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Leo Trotzki 19340710 Die Entwicklung der Sozialistischen Partei Frankreichs (SFIO)

Leo Trotzki: Die Entwicklung der Sozialistischen Partei Frankreichs (SFIO)

[Nach Unser Wort. Wochenzeitung der Internationalen Kommunisten Deutschlands, 2. Jahrgang 1934, Nr. 31, 5. Augustwoche 1934 (Nr. 47), S. 4]

Die Krise des demokratischen Staates der Bourgeoisie bedeutet notwendigerweise auch eine Krise der sozialdemokratischen Partei. Diese Abhängigkeit gilt es bis ins Letzte zu durchdenken und durchzuanalysieren. Der Untergang der Bourgeoisie vom parlamentarischen zum bonapartistischen Regime schließt die Sozialdemokratie noch nicht endgültig aus der legalen Kräftekombination aus, auf die sich die Regierung des Kapitals stützt. Schleicher suchte bekanntlich seinerzeit den Beistand der Gewerkschaften. Durch seinen Arbeitsminister Marquet verhandelt Doumergue natürlich mit den Gewerkschaftsbonzen Jouhaux und Co. Soweit die sozialistische Partei die Abhängigkeit des bonapartistischen Gleichgewichts von ihrer Existenz begreift, soweit verlässt sie sich, in ihrer Führung, auch noch auf dieses Gleichgewicht, tritt sie gegen die revolutionären Kampfmethoden auf, brandmarkt sie den Marxismus unter dem Pseudonym des „Blanquismus“ predigt sie die fast tolstojanische Lehre des „Widerstehe dem Bösen nicht mit Gewalt“. Allein, diese Politik ist ebenso unbeständig wie das bonapartistische Regime selber, mit dessen Hilfe die Bourgeoisie sich vor radikaleren Lösungen bewahren will.

Das Wesen des demokratischen Staates besteht bekanntlich dann, dass jeder das Recht hat zu sagen und zu schreiben was er will, dass in allen Fragen von Belang aber die Entscheidung den Großeigentümern vorbehalten bleibt. Zu diesem Ergebnis gelangt man vermittels eines komplizierten Systems von Teilzugeständnissen („Reformen“), Illusionen, Bestechung, Betrug und Einschüchterung. Wenn die ökonomische Möglichkeit für Teilzugeständnisse („Reformen") erschöpft ist, hört die Sozialdemokratie auf, die „politische Hauptstütze der Bourgeoisie" zu sein. Das heißt: das Kapital kann sich bereits nicht mehr auf die gezähmte „öffentliche Meinung“ stützen; es braucht einen von den Massen unabhängigen (bonapartistischen) Staatsapparat.

Parallel zu dieser Verschiebung im Staatssystem vollziehen sich bedeutende Verschiebungen innerhalb der Sozialdemokratie. Beim Niedergang der Epoche des Reformismus (vor allem während des Nachkriegsjahrzehnts) ist das innere Regime der Sozialdemokratie ein Abbild des Regimes der bürgerlichen Demokratie: jedes Parteimitglied kann sagen und denken was es will; aber beschließen tun die eng mit dem Staat verbundenen Spitzen des Apparats. In dem Maße, wie für die Bourgeoisie die Möglichkeit schwindet, gestützt auf die öffentliche Meinung der Ausgebeuteten zu regieren, schwindet für die sozialdemokratischen Führer die Möglichkeit, die öffentliche Meinung der eigenen Partei zu dirigieren. Aber den reformistischen Führern steht, zum Unterschied von den Führern der Bourgeoisie, kein Zwangsapparat zur Verfügung. Darum wird in dem Maße, wie sich die parlamentarische Demokratie erschöpft, die innere Demokratie der sozialistischen Partei umgekehrt immer mehr zur Realität.

Die Krise des demokratischen Staates und die Krise der sozialdemokratischen Partei entwickeln sich parallel. aber in entgegengesetzter Richtung. Während der Staat über die bonapartistische Etappe dem Faschismus entgegengeht, geht die sozialistische Partei, über eine „loyale", quasi-parlamentarische Opposition zum bonapartistischen Staat, einem Kampf auf Leben und Tod mit dem Faschismus entgegen. Das Verständnis für diese Dialektik des Wechselverhältnisses zwischen bürgerlichem Staat und Sozialdemokratie ist eine der unerlässlichen Vorbedingungen für die richtige revolutionäre Politik: just an dieser Frage brachen sich die Stalinisten das Genick.

In der bonapartistischen Etappe, die Frankreich jetzt durchläuft, versuchen die Führer der sozialdemokratischen Partei sich aus allen Kräften in den Grenzen der Legalität (der bonapartistischen!) zu halten. Sie geben die Hoffnung nicht auf, dass eine Verbesserung der Wirtschaftskonjunktur und andere günstige Umstände zur Wiederherstellung des parlamentarischen Staates führen werde. Doch sind sie, nach der Erfahrung Italiens, Deutschlands und Österreichs, gezwungen, auch mit der anderen, weniger anziehenden Perspektive zu rechnen, gegen die sie sich sichern mochten. Sie fürchten die Loslösung von den Massen die Kampf gegen den Faschismus fordern und Führung erwarten. So gerät der sozialistische Apparat in die Klemme eines heftigen Widerspruchs. Einerseits gerät er im Kampf gegen die Radikalisierung der Massen bis zur direkten Predigt des Tolstojanismus: „Gewalt erzeugt nur Gewalt; den Schlagringen und Revolvern gilt es … Klugheit und Vorsicht entgegenzusetzen. Andererseits redet er von Diktatur des Proletariats, Generalstreik usw. und beschreitet den Weg der Einheitsfrontpolitik. Im Apparat selber geht gleichzeitig eine Schichtung vor sich. Die „Linken“ erwerben sich immer größere Popularität. Die offiziellen Führer sind gezwungen, sich mit dem Arm an Doumergue zu halten („Legalität“ um jeden Preis!), mit dem linken aber an die „linken“ SP-Führer Marceau Pivert. Just usw. Aber die objektive Lage ist nicht angetan, ein derartiges Gleichgewicht zu konservieren. Wiederholen wir: der heutige Zustand der sozialistischen Partei ist noch unstabiler als das konservativ-bonapartistische Staatsregime.

1Es kann in der Politik keinen verheerenderen Fehler geben als mit fertigen Begriffen zu operieren, die auf den gestrigen Tag und das gestrige Kräfteverhältnis bezogen sind. Wenn zum Beispiel die Leitung der Sozialistischen Partei die Aufgabe auf die Forderung nach Parlamentswahlen reduziert, so trägt sie die Politik aus dem Reich der Wirklichkeit ins Reich der Schatten. „Parlament“, „Regierung“, „Wahlen“ haben heute durchaus nicht mehr den Inhalt, den sie vor der Kapitulation des parlamentarischen Regimes am 6. Februar besaßen. Wahlen an sich können den Schwerpunkt der Macht noch nicht verlagern: dazu wäre ein Ruck der Massen nach links erforderlich, imstande, die Ergebnisse des Rucks nach rechts vom 6. Februar völlig aufzuheben und hinwegzuschwemmen.

Aber im Typ ganz denselben Fehler machen die Genossen, die bei der Beurteilung der sozialistischen Partei selber mit den fertigen Formeln von gestern hantieren: „Reformismus“, „Zweite Internationale“, „politische Stütze der Bourgeoisie". Sind diese Bestimmungen richtig? Ja und nein. Mehr nein als ja. Die aIte Definition der Sozialdemokratie entspricht noch weniger den Tatsachen als die Definition des heutigen Staates als einer „parlamentarischen demokratischen Republik". Es wäre falsch zu behaupten, vom Parlamentarismus sei in Frankreich „nichts" mehr übrig. Unter bestimmten Bedingungen ist sogar ein zeitweiliger Rückfall in den Parlamentarismus möglich (wie ein mit dem Tode Ringender gewöhnlich noch einen Schimmer von Bewusstsein hat). Doch die Gesamtentwicklung als Ganzes verläuft bereits weg vom Parlamentarismus. Wenn wir eine der Wirklichkeit etwas näher kommende Bestimmung des heutigen französischen Staates geben wollen, so müssen wir sagen: „ein präventiv-bonapartistisches Regime, gekleidet in die verödeten Formen des parlamentarischen Staates, und lavierend zwischen dem noch nicht genügend starken Lager des faschistischen Regimes und dem ungenügend bewussten Lager des proletarischen Staates". Nur eine solche dialektische Bestimmung kann eine Stütze für eine richtige Politik bieten.

Aber dieselben Gesetze des dialektischen Denkens gelten auch für die sozialistische Partei, die, wie bereits gesagt, das Schicksal des demokratischen Staates teilt, bloß in umgekehrter Richtung. Dem ist hinzuzufügen. dass in beträchtlichem Grade dank der Erfahrung Deutschlands und Österreichs die Entwicklung der sozialistischen Partei die Entwicklung des Staates in gewissem Maße sogar überholt: so ging die Spaltung mit den Neos dem Staatsumsturz vom 6. Februar um mehrere Monate voraus. Natürlich wäre es ein sehr grober Fehler zu behaupten, nach dieser Spaltung sei in der Partei vom Reformismus und Patriotismus „nichts" mehr übrig. Aber ein nicht kleinerer Fehler ist es, von ihr als von der Sozialdemokratie, im alten Sinne des Wortes, zu reden. Die Unmöglichkeit, fernerhin eine einfache, gewohnte, feststehende Bestimmung zu gebrauchen, ist eben der fehlerlose Ausdruck der Tatsache, dass wir es mit einer zentristischen Partei zu tun haben, die kraft einer sich lang hinziehenden Entwicklung des Landes noch an ihren Polen extreme Gegensätze vereinigt. Man muss ein hoffnungsloser Scholastiker sein, um über das Etikett: Zweite Internationale nicht zu sehen, was in der Wirklichkeit geschieht. Nur eine dialektische Definition der Sozialistischen Partei, d. h. vor allem die konkrete Einschätzung ihrer inneren Dynamik, vermag den Bolschewiki-Leninisten zu erlauben, die richtige Perspektive zu zeichnen und eine aktive, nicht abwartende Position einzunehmen.

Ohne das revolutionäre Drängen der Massen, das den politischen Schwerpunkt jäh nach links zu verschieben vermöchte – oder besser gesagt: vor einem solchen Ruck - muss die Staatsgewalt sich immer offener und brutaler mit dem Militär- und Polizeiapparat identifizieren, muss der Faschismus stärker und frecher werden. Parallel dazu müssen die Gegensätze in der sozialistischen Partei nach außen treten, d. h. die Unvereinbarkeit der tolstojanischen Predigt des „Widerstehe dem Bösen nicht mit Gewalt“ mit den vom Klassenfeind diktierten revolutionären Aufgaben zugleich mit der Bonapartisierung des Staates und dem Näherrücken der faschistischen Gefahr muss die Parteimehrheit sich unausbleiblich radikalisieren, müssen die inneren, noch lange nicht abgeschlossenen Grenzziehungen in eine neue Phase eintreten.

Die Bolschewiki-Leninisten sind verpflichtet, all des ganz offen zu sagen. Sie haben die Theorie vom „Sozialfaschismus" und die Hooliganmethoden der Polemik, in denen theoretische Ohnmacht mit Lüge und Verleumdung sich paart, stets verworfen. Sie sehen keinen Grund, sich heute auf den Kopf zu stehen und schwarz weiß zu nennen. Die Einheitsfront predigten wir, als sie von den Sozialisten ebenso wie von den Stalinisten abgelehnt wurde. Gerade darum bleiben wir auch heute bei der kritischen realistischen Einstellung zur Abstraktion der „Einheit“. In der Geschichte der Arbeiterbewegung sind Abgrenzungen oft die Voraussetzung der Einheit. Um den ersten Schritt zur Einheitsfront zu tun, war die sozialistische Partei gezwungen, sich zuvor mit den Neosozialisten zu spalten. Das darf man nicht eine Minute lang vergessen. Die sozialistische Partei vermag führenden Anteil an einer echten Massen- und Kampfeinheitsfront nur in dem Fall zu nehmen, wenn sie ihre Aufgaben klar stellt und ihre Reihen von den rechten und maskierten Gegnern des revolutionären Kampfes säubert. Dabei handelt es sich nicht um irgendein abstraktes „Prinzip“, sondern um eine eiserne aus der Logik des Kampfes sich ergehende Notwendigkeit. Die Frage ist nicht durch irgendwelche diplomatischen Redewendungen zu lösen, wie der SP-Führer Zyromski glaubt, der sich bemüht, die Formel der Versöhnung von Sozialpatriotismus und Internationalismus zu finden. Der Verlauf des KIassenkampfes wird in seinem heutigen Stadium unerbittlich alle Halbheit. Täuschung und Verschleierung sprengen und niederreißen. Den Arbeitern im Allgemeinen, den Sozialisten im Besonderen Not, die nackte Wahrheit, nichts als die Wahrheit

Die Bolschewiki-Leninisten haben richtig formuliert, was ist und was werden wird. Aber sie haben gar nicht verstanden – das muss man offen zugeben –, die Aufgabe zu erfüllen, die sie sich vor einem Jahr selbst stellten: dichter an die sozialistischen Arbeiter heranzukommen, nicht um sie von oben herab als gelernte Spezialisten für Strategie, die alles wissen, zu „belehren", sondern um gemeinsam mit den vorgeschrittenen Arbeitern Schulter an Schulter zu lernen, auf Grund der tatsächlichen Massenerfahrung, die unausweichlich das französische Proletariat auf den Weg des revolutionären Kampfes führen wird.

Zur besseren Erhellung der auf diesem Gebiet vor uns liegenden Aufgaben muss man jedoch bei der Entwicklung der sogenannten „kommunistischen" Partei verweilen. Das werden wir in einem folgenden Artikel tun.

1 Die folgenden Zeiten sind in der Vorlage teils schwer zu lesen und unter Mitwirkung der englischen Fassung in Writings of Leon Trotsky, Vol. 7, S. 46 ff. rekonstruiert.

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