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Leo Trotzki 19331107 Unsere heutigen Aufgaben

Leo Trotzki: Unsere heutigen Aufgaben

[Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der Internationalen Kommunisten Deutschlands, Jahrgang 1, Nr. 15 (Ende November 1933), S. 2 und Schriften über Deutschland, Band II, S. 627-631]

Der Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland führte beim Proletariat der übrigen europäischen Länder nicht zu einer Stärkung der kommunistischen, sondern der demokratischen Richtungen. In besonders greller Form beobachten wir das am Beispiel Englands und Norwegens. Doch derselbe Prozess vollzieht sich ohne Zweifel auch in einer Reihe anderer Länder. Höchstwahrscheinlich wird insbesondere die belgische Sozialdemokratie in der nächsten Periode einem neuen politischen Aufschwung entgegengehen. Dass der Reformismus die übelste Bremse der geschichtlichen Entwicklung und die Sozialdemokratie zum Zusammenbruch verurteilt ist, gehört zu unserem ABC. Aber das ABC allein ist zu wenig. Man muss die konkreten Etappen des politischen Prozesses zu unterscheiden wissen. In dem allgemeinen geschichtlichen Verfall des Reformismus wie des Kapitalismus sind Perioden zeitweiligen Aufschwungs unvermeidlich. Bevor die Lampe erlischt, flackert sie zuweilen noch recht hell auf.

Die Formel „Entweder Faschismus oder Kommunismus" ist vollkommen richtig, doch nur in letzter geschichtlicher Hinsicht. Die unheilvolle Politik der Komintern, welche sich vermöge der Autorität des Arbeiterstaates aufrechterhält, hat nicht nur die revolutionären Methoden kompromittiert, sondern auch der mit Verbrechen und Verrat besudelten Sozialdemokratie die Möglichkeit gegeben, von neuem vor der Arbeiterklasse die Fahne der Demokratie als die Fahne des Heils zu schwingen.

Dutzende von Millionen Arbeiter sind durch die Gefahr des Faschismus in der Tiefe ihrer Seele aufgewühlt. Hitler hat ihnen von Neuem gezeigt, was die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen und der elementaren demokratischen Rechte bedeutet. Die Stalinisten haben während der letzten Jahre behauptet, zwischen Faschismus und Demokratie sei kein Unterschied und Faschismus und Sozialdemokratie seien Zwillinge.1 Die Arbeiter der ganzen Welt haben sich anhand der tragischen Erfahrung Deutschlands von der verbrecherischen Unsinnigkeit dieses Geredes überzeugt. Von nun an vollzieht sich der weitere Verfall der stalinistischen Parteien unter für den revolutionären Flügel außerordentlich günstigen Bedingungen. Von nun an ist es aber auch das Bestreben der Arbeiter, sich an ihre Massenorganisationen und demokratischen Rechte zu halten. Dank der zehnjährigen verbrecherischen Politik der stalinistischen Komintern steht das politische Problem vor dem Bewusstsein der Millionen Arbeitermassen nicht in Form der entschiedenen Antithese: Diktatur des Faschismus oder Diktatur des Proletariats, sondern in Form der sehr viel primitiveren und verschwommeneren Alternative: Faschismus oder Demokratie.

Man muss die politische Ausgangsstellung nehmen, wie sie ist, und darf sich keinen Illusionen hingeben. Selbstverständlich bleiben wir uns und unserem Banner stets treu; wir sprechen stets und unter allen Bedingungen offen aus, wer wir sind, was wir wollen, wohin wir gehen. Aber wir können nicht mechanisch den Massen unser Programm aufzwingen. Die Erfahrung der Stalinisten in dieser Beziehung ist viel sagend genug. Anstatt ihre Lokomotive vor den Zug der Arbeiterklasse zu spannen und seine Vorwärtsbewegung zu beschleunigen, lassen die Stalinisten ihre Lokomotive unter gellendem Pfeifen dem Zug des Proletariats entgegenarbeiten, seine Vorwärtsbewegung aufhalten und zuweilen mit ihm zusammenstoßen, wobei von der kleinen Lokomotive nur Trümmer übrig bleiben. Das Ergebnis einer solchen Politik liegt vor aller Augen: In einigen Ländern wurde das Proletariat wehrlos Opfer des Faschismus, in den übrigen zurückgeworfen auf die Positionen des Reformismus.

Von einem ernsten und dauerhaften Wiederaufleben des Reformismus kann selbstverständlich nicht die Rede sein. Es handelt sich auch eigentlich nicht um den Reformismus im breiten Sinn des Wortes, sondern um das instinktive Bestreben der Arbeiter, ihre Organisationen und ihre „Rechte" zu schützen. Von diesen reinen Verteidigungs- und konservativen Stellungen kann und muss die Arbeiterklasse im Prozess des Kampfes zum revolutionären Angriff auf der ganzen Linie übergehen. Der Angriff seinerseits muss die Massen empfänglich machen für die großen revolutionären Aufgaben und folglich für unser Programm. Doch um das zu erreichen, muss man verstehen, an die sich heute auftuende Verteidigungsphase zusammen mit den Massen, in ihren vordersten Linien, heranzutreten, ohne sich weder in ihnen aufzulösen noch von ihnen loszureißen.

Die Stalinisten (und ihre kläglichen Nachahmer, die Brandlerianer) erklärten die demokratischen Losungen in Acht für alle Länder der Welt: Für Indien, das seine nationale Befreiungsrevolution noch nicht vollbracht hat, für Spanien, wo es der proletarischen Vorhut noch bevorsteht, den Weg für die Umwandlung der schleichenden bürgerlichen Revolution in die sozialistische zu finden, für Deutschland, wo das geschlagene und atomisierte Proletariat all dessen beraubt ist, was es sich im letzten Jahrhundert erkämpft hatte, für Belgien, dessen Proletariat das Auge nicht von seiner Ostgrenze abwendet und, ein tiefes Misstrauen in der Seele erstickend, die Partei des demokratischen „Pazifismus" (Vandervelde und Co.) unterstützt. Die nackte Verneinung der demokratischen Losungen leiten die Stalinisten aus der allgemeinen Charakteristik unserer Epoche als der Epoche des Imperialismus und der sozialistischen Revolutionen ab. In einer solchen Fragestellung ist auch nicht ein Gran Dialektik. Die demokratischen Losungen und Illusionen lassen sich nicht durch eine Verordnung abschaffen. Die Masse muss durch sie hindurch und sie in der Kampferfahrung überwinden. Aufgabe der Vorhut ist es, ihre Lokomotive vor den Massenzug zu spannen. In der heutigen Verteidigungsstellung der Arbeiterklasse muss man die dynamischen Elemente auffinden, man muss die Masse veranlassen, aus ihren eigenen demokratischen Vorsätzen die Schlussfolgerung zu ziehen, man muss das Bett des Kampfes verbreitern und vertiefen. Auf diesem Wege auch geht die Quantität in Qualität über.

Erinnern wir noch einmal daran, dass die Bolschewiki im Jahre 1917, als sie schon unvergleichlich stärker waren als jede einzelne der heutigen Kominternsektionen, weiterhin die schnellstmögliche Einberufung der Gesetzgebenden Versammlung, Senkung des Wahlalters, Wahlrecht für die Soldaten, Wählbarkeit der Beamten, usw., usw. forderten. Die Hauptlosung der Bolschewiki „Alle Macht den Räten" bedeutete von April bis September 1917: Alle Macht der Sozialdemokratie (Menschewiki und Sozialrevolutionäre). Als die Reformisten eine Regierungskoalition mit der Bourgeoisie eingingen, stellten die Bolschewiki die Losung auf: „Nieder mit den Minister-Kapitalisten!" Das heißt wiederum: Arbeiter, zwingt die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die ganze Macht in ihre Hände zu nehmen! Die politische Erfahrung der einzigen siegreichen proletarischen Revolution ist von den Stalinisten bis zur Unkenntlichkeit entstellt und umgelogen worden. Unsere Aufgabe besteht auch hier darin, die Tatsachen wieder herzustellen und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen für das Heute zu ziehen.

Wir Bolschewiki meinen, dass die wirkliche Rettung vor Faschismus und Krieg die revolutionäre Eroberung der Macht und die Errichtung der proletarischen Diktatur ist. Ihr Arbeitersozialisten seid nicht einverstanden, diesen Weg zu betreten. Ihr hofft, auf dem Wege der Demokratie nicht nur das Eroberte retten, sondern auch vorwärts schreiten zu können. Gut! Solange wir Euch nicht überzeugt und auf unsere Seite gezogen haben, sind wir bereit, mit Euch diesen Weg bis ans Ende zu gehen. Doch fordern wir, dass Ihr den Kampf um die Demokratie nicht mit Worten, sondern mit Taten führt. Alle – jeder auf seine Art – erkennen an, dass unter den heutigen Bedingungen eine „starke Regierung" nötig sei. Zwingt Eure Partei, einen wirklichen Kampf um einen starken demokratischen Staat zu eröffnen. Dafür muss man vor allem alle Überbleibsel des Feudalstaats hinwegfegen. Allen Männern und Frauen über 18 Jahren soll das Wahlrecht gegeben werden, auch den Soldaten der Armee. Völlige Konzentrierung der gesetzgebenden und ausführenden Gewalt in den Händen eines einzigen Hauses! Möge Eure Partei eine ernsthafte Kampagne für diese Losungen beginnen, möge sie Millionen Arbeiter auf die Beine bringen, möge sie auf den Druck der Massen hin die Macht ergreifen. Das wäre jedenfalls ein ernster Versuch, gegen Faschismus und Krieg zu kämpfen. Wir Bolschewiki würden uns das Recht vorbehalten, den Arbeitern die Unzulänglichkeit der demokratischen Losungen darzulegen; wir könnten keine politische Verantwortung für die sozialdemokratische Regierung übernehmen, doch würden wir Euch im Kampf um eine solche Regierung aufrichtig helfen; gemeinsam mit Euch würden wir alle Attacken der bürgerlichen Reaktion abschlagen. Mehr noch, wir würden uns vor Euch verpflichten, nicht eher revolutionäre Handlungen, welche die Grenzen der Demokratie (der wirklichen Demokratie) überschreiten, zu unternehmen, als bis die Mehrheit der Arbeiter bewusst auf Seiten der revolutionären Diktatur steht.

Das muss in der nächsten Periode unsere Einstellung zu den sozialistischen und parteilosen Arbeitern sein. Während wir gemeinsam mit ihnen die Ausgangsstellung der demokratischen Verteidigung beziehen, müssten wir jedoch dieser Verteidigung von Anfang an wirklich proletarischen Charakter verleihen. Man muss sich beharrlich sagen: Wir lassen bei uns das, was in Deutschland geschah, nicht zu. Jeder fortgeschrittene Arbeiter muss ganz und gar von dem Gedanken durchdrungen sein: dem Faschismus nicht erlauben, den Kopf hervorzurecken. Man muss allmählich und hartnäckig die Volkshäuser, Redaktionen und Vereinslokale mit einem Ring der proletarischen Verteidigung umgeben. Ebenso beharrlich muss man alle Herde des Faschismus (Zeitungsredaktionen, Klubs, faschistische Kasernen) mit einem Ring der proletarischen Blockade umzingeln. Man muss Kampfabkommen treffen mit den politischen, gewerkschaftlichen, kulturellen, sportlichen, genossenschaftlichen und anderen Arbeiterorganisationen über gemeinsames Vorgehen zur Verteidigung aller Einrichtungen der proletarischen Demokratie. Je ernsthafteren und überlegteren, je weniger kreischenden und prahlerischen Charakter dies Werk haben wird, um so rascher wird es das Vertrauen der proletarischen Massen gewinnen, angefangen mit der Jugend; und umso gewisser wird es zum Sieg führen.

So stellen sich mir die Grundzüge einer wirklich marxistischen Politik in der kommenden Periode dar. In den verschiedenen Ländern Europas wird diese Politik natürlich verschiedene Gestalt annehmen, je nach den nationalen Umständen. Aufmerksam der Veränderung der Umstände und den Verschiebungen im Massenbewusstsein zu folgen und auf jeder neuen Etappe die Losungen aufzustellen, die sich aus der Gesamtsituation ergeben, – darin besteht die Aufgabe der revolutionären Führung.

7. November 1933

[Dieser Artikel stellt das Vorwort für eine Broschüre der belgischen Genossen dar.]

1 Dieser Satz fehlt in „Unser Wort“, ergänzt nach „Schriften über Deutschland“, Band II

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