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Leo Trotzki 19330205 Vor der Entscheidung

Leo Trotzki: Vor der Entscheidung

Das Lager der Konterrevolution

[Nach Permanente Revolution, 3. Jahrgang Nr. 6 (2. Februarwoche 1933), S. 1 und 3]

Die Regierungswechsel seit der Zeit Brünings zeigen, wie inhaltslos und leer die Philosophie vom Universalfaschismus ist (vom trockenen Faschismus, National-Faschismus, Sozial- und linken Sozial-Faschismus) mit der die Stalinisten alle und alles außer sich selbst belegen. Die besitzenden Spitzen sind zu gering an Zahl und zu sehr dem Volke verhasst, um im eigenen Namen regieren zu können. Sie brauchen eine Deckung: eine traditionell-monarchische («Gottesgnadentum»), eine liberal-parlamentarische («Volkssouveränität») eine bonapartistische («unbefangener Vermittler») oder endlich die faschistische («Volkszorn»). Die Monarchie haben ihnen der Krieg und die Revolution genommen. 14 Jahre lang hielten sie sich dank den Reformisten auf den Krücken der Demokratie. Als das Parlament unter dem Drucke der Klassengegensätze in zwei Hälften zerfiel, versuchten sie sich hinter dem Rücken des Präsidenten zu verstecken. Es begann das Kapitel des Bonapartismus, d.h. der bürokratisch-polizeilichen Herrschaft, die über der Gesellschaft steht und sich durch das relative Gleichgewicht von zwei entgegengesetzten Lagern hält.

Nach den Übergangsregierungen von Brüning und Papen gewann der Bonapartismus in der Person des Generals Schleicher seine reinste Form, jedoch nur um sofort seine Unfähigkeit zu offenbaren. Alle Klassen blickten mit Feindschaft, Staunen oder Unruhe auf diese rätselhafte politische Gestalt, die einem Fragezeichen mit Generalsepauletten ähnlich sah. Doch die Hauptursache des Misserfolgs von Schleicher, wie übrigens auch seiner vorausgegangener Erfolge, lag nicht in ihm selbst: solange das Lager der Revolution und das Lager der Konterrevolution ihre Kräfte noch nicht im Kampfe gemessen haben, kann der Bonapartismus nicht beständig sein. Zu alledem ist die furchtbare industrielle und Agrarkrise, die wie ein Alpdruck auf dem Lande lastet, nicht geeignet, die bonapartistische Equilibristik zu erleichtern. Zwar hat auf den ersten Blick die Passivität des Proletariats die Aufgaben des «sozialen Generals» außerordentlich begünstigt. Doch es kam anders: eben diese Passivität schwächte jene, die herrschenden Klassen fesselnde Angst und erlaubte den sie zerreißenden Gegensätzen nach außen zu treten.

Ökonomisch fristet die deutsche Landwirtschaft ein parasitäres Dasein und hängt wie ein schwerer Klotz an den Beinen der Industrie. Doch die enge soziale Basis der industriellen Bourgeoisie macht für sie die Aufrechterhaltung der «nationalen» Landwirtschaft, d. h. einer Klasse von Junkern und reichen Bauern, mit allen von ihnen abhängigen Schichten, politisch notwendig. Der Begründer dieser Politik war Bismarck, der die Agrarier mit den Schwerindustriellen durch militärische Siege, Goldkontribution, hohe Profite und – durch die Angst vor dem Proletariat, eng verband. Doch Bismarcks Zeiten haben das Zeitliche gesegnet. Das heutige Deutschland geht nicht von Siegen, sondern von einer Niederlage aus. Nicht Frankreich zahlt ihm Tribut, sondern es zahlt an Frankreich. Der in Zersetzung begriffene Kapitalismus wirft keine Profite ab und eröffnet keine Perspektiven. Als einzige Bindung der herrschenden Klassen bleibt die Angst vor den Arbeitern. Aber das deutsche Proletariat erwies sich, durch die Schuld seiner Führung, in der allerkritischten Periode gelähmt - und die Gegensätze unter den besitzenden Klassen brachen nach außen durch. Bei der abwartenden Passivität des linken Lagers fiel der soziale General unter einem Schlage von rechts. Die Spitze der besitzenden Klassen zog danach ihre Regierungsbilanz; im Passivum – Zersplitterung in den eigenen Reihen; im Aktivum – ein fünfundachzigjähriger Feldmarschall. Was blieb weiter? Nichts, außer Hugenberg. Wenn Schleicher die reine Idee des Bonapartismus verkörperte, so verkörpert Hugenberg die reine Idee des Eigentums. Der General kokettierte, weigerte sich die Frage zu beantworten, ob Kapitalismus oder Sozialismus besser sei; Hugenberg erklärt ohne Umschweife, dass es nichts besseres gibt als einen ostelbischen Junker auf dem Thron. Der Grundbesitz ist die verwurzelste, die schwerwiegendste, die beständigste Form des Besitzes. Wenn die deutsche Landwirtschaft ökonomisch ein Zuhälter der deutschen Industrie ist, so musste politisch im Kampfe der Besitzer gegen das Volk gerade Hugenberg an die Spitze treten.

So führte das Regime des höchsten Schiedsrichters, der sich über alle Klassen und Parteien erhob, direkt zur Herrschaft der Deutschnationalen Partei der eigennützigsten und gierigsten Clique der Besitzenden. Die Regierung Hugenberg bedeutet die Quintessenz des sozialen Parasitismus. Aber eben deshalb erwies sie sich in dem Augenblick, da sie notwendig wurde, als unmöglich in ihrer reinen Form. Hugenberg braucht eine Deckung. Heute kann er sich noch nicht hinter dem Kaisermantel verstecken, – er ist gezwungen zum Braunhemd der Nazis zu greifen. Ist es unmöglich, mit Hilfe der Monarchie die Sanktionierung der höchsten Himmelskräfte für den Besitz zu erlangen, so bleibt nur übrig, sich durch die Sanktionierung des reaktionären und hemmungslosen Pöbels zu decken.

Die Einbeziehung Hitlers in die Regierung verfolgte ein doppeltes Ziel: erstens – die Kamarilla der Besitzer durch die Führer der «nationalen Bewegung» zu schmücken, zweitens – die Kampfkräfte des Faschismus unter die unmittelbare Verfügung der Besitzer zu stellen.

Nicht leichten Herzens entschloss sich die hochgestellte Clique zum Geschäft mit den übelriechenden Faschisten. Hinter den hemmungslosen Emporkömmlingen stehen zu viele Fäuste: darin liegt die gefährliche Seite der braunen Verbündeten; doch darin auch ihr entscheidender, vielmehr ihr einziger Vorteil. Und dieser Vorteil entscheidet, denn die Zeit ist heute so, dass der Schutz des Besitzes nicht anders gesichert wird, als durch Fäuste. Ohne die Nationalsozialisten ist es unmöglich auszukommen. Aber man kann ihnen auch nicht die wirkliche Macht ausliefern: die Bedrohung von Seiten des Proletariats ist heute noch nicht so scharf, dass die Spitzen bewusst einen Bürgerkrieg mit unsicherem Ausgang provozieren wollten. Dieser neuen Etappe in der Entwicklung der sozialen Krise in Deutschland entspricht auch die neue Regierungskombination, in der die Militär- und Wirtschaftsposten in den Händen der Herren verbleiben, während den Plebejern dekorative oder zweitrangige Posten übergeben sind. Die inoffizielle, aber umso wirksamere Funktion der faschistischen Minister ist: die Revolution in Schach zu halten. Jedoch die Zerschlagung und Vernichtung der proletarischen Avantgarde sollen die Faschisten nicht anders ausführen, als in den Grenzen, die ihnen die Vertreter der Agrarier und Industriellen vorschreiben. Dies ist der Plan. Doch wie wird sich seine Ausführung gestalten?

Die Regierung Hugenberg-Hitler schließt ein kompliziertes System von Widersprüchen in sich: zwischen den traditionellen Vertretern der Agrarier einerseits und den patentierten Vertretern des Großkapitals andrerseits: zwischen diesen und jenen einerseits und den Orakeln der reaktionären Kleinbourgeoisie andererseits. Die Kombination ist äußerst unbeständig In ihrer gegenwärtigen Form wird sie sich nicht lange halten. Was würde im Falle ihres Zerfalls an ihre Stelle treten? Da die Hauptinstrumente der Macht nicht in Hitlers Händen sind, und da er zur Genüge bewiesen hat, dass neben dem Hass gegen das Proletariat, die Angst vor den herrschenden Klassen und ihren Einrichtungen tief in seinen Knochen sitzt, kann man nicht restlos die Möglichkeit ausschließen, dass die sozialen Spitzen, im Falle des Bruchs mit den Nazis, erneut versuchen werden sich auf den präsidial-bonarpartistischen Weg zurückzuziehen. Jedoch die Wahrscheinlichkeit einer solchen Variante, die überdies lediglich episodischen Charakter tragen könnte, ist äußerst gering. Unvergleichlich wahrscheinlicher ist die weitere Entwicklung der Krise in der Richtung zum Faschismus. Hitler als Reichskanzler bedeutet eine so unmittelbare und offene Herausforderung an die Adresse der Arbeiterklasse, dass eine Massenreaktion, schlimmstenfalls eine Reihe zerstreuter Reaktionen, völlig unvermeidlich sind. Und das genügt, damit die Faschisten zu den vorderen Plätzen aufrücken, ihre allzu schwerfälligen Vormünder beiseite schiebend. Unter einer Bedingung: wenn die Faschisten selber sich auf den Beinen halten.

Hitlers Regierungsübernahme ist zweifellos ein furchtbarer Schlag für die Arbeiterklasse. Doch ist es noch keine entscheidende, keine endgültige Niederlage. Der Feind, der geschlagen werden konnte, als er sich erst aufwärts bewegte, hat heute eine ganze Reihe Kommandoposten besetzt. Das ist ein großer Vorteil auf seiner Seite, doch der Kampf hat noch nicht stattgefunden. Die Einnahme günstiger Positionen entscheidet an und für sich noch nichts, – es entscheidet die lebendige Kraft.

Reichswehr und Polizei, der Stahlhelm und die Stoßtruppen der Nazis stellen drei selbständige Armeen im Dienste der herrschenden Klassen dar. Aber dem Sinne der gegenwärtigen Regierungskombination nach sind diese Armeen nicht in einer Hand vereinigt. Die Reichswehr, vom Stahlhelm schon nicht zu reden, befinden sich nicht in Hitlers Händen. Seine eigenen bewaffneten Kräfte stellen eine problematische Größe dar, die noch der Überprüfung bedarf. Seine Millionenreserven sind menschlicher Staub. Zur Erlangung der vollen Macht muss Hitler etwas in der Art eines Bürgerkriegs provozieren (den wirklichen Bürgerkrieg fürchtet er selber). Seine solideren Kollegen im Ministerium, die über Reichswehr und Stahlhelm verfügen, würden es vorziehen, das Proletariat mit «friedlichen» Mitteln zu erwürgen. Sie sind viel weniger geneigt einen kleinen Bürgerkrieg zu provozieren – aus Angst vor dem großen. Vom Ministerium, dem ein faschistischer Kanzler voransteht – bis zum vollen Sieg des Faschismus bleibt folglich noch ein nicht kurzer Weg. Das bedeutet: Zur Verfügung des revolutionären Lagers bleibt noch Zeit. Wie viel? Das kann man nicht vorausberechnen. Das kann man nur in Kämpfen messen.

Das Lager des Proletariats

Wenn die offizielle Kompartei behauptet, dass die Sozialdemokratie die wichtigste Stütze der bürgerlichen Herrschaft darstellt so wiederholt sie nur jenen Gedanken, der die Ausgangsposition bei der Gründung der III. Internationale bildete. Die Sozialdemokratie stimmt für das kapitalistische Regime, wenn die Bourgeoisie sie in die Regierung aufnimmt. Die Sozialdemokratie toleriert jede beliebige bürgerliche Regierung, welche die Sozialdemokratie toleriert Aber auch völlig von der Macht verdrängt hört die Sozialdemokratie nicht auf, die bürgerliche Gesellschaft zu unterstützen, indem sie den Arbeitern empfiehlt ihre Kräfte zu schonen – für Kämpfe, zu denen sie nie aufzurufen beabsichtigt. Indem sie die revolutionäre Energie des Proletariats bindet, gibt die Sozialdemokratie der bürgerlichen Gesellschaft die Möglichkeit in Bedingungen zu leben, in denen sie nicht mehr die Kraft zu leben hat, und macht damit den Faschismus zu einer politischen Notwendigkeit. Allein die Berufung Hitlers zur Macht ging von dem, durch die Stimmen sozialdemokratischer Arbeiter gewählten hohenzollernschen Feldmarschall aus! Die politische Kette, die von Wels zu Hitler führt, hat einen völlig anschaulichen personellen Charakter. Darüber kann es unter Marxisten keine Meinungsverschiedenheiten geben. Doch es handelt sich nicht darum, die politische Situation zu deuten, sondern darum, sie revolutionär umzugestalten.

Die Schuld der stalinschen Bürokratie besteht nicht in ihrer «Unversöhnlichkeit» gegenüber der Sozialdemokratie, sondern darin, dass ihre Unversöhnlichkeit politisch kraftlos ist. Aus der Tatsache, dass der Bolschewismus unter Lenins Führung in Russland siegte, folgert die stalinsche Bürokratie für das deutsche Proletariat die «Verpflichtung», sich um Thälmann zu scharen. Ihr Ultimatum lautet: solange die deutschen Arbeiter nicht a priori, auf Vorschuss und unumwunden die kommunistische Führung anerkennen, können sie nicht wagen, an ernste Kämpfe auch nur zu denken. Die Stalinisten drücken sich anders aus. Doch alle Umschreibungen. Beschränkungen und rednerischen Kniffe ändern nichts am Grund-Charakter des bürokratischen Ultimatismus, der es der Sozialdemokratie ermöglicht hat Deutschland bis Hitler zu bringen.

Die Geschichte der deutschen Arbeiterklasse, mit 1914 angefangen, ist das tragischste Kapitel der modernen Geschichte. Welch erschütternder Verrat seitens ihrer historischen Partei, der Sozialdemokratie, und welche Unfähigkeit, welche Kraftlosigkeit ihres revolutionären Flügels! Doch wozu so weit zurückgreifen. In den letzten 2-3 Jahren der faschistischen Flut hat die Politik der stalinschen Bürokratie nichts anderes dargestellt, als eine Kette von Verbrechen, die den Reformismus buchstäblich retteten, und damit die weiteren Erfolge des Faschismus vorbereiteten. Jetzt, da der Feind bereits wichtige Kommandohöhen eingenommen hat, erhebt sich unvermeidlich die Frage ist es nicht zu spät zur Umstellung der Kräfte, zwecks Abwehr, zu rufen? Doch hier entsteht eine weitere Frage: was bedeutet in diesem Fall «zu spät»? Ist es so zu verstehen, dass selbst eine kühne Wendung auf den Weg revolutionärer Politik nicht mehr imstande ist das Kräfteverhältnis radikal zu andern? Oder bedeutet es, dass es keine Möglichkeit und keine Hoffnung gibt, die notwendige Wendung zu erreichen? Das sind zwei verschiedene Fragen.

Auf die erste der beiden haben wir im Wesen bereits geantwortet. Selbst unter günstigsten Bedingungen würde Hitler eine lange Reihe von Monaten – und welch kritischen Monaten! – brauchen, um die Herrschaft des Faschismus zu errichten. Wenn man die Schärfe der ökonomischen und politischen Lage, den drohenden Charakter der dicht herangerückten Gefahr, die furchtbare Unruhe des Proletariats, seine zahlenmäßige Stärke, seine Erbitterung, das Vorhandensein erfahrener Kampfkader in seinen Reihen, die unvergleichliche Fähigkeit der deutschen Arbeiter zu Organisiertheit und Disziplin berücksichtigt, dann ist die Antwort klar: in den Monaten, die die Faschisten brauchen, um die inneren und äußeren Hindernisse zu brechen und ihre Diktatur zu errichten, könnte das Proletariat bei richtiger Führung, zwei und drei Mal zur Macht gelangen

Vor 2½ Jahren hat die Linke Opposition entschieden gefordert: mögen sämtliche Einrichtungen und Organisationen der Kommunistischen Partei, vom ZK bis zur kleinsten Provinzzelle, unverzüglich an parallele sozialdemokratische und gewerkschaftliche Organisationen herantreten mit einem konkreten Vorschlag über gemeinsame Maßnahmen gegen die heranrückende Zertrümmerung der proletarischen Demokratie. Wenn auf dieser Grundlage der Kampf gegen die Nazis aufgebaut worden wäre, würde Hitler heute nicht Kanzler sein und die Kompartei würde die führende Stelle in der Arbeiterklasse einnehmen. Doch Vergangenes ist nicht zurückzuholen. Die Ergebnisse der gemachten Fehler haben sich bereits in politische Tatsachen verwandelt und bilden heute einen Teil der objektiven Situation. Man muss sie nehmen wie sie ist. Sie ist bedeutend schlechter, als sie es sein könnte. Doch sie ist nicht hoffnungslos. Eine politische Wendung – aber eine wirkliche, mutige, offene, bis zu Ende durchdachte, – kann die Lage vollständig retten und den Weg zum Siege eröffnen.

Hitler braucht Zeit. Die wirtschaftliche Belebung, sollte sie Tatsache werden, bedeutete durchaus nicht die Festigung des Faschismus gegen das Proletariat. Bei der geringsten Besserung der Konjunktur wird das nach Profiten hungernde Kapital ein starkes Bedürfnis nach Ruhe in den Betrieben empfinden, und das wird sofort das Kräfteverhältnis zugunsten der Arbeiter verändern. Damit der ökonomische Kampf von den ersten Schritten an in den politischen ausmündet, müssen die Kommunisten auf ihren Posten sein, d. h. in Betrieben und Gewerkschaften. Die sozialdemokratischen Führer haben erklärt, dass sie eine Annäherung an die Kommunistischen Arbeiter wünschen. Mögen die 300.000 Arbeiter der RGO die Reformisten beim Worte nehmen und sich an den ADGB mit dem Vorschlag wenden: sofort, als Fraktion, in den Bestand der freien Gewerkschaften einzutreten. Allein ein solcher Schritt wird eine Änderung im Selbstbefinden der Arbeiter und damit in der gesamten politischen Lage hervorrufen.

Ist jedoch die Wendung selbst möglich? Darin besteht jetzt das ganze Problem. Die Verflacher von Marx, die zum Fatalismus neigen, sehen in der politischen Arena gewöhnlich nichts außer objektiven Ursachen. Je schärfer indes der Klassenkampf wird, je mehr er sich der Entscheidung nähert, umso öfter übergibt er den Schlüssel zur ganzen Lage einer bestimmten Partei- und ihrer Führung. Die Frage steht heute so: wenn seinerzeit die Stalinbürokratie, trotz dem Drucke von 10 politischen Atmosphären, auf dem Wege des stumpfsinnigen Ultimatismus verharrte, wird sie sich heute fähig erweisen einem Druck von 100 Atmosphären zu widerstehen?

Doch vielleicht werden die Massen selber eingreifen und die Parteischranken umwerfen, in der Art wie im November 1932 der Berliner Verkehrsstreik ausbrach? Eine spontane Massenbewegung für ausgeschlossen zu halten, gibt es natürlich keine Ursache. Um wirksam zu sein, müsste sie den Berliner Verkehrsstreik dem Maßstabe nach um das hundert- bis zweihundertfache übertreffen. Das deutsche Proletariat ist mächtig genug um eine solche Bewegung, sogar bei Störungen von oben, zu entfalten. Doch spontane Bewegungen werden eben darum so genannt, weil sie ohne Führung entstehen. Es steht aber die Frage, was die Partei tun soll, um der Massenbewegung einen Anstoß zu geben, um ihre Entfaltung zu unterstützen, um sich an ihre Spitze zu stellen und ihr den Sieg zu sichern…

Die heutigen Telegramme brachten die Nachricht von einem Generalstreik in Lübeck, als Antwort auf die Verhaftung eines sozialdemokratischen Beamten. Diese Tatsache, wenn sie wahr ist, rechtfertigt selbstverständlich nicht im geringsten die sozialdemokratische Bürokratie. Doch sie verurteilt schonungslos die Stalinisten, mit ihrer Theorie vom Sozialfaschismus. Nur die Entfaltung und Verschärfung des Gegensatzes zwischen Nationalsozialisten und Sozialdemokraten vermag, nach all den gemachten Fehlern, die Kommunisten aus dem Zustand der Isolierung herauszuführen und den Weg der Revolution zu eröffnen. Doch diesen Prozess, der in der Logik der Verhältnisse fußt, muss man nicht stören, sondern unterstützen. Der Weg dazu ist – kühne Einheitsfrontpolitik.

Die Märzwahlen, an die sich die Sozialdemokratie klammern wird, um die Energie der Arbeiter zu paralysieren, werden an und für sich selbstverständlich nichts bringen. Wenn bis zu den Wahlen keine großen Ereignisse stattfinden, die die ganze Frage in eine andere Ebene verschieben, muss die Kommunistische Partei automatisch einen Stimmengewinn erhalten. Dieser wird unvergleichlich größer sein, wenn die Kommunistische Partei schon heute die Initiative der Abwehr-Einheitsfront auf sich nimmt. Jawohl, heute geht es um die Verteidigung! Doch die Kommunistische Partei kann sich zugrunde richten wenn sie die Wahlagitation in der Art der Sozialdemokratie – wenn auch mit anderen Ausdrücken – in einen rein parlamentarischen Rummel verwandelt, in ein Mittel der Ablenkung der Massen von ihrer heutigen Schwäche und von der Vorbereitung der Verteidigung. Die mutige Politik der Einheitsfront ist gegenwärtig die einzig richtige Grundlage auch für die Wahlkampagne.

Noch einmal: wird die Kommunistische Partei genügend Kraft für die Wendung aufbringen? Wird es bei den kommunistischen Arbeitern an Energie und Entschlossenheit reichen, um dem Druck von 100 Atmosphären zu helfen sich den Weg in die bürokratischen Schädel zu bahnen? So bitter dieses Bewusstsein auch ist, aber eben so steht jetzt die Frage…

Man muss die Wahrung der völligen politischen Selbständigkeit des Kommunismus bewachen: organisatorisch die Schläge gemeinsam führen, aber die Fahnen nicht vermischen; völlige Loyalität gegenüber dem Verbündeten einhalten, aber ihn wie den Feind von morgen beobachten.*

Wenn die Stalinfraktion die von der gesamten Lage diktierte Wendung verwirklichen sollte, wird die Linke Opposition selbstverständlich ihren Platz in den gemeinsamen Kampfreihen einnehmen. Doch das Vertrauen der Massen zur Wendung wird umso größer sein, je demokratischer sie vollzogen wird. Eine Rede Thälmanns oder ein Manifest des ZK ist zu wenig für den heutigen Schwung der Ereignisse. Es bedarf der Stimme der Partei. Es bedarf eines Parteitages. Es gibt keinen anderen Weg um das Vertrauen der Partei zu sich selbst wiederherzustellen und das Vertrauen der Arbeiter zur Partei zu vertiefen! Der Parteitag muss in 2-3 Wochen zusammentreten, nicht später als die Reichstagseröffnung (wenn diese überhaupt noch stattfindet).

Das Aktionsprogramm ist klar und einfach: sofortiger Vorschlag der einheitlichen Abwehrfront an alle sozialdemokratischen Organisationen, von oben bis unten; sofortiger Vorschlag an den ADGB über Einreihung der RGO in den Bestand der freien Gewerkschaften; sofortige Vorbereitung eines außerordentlichen Parteitages.

Es geht um den Kopf der deutschen Arbeiterklasse, um den Kopf der Kommunistischen Internationale und, – vergessen wir auch das nicht, – um den Kopf der Sowjetrepublik!

Prinkipo, den 5. Februar 1933.

*Im Lichte der letzten Ereignisse und auf dem Hintergrunde der tragischen Fehler des Stalinismus erinnert die Anekdote mit der Kapitulation Wells und anderer an das Auftreten eines Possenreißers in einer Shakespeareschen Tragödie. Diese Leute erklärten gestern: a) Die Gefahr des Faschismus ist, dank der richtigen Politik der Partei, beseitigt; b) die Einheitsfrontpolitik, die in der Vergangenheit zulässig war, wird von nun an konterrevolutionär. Am nächsten Tage nach diesen Offenbarungen kam Hitler zur Macht.

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