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Leo Trotzki 19340222 Der Zentrismus und die Vierte Internationale

Leo Trotzki: Der Zentrismus und die Vierte Internationale

[Nach Unser Wort, 2. Jahrgang 1934, Nr. 7, 1. Märzwoche (Nr. 23), S. 2]

1. Nach den Vorgängen in Deutschland schlagen die Vorgänge in Österreich ein für allemal das Kreuz über dem „klassischen" Reformismus. Von nun ab werden nur mehr die stumpfsinnigen Führer des britischen und amerikanischen Tradeunionismus, ihr französischer Nacheiferer Jouhaux, der Vorsitzende der Zweiten Internationale, Vandervelde, und ähnliche politische Ichtiosauren es über sich bringen, offen von einer Perspektive friedlicher Entwicklung, demokratischer Reformen usw. zu reden. Die überwiegende Mehrzahl der Reformisten schminkt sich bewusst in neue Farben. Der Reformismus macht den zahllosen Schattierungen von Zentrismus Platz, welche heute in den meisten Ländern das Feld der Arbeiterbewegung beherrschen. Dadurch entsteht eine ganz neue, in ihrer Art nie dagewesene Lage für die Arbeit im Geiste des revolutionären Marxismus (Bolschewismus). Die neue Internationale wird sich entwickeln müssen hauptsächlich auf Kosten der heute vorherrschenden zentristischen Tendenzen und Organisationen. Zugleich kann sich die revolutionäre Internationale nicht anders herausbilden als im konsequenten Kampf gegen den Zentrismus. Ideologische Unversöhnlichkeit und geschmeidige Einheitsfrontpolitik sind unter diesen Bedingungen zwei Werkzeuge zur Erreichung ein und desselben Ziels.

Der Charakter des Zentrismus

2. Vor altem muss man sich ein klares Bild machen von den charakteristischsten Zügen des heutigen Zentrismus. Das ist nicht leicht: erstens, weil der Zentrismus kraft seiner organischen Formlosigkeit sich nur schwer zu einer genauen Bestimmung hergibt: er kennzeichnet sich viel mehr durch das, was ihm fehlt, als durch das, was er enthält; zweitens hat der Zentrismus noch nie dermaßen in allen Farben des Regenbogens geschillert wie jetzt, denn noch nie auch befanden sich die Reihen der Arbeiterbewegung so in Gärung wie heutzutage. Politische Gärung bedeutet, dem Wesen des Begriffes selbst nach, Umgruppierung, Verschiebung zwischen den beiden Polen Marxismus und Reformismus, d. h. das Durchlaufen verschiedener Stadien des Zentrismus,

3. Wie schwierig die allgemeine Bestimmung des Zentrismus, der notwendigerweise stets „konjunkturellen" Charakter hat, auch sein mag, so kann und muss man doch die wichtigsten Züge und Eigenheiten der zentristischen Gruppierungen herausarbeiten, die aus dem Zusammenbruch der Zweiten und der Dritten Internationale entstanden sind.

a) Der Zentrismus ist theoretisch formlos und eklektisch; er flieht möglichst theoretische Verpflichtungen und ist (in Worten) geneigt, der „revolutionären Praxis" den Vorzug zu geben vor der Theorie, ohne zu begreifen, dass allein die marxistische Theorie dir Praxis eine revolutionäre Richtung zu geben versag.

b) Auf dem ideologischen Gebiet führt der Zentrismus ein Schmarotzerdasein: gegen die revolutionären Marxisten wiederholt er die alten menschewistischen Argumente (Martows, Axelrods, Plechanows) – gewöhnlich, ohne es zu ahnen; andererseits entlehnt er seine Hauptargumente gegen die Rechten bei den Marxisten, d. h. vor allem den Bolschewiki-Leninisten, wobei er jedoch der Kritik die Spitze abbricht, indem er vor den praktischen Schlussfolgerungen ausweicht und somit seine Kritik gegenstandslos stacht.

c) Der Zentrist gibt gern seine Feindschaft gegen den Reformismus kund, verschweigt aber den Zentrismus; darüber hinaus hält er den Begriff des Zentrismus selbst für „unklar", „willkürlich" usw., – mit anderen Worten – der Zentrismus liebt es nicht, wenn man ihn beim Namen nennt.

d) Der Zentrist, seiner Position und seiner Methoden nie gewiss, steht dem revolutionären Prinzip: aussprechen was ist voll Widerwillen gegenüber; er neigt dazu, die grundsätzliche Kritik zu vertauschen mit persönlichem Kombinieren und kleinlicher, organisationeller Diplomatie.

e) Der Zentrist bleibt stets in geistiger Abhängigkeit von den Gruppierungen zur Rechten, neigt dazu, den gemäßigteren zu schmeicheln, ihre opportunistischen Sünden zu verschweigen und ihr Treiben vor den Arbeitern zu beschönigen.

f) Seine Halbheit verbirgt der Zentrist oft mit Hinweisen auf die Gefahr des „Sektierertums", wobei er unter Sektierertum nicht abstrakt-propagandistische Passivität versteht (im Geiste der Bordigisten), sondern die aktive Sorge um prinzipielle Sauberkeit und Klarheit der Einstellung, um politische Folgerichtigkeit, organisatorische Geformtheit.

g) Zwischen Opportunist und Marxist hat der Zentrist eine Stellung inne, die in gewissem Grade analog ist derjenigen, welche der Kleinbürger zwischen Kapitalisten und Proletarier einnimmt: er schmeichelt dem ersten und verachtet den zweiten.

h) Auf der internationalen Arena zeichnet sich der Zentrist wenn nicht durch Blindheit, so durch Kurzsichtigkeit aus, er begreift nicht, dass man in der heutigen Epoche die nationale revolutionäre Partei nur aufbauen kann als Teil der internationalen Partei; in der Wahl seiner internationalen Verbündeten ist er noch weniger wählerisch als im eigenen Lande.

i) Der Zentrist sieht in der Politik der Komintern bloß „ultralinke" Abweichung, Abenteurertum, Putschismus, und übersieht ganz und gar die opportunistischen Zickzacks (Kuomintang, Anglorussisches Komitee, die pazifistische Außenpolitik, Antifaschistischer Block usw.).

j) Der Zentrist schwört auf die Einheitsfrontpolitik, wobei er sie des revolutionären Inhalts beraubt und aus einer taktischen Methode zum obersten Grundsatz macht.

k) Der Zentrist nimmt gern Zuflucht zu pathetischem Moralisieren, um seine ideologische Hohlheit zu verdecken, er begreift nicht, dass die revolutionäre Moral entstehen kann nur auf dem Boden der revolutionären Doktrin und der revolutionären Politik.

I) Unter dem Druck der Umstände ist der Eklektiker-Zentrist imstande, auch extreme Schlussfolgerungen zu befürworten, aber nur, um danach in der Tat sich von ihnen zurückzuziehen. Die Diktatur des Proletariats anerkennend, lässt er breiten Raum für opportunistische Ausdeutungen; die Notwendigkeit der Vierten Internationale verkündend, wird er arbeiten an der Schaffung einer Internationale 2½ usf.

4. Das bösartigste Muster für Zentrismus ist wohl die deutsche Gruppe „Neu beginnen!". Während sie oberflächlich die marxistische Kritik am Reformismus wiederholt, kommt sie zu dem Schluss, alles Unheil des Proletariats entstamme den Spaltungen, das Heil läge somit in der Wahrung der Einheit der sozialdemokratischen Partei. Die Organisationsdisziplin der Wels und Co. stellen diese Herrschaften über die geschichtlichen Interessen des Proletariats. Und da Wels und Co. die Partei der Disziplin der Bourgeoisie unterwerfen, so ist die Gruppe „Neu beginnen", die sich mit der bei den Marxisten gestohlenen linken Kritik deckt, in Wirklichkeit eine üble Agentur der bürgerlichen Ordnung, wenn auch eine Agentur zweiten Grades.

Das London-Amsterdamer Büro

5. Ein Versuch zur Schaffung eines internationalen Sammelpunktes zentristischer Eklektiker ist das sogenannte Londoner (jetzt Amsterdamer) Büro, unter dessen Flagge sich die rechts- und linkszentristischen Gruppierungen zu sammeln versuchen, die es nicht wagen, endgültig sich Richtung und Banner zu wählen. In diesem Fall wie auch sonst versucht der Zentrist die Bewegung in die Diagonale zu lenken. Die einzelnen Bestandteile des Blocks ziehen nach entgegengesetzten Seiten: die NAP geht behutsam zur Zweiten Internationale; die ILP teils zur Dritten, teils zur Vierten; die SAP und die OSP schwankend und taumelnd zur Vierten. Da er die ideologische Formlosigkeit all seiner Teilnehmer ausbeutet und konserviert und mit der Arbeit der Aufrichtung der neuen Internationale zu konkurrieren sich anschickt, spielt der Block des „Londoner Büros" eine reaktionäre Rolle. Der Zusammenbruch dieser Gruppierung ist ganz unvermeidlich.

Bürokratischer Zentrismus

6. Die Bestimmung der Politik der Komintern als bürokratischen Zentrismus behält auch jetzt all ihre Kraft. In der Tat: nur Zentrismus ist fähig zu ständigen Sprüngen von opportunistischem Verrat zu ultralinken Abenteuern; nur die mächtige Sowjetbürokratie konnte im Laufe von zehn Jahren dieser unheilvollen Zickzackpolitik eine dauerhafte Grundlage sichern. Der bürokratische Zentrismus, der – zum Unterschied von den aus der Sozialdemokratie kommenden zentristischen Gruppierungen – das Erzeugnis der Entartung des Bolschewismus ist, bewahrt in karikierter Form manchen von dessen Zügen, führt hinter sich noch eine beträchtliche Anzahl revolutionärer Arbeiter, verfügt über außerordentliche materielle und technische Mittel, ist jedoch seinem politischen Einfluss nach heute die trägste, zersetzendste und schädlichste Abart des Zentrismus. Der aller Welt klare politische Zusammenbruch der Komintern bedeutet notwendigerweise weitere Zersetzung des bürokratischen Zentrismus. Unsere Aufgabe in diesem Bereich ist, ihre besten Elemente für die Sache der proletarischen Revolution zu retten. Neben der unermüdlichen grundsätzlichen Kritik ist das Hauptwerkzeug unserer Einwirkung auf die noch hinter dem Banner der Komintern verbliebenen Arbeiter das weitere Eindringen unserer Ideen und Methoden in die breiten Massen, die in ihrer überwältigenden Mehrheit heute außerhalb des Einflussbereichs der Komintern stehen.

Reformismus und linker Zentrismus

7. Gerade jetzt, wo der Reformismus gezwungen ist, sich von sich selbst loszusagen und in Zentrismus zu verwandeln oder umzuschminken, bleiben umgekehrt mehrere Gruppierungen des linken Zentrismus in ihrer Entwicklung stehen und weichen sogar zurück. Ihnen scheint, die Reformisten hätten bereits alles eingesehen, nötig sei nur, sie nicht zu schrecken durch maßlose Forderungen, Kritik, extreme Phraseologie, – und dann könne man mit einem Schlage die „revolutionäre" Massenpartei schaffen.

In Wirklichkeit ist der durch die Ereignisse erzwungene Selbstverzicht des Reformismus, ohne klares Programm, ohne revolutionäre Taktik, nur imstande, die fortgeschrittenen Arbeiter einzuschläfern, indem er ihnen den Gedanken einflößt, die revolutionäre Wiedergeburt der Partei sei schon verwirklicht.

Der revolutionäre Marxismus

8. Für den revolutionären Marxisten ist der Kampf mit dem Reformismus jetzt fast vollständig ersetzt durch den Kampf gegen den Zentrismus. Die bloße, leere Gegenüberstellung von legalem und illegalem Kampf, von friedlichen Mitteln und Gewalt, von Demokratie und Diktatur, schlägt heute zumeist am Ziele vorbei, denn der erschrockene, sich selbst entsagende Reformist nimmt bereitwilligst die „revolutionärsten" Formeln hin, wenn sie ihn nur heute nicht zu einem entschiedenen Bruch mit der eigenen Halbheit, Unentschlossenheit, abwartenden Passivität verpflichten. Der Kampf mit den sich versteckenden oder maskierenden Opportunisten muss darum hauptsächlich auf das Gebiet der praktischen Schlussfolgerungen aus den revolutionären Voraussetzungen getragen werden. Bevor man das zentristische Gerede von der „Diktatur des Proletariats" ernst nimmt, ist zu fordern ernsthafte Verteidigung vor dem Faschismus, völliger Bruch mit der Bourgeoisie, systematische Aufrichtung einer Arbeitermiliz, deren Erziehung im Kampfgeiste, Schaffung zwischenparteilicher Verteidigungszentren, antifaschistischer Stäbe, Vertreibung der Parlaments-, Gewerkschafts- und anderen Verrätern, bürgerlichen Lakaien, Strebern usw. aus den eigenen Reihen. Gerade auf dieser Ebene sind jetzt die Hauptschläge dem Zentrismus zu erteilen. Um dies Werk erfolgreich durchzuführen, ist es notwendig, freie Hand zu haben, d. h. nicht nur völlige organisatorische Unabhängigkeit zu bewahren, sondern auch kritische Unversöhnlichkeit gegenüber den «linken» Ausläufern des Zentrismus selbst.

9. Die Bolschewiki-Leninisten müssen sich in allen Ländern klar sein über die Besonderheiten der neuen Etappe des Kampfes um die Vierte Internationale. Die Ereignisse in Österreich und Frankreich geben einen machtvollen Anstoß zur Umgruppierung der Kräfte des Proletariats in revolutionärer Richtung; aber gerade die allenthalben stattfindende Verdrängung des offenen Reformismus durch den Zentrismus übt eine gewaltige Anziehungskraft aus auf die linkszentristischen Gruppierungen (SAP, OSP), die sich gestern noch mit den Bolschewiki-Leninisten zu vereinigen gedachten. Dieser dialektische Prozess kann an seiner Oberfläche den Eindruck erwecken, als „isolierte" sich der marxistische Flügel wiederum von den Massen. Gröbster Irrtum! Das Schwanken des Zentrismus nach rechts und nach links entspringt seiner Natur selbst. Solche Episoden wird es noch dutzende und hunderte auf unserem Wege geben. Sich fürchten, vorwärts zu gehen, nur weil der Weg mit Hindernissen besät ist, oder weil nicht alle Weggenossen bis zu Ende mitgehen werden, wäre aller jämmerlichster Kleinmut.

Ob das neue opportunistische Schwanken unserer zentristischen Verbündeten ein konjunkturmäßiges oder abschließendes sein wird (in Wirklichkeit wird es sowohl das eine wie das andere sein), die allgemeinen Voraussetzungen für die Formierung der Vierten Internationale auf der Grundlage des echten Bolschewismus werden immer günstiger. Das Nachlaufen der „linksten" Zentristen hinter den einfach linken, der linken hinter den mittleren, der mittleren hinter den rechten – ähnlich dem des Menschen hinter seinem eigenen Schatten – kann keine solide Massenorganisation schaffen: die klägliche Erfahrung der deutschen USP gilt auch heute in voller Stärke. Unter dem Druck der Ereignisse, bei Mithilfe unserer Kritik und unserer Losungen, werden die fortgeschrittenen Arbeiter hinweg schreiten über die Schwankungen der linksten zentristischen Führer und – wenn nötig – auch über diese Führer selbst. Auf dem Weg zur neuen Internationale wird die proletarische Vorhut keine anderen Antworten finden als die, welche die Bolschewiki-Leninisten auf Grund der internationalen Erfahrung im Laufe von zehn Jahren ununterbrochenen theoretischen und praktischen Kampfes erarbeitet haben.

10. Unser politischer Einfluss hat sich im letzten Jahre in einer Reihe von Ländern erheblich verstärkt. Unsere Erfolge werden wir in verhältnismäßig kurzer Frist entwickeln und vertiefen können bei Beobachtung folgender Bedingungen:

a) Nicht die geschichtlichen Prozesse überlisten wollen, nicht Versteck spielen, sondern aussprechen was ist.

b) Sich theoretisch klare Rechenschaft ablegen von allen Veränderungen der allgemeinen Lage, die in der heutigen Epoche nicht selten den Charakter schroffer Wendungen annehmen.

c) Wachsam der Stimmung der Massen lauschen ohne Voreingenommenheit, ohne Illusionen, ohne Selbstbetrug, um, gegründet auf eine richtige Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb das Proletariats, dem Opportunismus wie dem Abenteurertum zu entgehen, die Massen vorwärts zu führen und nicht zurück zu stoßen.

d) Jeden Tag und jede Stunde sich klar beantworten, welches soll der nächste praktische Schritt sein; unablässig diesen Schritt vorbereiten, und auf Grund der lebendigen Erfahrung den Arbeitern den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Bolschewismus und allen anderen Parteien und Richtungen erklären.

e) Nicht die taktischen Aufgaben der Einheitsfront vermengen mit der geschichtlichen Hauptaufgabe: die Schaffung der neuen Parteien und der neuen Internationale.

f) Namens der praktischen Aktion auch den schwächsten Verbündeten nicht verachten.

g) Kritisch auch dem am meisten „linken" Verbündeten folgen als einem möglichen Gegner.

h) Mit größter Aufmerksamkeit sich auch zu den Gruppierungen verhalten, die tatsächlich auf uns zu streben; geduldig und aufmerksam auf ihre Kritik, Zweifel, Schwankungen hören; ihnen helfen, sich zum Marxismus zu entwickeln: ihre Launen, Drohungen, Ultimaten nicht fürchten (Zentristen sind stets launenhaft und empfindlich); ihnen keinerlei prinzipielle Zugeständnisse machen.

i) Nochmals : sich nicht scheuen, auszusprechen was ist.

22. Februar 1934.

L. TROTZKI.

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