie, die im Leben der heutigen Gesellschaft vor allem das Gegeneinanderwirken zweier grundlegender Klassen sieht: der Bourgeoisie und des Proletariats. Allerdings, schrieb Mussolini im Jahre 1914, liegen zwischen ihnen sehr zahlreiche Mittelschichten, die sozusagen das „einigende Gewebe der menschlichen Kollektive" bilden; aber „in einer Krisenperiode werden die Mittelschichten ihren Interessen und Ideen gemäß angezogen von der einen oder der andern der beiden Hauptklassen". Eine sehr wichtige Verallgemeinerung! Wie die wissenschaftliche Medizin ihre Adepten sowohl mit der Möglichkeit ausrüstet, einen Kranken zu heilen, als auch mit jener, auf kürzestem Wege einen Gesunden ins Grab zu legen, so hat die wissenschaftliche Analyse der Klassenbeziehungen – die von ihrem Urheber zur Mobilisierung des Proletariats gedacht war – Mussolini, als er ins gegnerische Lager schwenkte, die Möglichkeit gegeben, die Mittelklassen gegen das Proletariat zu mobilisieren. Hitler hat die gleiche Arbeit verrichtet, wobei er die Methodologie des italienischen Faschismus in die Sprache der deutschen Mystik übersetzte.

Solange die Nazis als Partei handelten und nicht als Staatsmacht, fanden sie fast keinen Eingang in die Arbeiterklasse. Andrerseits betrachtete sie die Großbourgeoisie – auch jene, die Hitler mit Geld unterstützte – nicht als ihre Partei. Das nationale „Erwachen" stützte sich ganz und gar auf die Mittelklassen, den rückständigsten Teil der Nation, den schweren Ballast der Geschichte. Die politische Kunst bestand darin, das Kleinbürgertum durch Feindseligkeit gegen das Proletariat zusammenzuschweißen. Was wäre zu tun, damit alles besser werde? Vor allem die niederdrücken, die unten sind. Kraftlos vor den großen Wirtschaftsmächten, hofft das Kleinbürgertum, durch die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen seine gesellschaftliche Würde wiederherzustellen.

Die Nazis geben ihrem Umsturz den usurpierten Namen Revolution. In Wirklichkeit lässt der Faschismus in Deutschland wie auch in Italien die Gesellschaftsordnung unangetastet. Hitlers Umsturz hat, isoliert betrachtet, nicht einmal ein Recht auf den Namen Konterrevolution. Aber man darf ihn nicht abgesondert sehen: er ist die Vollendung des Kreislaufs von Erschütterungen, der in Deutschland 1918 begann. Die Novemberrevolution, die die Macht den Arbeiter- und Soldatenräten übergab, war in ihrer Grundtendenz proletarisch. Allein, die an der Spitze der Arbeiterschaft stehende Partei gab die Macht dem Bürgertum zurück. In diesem Sinne eröffnete die Sozialdemokratie die Ära der Konterrevolution, ehe es der Revolution gelang, ihr Werk zu vollenden. Solange die Bourgeoisie von der Sozialdemokratie und folglich von den Arbeitern abhängig war, enthielt das Regime aber immer noch Elemente des Kompromisses. Bald ließ die internationale und die innere Lage des deutschen Kapitalismus keinen Raum für Zugeständnisse. Rettete die Sozialdemokratie die Bourgeoisie vor der proletarischen Revolution, so hatte der Faschismus seinerseits die Bourgeoisie vor der Sozialdemokratie zu retten. Hitlers Umsturz ist nur das Schlussglied in der Kette der konterrevolutionären Verschiebungen.

Der Kleinbürger ist dem Entwicklungsgedanken feind, denn die Entwicklung geht beständig gegen ihn: Der Fortschritt brachte ihm nichts als unbezahlbare Schulden. Der Nationalsozialismus lehnt nicht nur den Marxismus sondern auch den Darwinismus ab. Die Nazis verfluchen den Materialismus, weil die Siege der Technik über die Natur den Sieg des großen über das kleine Kapital bedeuten. Die Führer der Bewegung liquidieren den „Intellektualismus" nicht so sehr deshalb, weil sie selbst mit einem Intellekt zweiter und dritter Sorte versehen sind, sondern vor allem, weil ihre geschichtliche Rolle nicht zulässt, einen beliebigen Gedanken zu Ende zu führen. Der kleine Mann braucht eine höchste Instanz, die über Materie und Geschichte steht, gefeit gegen Konkurrenz, Inflation, Krise und Versteigerung. Der Evolution, dem „ökonomischen Denken", dem Rationalismus – dem zwanzigsten, neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert – wird der nationale Idealismus als die Quelle des Heldischen entgegengestellt. Die Nation Hitlers ist ein mythologischer Schatten des Kleinbürgertums selbst, sein pathetischer Wahn vom tausendjährigen Reich auf Erden.

Um die Nation über die Geschichte zu erheben, gab man ihr als Stütze die Rasse. Den geschichtlichen Ablauf betrachtet man als Ausfluss der Rasse. Die Eigenschaften der Rasse werden ohne Bezug auf die veränderlichen gesellschaftlichen Bedingungen konstruiert. Das niedrige „ökonomische Denken" ablehnend, steigt der Nationalsozialismus ein Stockwerk tiefer: gegen den wirtschaftlichen Materialismus beruft er sich auf den zoologischen!

Die Rassentheorie – wie besonders geschaffen für einen anspruchsvollen Autodidakten, der nach einem Universalschlüssel für alle Geheimnisse des Lebens sucht – sieht im Licht der Ideengeschichte besonders kläglich aus. Die Religion des rein Germanischen musste Hitler aus zweiter Hand beim französischen Diplomaten und dilettierenden Schriftsteller Gobineau entlehnen. Die politische Methodologie fand Hitler fertig bei den Italienern vor. Mussolini hat ausgiebig die marxsche Theorie vom Klassenkampf benutzt. Der Marxismus selbst war die Frucht einer Verbindung deutscher Philosophie, französischer Historie und englischer Ökonomik. Im Schatten des Stammbaums der Ideen – selbst der rückschrittlichsten und stumpfsinnigsten – bleibt vom Rassismus auch nicht die Spur übrig.

Die Armseligkeit der nationalsozialistischen Philosophie hat die Universitätsprofessoren selbstverständlich nicht gehindert, mit vollen Segeln in Hitlers Fahrwasser einzulenken, – als sein Sieg außer Frage stand. Die Jahre der Weimarer Ordnung waren für die Mehrheit des Professorenpöbels eine Zeit der Verwirrung und Unruhe. Die Historiker, Ökonomisten, Juristen und Philosophen ergingen sich in Vermutungen darüber, welches der einander bekämpfenden Wahrheitskriterien das echte sei, das heißt, welches Lager sich zu guter letzt als Sieger erweisen werde. Die faschistische Diktatur beseitigt die Zweifel der Fäuste und das Schwanken der Hamlets vom Universitätskatheder. Aus der Dämmerung der parlamentarischen Relativität tritt die Wissenschaft wiederum in das Reich des Absoluten ein. Einstein musste Deutschland verlassen.

Auf der Ebene der Politik ist der Rassismus eine aufgeblasene und prahlerische Abart des Chauvinismus, gepaart mit Phrenologie. Wie herabgekommener Adel Trost findet in der alten Deszendenz seines Bluts, so besäuft sich das Kleinbürgertum am Märchen von den besonderen Vorzügen seiner Rasse. Es verdient Beachtung, dass die Führer des Nationalsozialismus nicht germanische Deutsche sind, sondern Zugewanderte aus Österreich wie Hitler selbst aus den ehemaligen Baltischen Provinzen des Zarenreichs wie Rosenberg, aus den Kolonialländern, wie der augenblickliche Stellvertreter Hitlers in der Parteileitung Hess und; der neue Minister Darre. Es bedurfte der Schule barbarischer nationaler Balgerei in den kulturellen Randgebieten, um den Führern die Gedanken einzuflößen, die später ein Echo im Herzen der barbarischsten Klassen Deutschlands fanden.

Die Persönlichkeit und die Klasse – der Liberalismus und der Marxismus – sind das Böse. Die Nation ist das Gute. Allein, an der Schwelle des Eigentums verkehrt sich diese Philosophie ins Gegenteil. Nur im persönlichen Eigentum liegt das Heil. Der Gedanke des nationalen Eigentums ist Brut des Bolschewismus. Die Nation vergottend, will der Kleinbürger ihr doch nichts schenken. Im Gegenteil erwartet er, dass die Nation ihm selbst Besitz beschert und diesen dann gegen Arbeiter und Gerichtsvollzieher in Schutz nimmt.

Auf dem Gebiet der heutigen Wirtschaft – international in den Verbindungen, unpersönlich in den Methoden – scheint das Rassenprinzip einem mittelalterlichen Ideenfriedhof entstiegen zu sein. Die Nazis machen im Voraus Zugeständnisse: Die Rassenreinheit, die im Reiche des Geistes durch einen Pass bescheinigt wird, muss auf wirtschaftlichem Gebiet durch Geschäftstüchtigkeit nachgewiesen werden. Unter den heutigen Bedingungen heißt das: Konkurrenzfähigkeit. Durch die Hintertür kehrt der Rassismus zum Wirtschaftsliberalismus zurück, der nur von politischen Freiheiten gereinigt ist.

Praktisch läuft der Nationalismus in der Wirtschaft auf ohnmächtige Ausbrüche des Antisemitismus hinaus. Vom heutigen Wirtschaftssystem sondern die Nazi das raffende oder Bankkapital als den bösen Geist ab: grade in diesem Bereich nimmt ja die jüdische Bourgeoisie einen bedeutenden Platz ein. Sich vor dem ganzen Kapitalismus beugend, bekriegt der Kleinbürger den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im langschößigen Kaftan und oft ohne einen Groschen in der Tasche. Der Pogrom wird zum Beweis rassischer Überlegenheit.

Das Programm, mit dem der Nationalsozialismus an die Macht gelangte, erinnert nur zu sehr an die jüdischen Warenhäuser der finsteren Provinz. Was findet man dort nicht alles, zu niedrigem Preis und in noch niedrigerer Qualität: Die Erinnerung an die „glücklichen" Zeiten der freien Konkurrenz und die undeutliche Überlieferung von der Standfestigkeit der Ständeordnung; Träume einer Auferstehung des Kolonialreichs und der Wahn von einer abgeschlossenen Wirtschaft; Phrasen über Rückkehr vom römischen zum altdeutschen Recht und Befürwortung des amerikanischen Moratoriums; neidische Feindschaft gegen die Ungleichheit in Gestalt einer Villa und eines Autos und tierische Furcht vor der Gleichheit in Gestalt des Arbeiters mit Mütze und ohne Kragen; tobenden Nationalismus und Angst vor den Weltgläubigern – all dieser internationale Auswurf politischer Gedanken füllt die geistige Schatzkammer des neudeutschen Messianismus.

Der Faschismus entdeckte für die Politik den Bodensatz der Gesellschaft. Nicht nur in den Bauernhäusern sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst predigt durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein. Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die wunderbare, vom Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken, tragen unter dem Sweater Amulette. Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus gab ihnen die Tendenz. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft aus dem nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden müsste, ist heute durch den Schlund hoch gekommen: Die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.

Der deutsche wie der italienische Faschismus stieg an die Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das er in einen Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammenpresste Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andre als eine Regierung des Kleinbürgertums. Mussolini hat recht: Die Mittelklassen sind nicht fähig zu selbständiger Politik. In Perioden großer Krisen sind sie berufen, die Politik einer der beiden Hauptklassen bis zum Unsinn zu führen. Dem Faschismus gelang es, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen. Solche Losungen wie die Verstaatlichung der Trusts und die Abschaffung des „arbeits- und mühelosen Einkommens" waren nach Übernahme der Macht mit einem Mal über Bord geworfen. Im Gegenteil, der Partikularismus der deutschen Länder – der sich auf die Eigenarten des kleinen Mannes stützte – hat dem polizeilichen Zentralismus Platz gemacht, den der moderne Kapitalismus braucht. Jeder Erfolg der nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik wird unvermeidlich Erdrückung des kleinen Kapitals durch das große bedeuten.

Das Programm der kleinbürgerlichen Illusionen wird dabei nicht abgeschafft; es wird einfach von der Wirklichkeit abgetrennt und in Ritualhandlungen aufgelöst. Die Vereinigung aller Klassen läuft hinaus auf die Halbsymbolik der Arbeitsdienstpflicht und die Beschlagnahme des Arbeiterfeiertags „zugunsten des Volkes". Die Beibehaltung der gotischen Schrift im Gegensatz zur lateinischen ist eine symbolische Vergeltung für das Joch des Weltmarkts. Die Abhängigkeit von den internationalen – darunter auch jüdischen – Bankiers ist nicht um eine Jota gemildert; dafür ist es verboten, Tiere nach dem Talmudritual zu schlachten. Ist der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert, so sind die Straßen des Dritten Reiches mit Symbolen ausgelegt.

Indem er die Illusionen auf elende bürokratische Maskeraden zurückführt, erhebt sich der Nationalsozialismus über die Nation als die reinste Verkörperung des Imperialismus. Die Hoffnungen darauf, dass die Hitlerregierung heute oder morgen als Opfer ihres inneren Bankrotts fallen werde, sind vollkommen falsch. Das Programm war für die Nazi nötig, um an die Macht zu kommen; aber die Macht dient Hitler durchaus nicht dazu, das Programm zu erfüllen. Die gewaltsame Zusammenfassung aller Kräfte und Mittel des Volkes im Interesse des Imperialismus – die wahre geschichtliche Sendung der faschistischen Diktatur – bedeutet die Vorbereitung des Krieges; diese Aufgabe duldet keinerlei Widerstand von innen und führt zur weiteren mechanischen Zusammenballung der Macht. Den Faschismus kann man weder reformieren, noch zum Abtreten bewegen. Ihn kann man nur stürzen. Der politische Kreislauf der Naziherrschaft läuft auf die Alternative hinaus: Krieg oder Revolution.

Prinkipo. Juni 1933.

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