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Leo Trotzki 19340700 Die französische Liga vor einer entscheidenden Wendung

Leo Trotzki: Die französische Liga vor einer entscheidenden Wendung

[Nach Auszüge aus dem Bulletin Interieur de la Ligue Comuniste, S. 1-4, enthalten in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 1262, International Institute of Social History, Amsterdam.]

Mehrere Jahre hindurch war die aktivste Kampflosung der Liga die Losung der Einheitsfront. Zweifellos bildete diese Losung trotz ihrem „abstrakten" Charakter während zwei bis drei Jahren den Schlüssel zur Lage in Deutschland, dann in Frankreich. Es war die Niederlage des deutschen Proletariats, es war die österreichische Katastrophe, das Wachsen des Faschismus in Frankreich und anderen Ländern notwendig, damit die Kominternbürokratie eine radikale Wendung in der Frage der Einheitsfront vornahm. Die Beispiele früherer Sendungen haben uns nur allzu gut gelehrt, dass ohne kritische Überwindung der alten Position und ohne theoretische Untermauerung der neuen eine selbst formell fortschrittliche Wendung keine Garantie für richtige Politik bietet, sondern im Gegenteil unvermeidlich eine Kette neuer Schwankungen und Irrtümer birgt. Beredte Anzeichen der neuen Gefahren sind bereits da: die Ultimatisten werden zu Opportunisten. Dadurch aber verlegt sich unser ganzer Kampf in eine neue, höhere Ebene.

Die Sozialdemokratie ihrerseits hat sich auf den Weg der Einheitsfront in der ganz bestimmten Absicht begeben, ihr die revolutionäre Spitze abzubrechen. Auf dem Gebiet der Einheitsfront muss der Kampf gegen die reformistische Bürokratie weniger schreierisch in der Form, aber systematischer und konzentrierter geführt werden als je.

Die beiden Bürokratien sind verknüpft durch ihre Interessengemeinschaft gegen die wachsenden Oppositionen, die die Aufgaben der Stunde zum Ausdruck bringen oder zu bringen versuchen. Andererseits stehen die beiden Bürokratien einander in schärferer Konkurrenz als je feindlich gegenüber. Darum wird man in der Politik der beiden Bürokratien zwei Elemente unterscheiden können: das Komplott gegen alle, die ihre Oberherrschaft zu beeinträchtigen trachten, und die Angst einer jeden von ihnen, Opfer des Verbündeten zu werden, infolgedessen die Bereitschaft zum Bruch der Einheitsfront zu einem beliebigen Zeitpunkt.

Noch vor kurzem sprachen für die Einheitsfrontpolitik die Lehren der Ereignisse, die marxistische Analyse, die Kritik der Bolschewiki-Leninisten. Jetzt ist in Frankreich ein neuer machtvoller Faktor hinzugekommen: der aktive Druck der Massen selbst. Dieser Faktor wird nunmehr ausschlaggebend. Er äußert sich unmittelbar in den Kampfkundgebungen auf der Straße und mittelbar in der politischen Wendung der beiden Apparate. Das ist ein gewaltiger Schritt vorwärts. Aber eben, weil er gewaltig ist, verändert er von Grund auf die politische Lage.

Gestern noch war die Parole der Einheitsfront gleichsam Monopol der Bolschewiki-Leninisten. Heute ist uns dies Monopol genommen. Die Parole ist zum Gemeingut geworden. Sie drückt das tiefe, leidenschaftliche, aber politisch sehr unklare Sehnen der Masse aus, dem Andrangen der Reaktion die vereinten Kräfte aller Unterdrückten entgegenzusetzen. Das Vorhandensein dieser Sehnsucht schafft die wichtigste Voraussetzung, wenn nicht für eine direkt revolutionäre Lage, so wenigstens für eine vorrevolutionäre Lage die sich aber schnell in eine revolutionäre Lage verwandeln kann. Leider beobachten die bestehenden Organisationen sehr schlecht die wirklichen Veränderungen in der Stimmung der Arbeitermassen. Allein, für den Durchschnittsarbeiter in der Fabrik, auf der Straße, in der Straßenbahn, im Café, in der Familie ein Ohr n haben, um zu wissen, wie er die Lage beurteilt, was für Hoffnungen er hat, woran er glaubt, – aufmerksam einem solchen Arbeiter zuzuhören, das ist die erste Pflicht einer revolutionären Organisation, vor allem in so einer kritischen Periode wie jetzt, wo das Bewusstsein der Massen buchstäblich mit jedem Tag wechselt. Augenblicklich kann man die Tiefe und Schärfe der Wendung im Bewusstsein der Massen vor allem an ihren symptomatischen Auswirkungen, im Besonderen an den Vorgängen beurteilen, die sich innerhalb der beiden Parteien abspielen (Herausbildung eines linken Flügels bei den Sozialsten, Abgang von St. Denis, Wendung der beiden Bürokratien zur Einheitsfront usw.) . Der Charakter solcher symptomatischer Auswirkungen ist stets zurückgeblieben und entstellt; doch erlauben sie, folgende Schlussfolgerungen zu ziehen: 1. die Arbeiter merken nicht nur die Gefahr, sondern auch die Möglichkeit des Widerstandes; 2. sie sehen ihr Heil in der Einheitsfront; 3. mit einer einigermaßen richtigen, das Vertrauen der Arbeiter zu sich festigenden Politik kann die aktive Verteidigung in sehr kurzer Zeit zum Generalangriff übergehen.

Die Aufgabe der Bolschewiki-Leninisten besteht ab jetzt nicht in der Wiederholung abstrakter Formeln der Einheitsfront (Arbeiterallianz usw.), sondern in der Festlegung bestimmter Losungen, einer konkreten Aktivität und von Kampfperspektiven auf der Grundlage einer Masseneinheitsfrontpolitik. Zur Verteidigung gilt es Sowjets zu errichten und ihre Verwandlung in Organe des Machtkampfes zu beschleunigen. Die Aufgabe der Liga bei der heutigen Lage der Dinge nimmt nicht ab, sondern im Gegenteil zu, verlagert sich aber in eine andere Ebene und gewinnt anderen Charakter. Das nicht verstehen, sich mit der Wiederholung des Gelernten befassen, hieße die Sache verlieren.

Von entscheidender Bedeutung für das Geschick der Liga wird von jetzt ab ihre Beziehung zur Einheitsfront sein, nicht als einer abstrakten Losung sondern als lebendiger Tatsache des Klassenkampfes. Die neue Lage kommt mit großer Klarheit am Beispiel von St. Denis zum Ausdruck. Gestern noch war Doriot der Vorkämpfer der Einheitsfront,, die er (auf seine Art) in St. Denis verwirklichte. Morgen werden, im Falle des Einverständnisses zwischen den beiden Bürokratien die Massen in Doriot ein Hindernis, einen Spalter, einen Saboteur der Einheitsfront erblicken. Die stalinistische Bürokratie wird St. Denis entweder zur Rückkehr in die Reihen ihrer alten Partei drängen (mit oder ohne Doriot) , oder St. Denis zerbrechen.

Die Politik der Liga ist mit dem abstrakten Einheitsfrontgedanken natürlich nicht erschöpft, darum kann – historisch gesehen - die Richtung der Bolschewiki-Leninisten nicht durch das Einvernehmen der beiden Bürokratien liquidiert werden. Falls aber die Liga passiv ist, außerstande sich mutig und rasch der neuen Lage anzupassen, kann die Liga für eine lange Periode ins Nichts zurückgeschleudert werden.

Man kann einwenden: die Einheitsfront verlangt die Teilnahme aller proletarischen Gruppierungen und Organisationen, folglich sowohl die von St. Denis wie der Liga. Doch dieser Einwand hat rein formelle Bedeutung. Entscheidend ist das Kräfteverhältnis. Wenn die Liga zur gebotenen Zeit tiefere Wurzeln in den Massen zu schlagen gewusst hätte; wenn St. Denis sich der Liga angeschlossen hatte; wenn … usw., dann hätte es neben den beiden Bürokratien eine dritte Kraft gegeben, deren Teilnahme an der Einheitsfront durch die Lage geboten gewesen wäre. Auf dem Gebiet der Einheitsfrontpolitik hätte diese dritte Kraft entscheidend werden können. Aber das ist nicht. Die Liga ist organisatorisch schwach. St. Denis und andere gleichartige Gruppen sind politisch außerordentlich schwach. Darum eben droht ihnen allen einschließlich der Liga die Gefahr, faktisch außerhalb der Einheitsfront zu bleiben, ungeachtet dessen, dass es .das gewaltige Verdienst der Liga ist sie ausgelöst zu haben.

Bleibt die Liga draußen und konzentriert sie ihre Kräfte auf die Kritik von außen her, so läuft sie Gefahr, bei den Arbeitern statt Aufmerksamkeit Gereiztheit zu erzeugen. Wiederholen wir nochmals: In der Einheit der Reihen sehen die Massen jetzt das einzige Mittel zu ihrer Rettung. Jeden, der außerhalb der gemeinsamen Reihen bleibt, jeden, der von der Seite her kritisiert, betrachtet die Masse als Hindernis. Dieser mächtigen und im Grunde gesunden Stimmung der Massen nicht Rechnung tragen, ihr entgegenarbeiten das wäre der Untergang. Beim Ansteigen einer Bewegung besteht die Aufgabe der Marxisten darin, gestützt auf diese Welle, die notwendige Klarheit des Gedankens und der Methode hineinzubringen.

Die Liga muss einen organischen Platz in den Reihen der Einheitsfront einnehmen. Sie ist zu schwach, um einen selbständigen Platz zu beanspruchen. Das will besagen, dass sie unverzüglich einen Platz in einer der beiden, das Abkommen schließenden Parteien einnimmt. Für uns gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Parteien, oder fast keinen. Praktisch aber ist allein der Eintritt in die sozialdemokratische Partei möglich.

Wieso? vernehmen wir mit einem Mal einen Hagel von Einwürfen. Die Liga soll in die Partei Léon Blums eintreten?, sie soll vor dem Reformismus kapitulieren? Aber wir sind doch für die neue Partei? Wir sind doch für die 4. Internationale? Wie können wir in die 2. eintreten? Was werden die Stalinisten sagen? Was werden die Arbeiter sagen? usw. usw.

All diese Argumente sehen sehr gewichtig aus, sind in Wirklichkeit aber oberflächlich, denn sie machen einen Sprung über die Wirklichkeit hinweg. Sie gehen aus von dem, was wünschenswert wäre, nicht von dem, was ist.

Natürlich sind wir gegen den Reformismus - in der heutigen Situation unerbittlicher denn je. Aber man muss verstehen, dem Ziel in der gegebenen konkreten Lage näher zu kommen. Die Prinzipien und die Fahne verleugnen, oder „provisorisch“ den Kampf für sie einstellen, wäre direkter Verrat. Aber die Kampfmethoden mit der Lage und den eigenen Kräften in Einklang bringen, ist eine elementare Forderung des Realismus. Der Bolschewismus, vertreten in der Leninschen Führung, verriet und verleugnete sich nicht; aber 1905/06 waren die Bolschewiki unter dem Druck der Massen, die sich nach Einheit sehnten, genötigt, sich mit den Menschewiki zu verbinden. Dies Bündnis führte fortschreitend zu einer neuen Spaltung. Doch 1910 sieht sich Lenin unter dem Druck der Stimmung seiner eigenen Reihen abermals gezwungen, einen Vereinigungsversuch zu unternehmen, der in zwei Jahren zur endgültigen Spaltung führen sollte. Prinzipielle Unversöhnlichkeit hat nichts gemein mit sektiererischer Verknöcherung, die unachtsam an den Veränderungen der Lage und der Massenstimmung vorübergeht. Aus der These, dass die proletarische Partei unbedingt unabhängig sein müsse, haben unsere englischen Genossen geschlussfolgert, es sei unstatthaft, in die IIP einzutreten Ach, sie vergaßen nur, dass sie noch lange keine Partei, sondern nur ein Propagandazirkel waren, dass die Partei nicht vom Himmel fällt, dass der Propagandazirkel eine Periode embryonalen Daseins durchmachen muss, bevor er zur Partei wird. Ihren Irrtum in der Perspektive haben unsere englischen Genossen (die Mehrheit) zweifellos teuer bezahlt und wir mit ihnen. Erinnern wir hier noch an dies: seinerzeit klagten wir Walcher & Co nicht an, in die SAP eingetreten zu sein, sondern, dabei die Fahne des Marxismus ins Futteral gesteckt zu haben. Wir werden das nicht tun.

In die Sozialistische Partei eintreten kann die Liga natürlich nicht anders denn als bolschewistisch-leninistische Fraktion. Sie behält die Vérité bei, die sich in ein Fraktionsorgan verwandelt, mit demselben Recht wie die Action Socialiste usw. Offen die Frage des Eintritts stellend, erklärt die Liga: „Unsere Anschauungen haben sich vollauf bestätigt. Die Einheitsfront kommt in Gang auf den Schienen der Massen. Wir wollen aktiv daran teilnehmen. Die einzige Möglichkeit für unsere Organisation, unter den gegebenen Bedingungen an der Masseneinheitsfront teilzunehmen, ist der Eintritt in die sozialistische Partei. Wir halten es nach wie vor für notwendig, mehr als je für die Prinzipien des Bolschewismus, für die Schaffung einer wahrhaft revolutionären Partei der proletarischen Vorhut und für die 4.Internationale zu kämpfen. Wir hoffen, davon die Mehrheit der sozialistischen wie der kommunistischen Arbeiter zu überzeugen. Wir verpflichten uns, diese Arbeit im Rahmen der Partei zu betreiben, uns ihrer Disziplin zu unterwerfen und die Aktionseinheit zu wahren".

Natürlich werden die Stalinisten in wütendem Geheul auffahren oder aufzufahren versuchen. Aber erstens haben sie selbst eine scharfe Wendung vorgenommen durch den Eintritt in einen Block mit den „Sozialfaschisten". Zweitens werden sie sich in ihrer Kampagne gegen uns an der Entrüstung der sozialistischen Arbeiter stoßen. Drittens, und das ist die im Grunde einzig wichtige Erwägung: es fragt sich nicht, was werden die Stalinisten sagen, sondern, welches ist für die Liga das Mittel, zu einer ernsten Kraft in der Arbeiterbewegung zu werden. Wenn es ihr durch den Eintritt in die sozialistische Partei gelingt, im Laufe eines Jahres oder selbst in sechs Monaten (alle Prozesse entwickeln sich heute sehr schnell) um ihre Fahne einige Tausende von Arbeitern zu scharen, so wird es niemandem einfallen sich der Kampagne der Stalinisten zu erinnern.

Einige Genossen, darunter auch ich, warfen der Leitung der Liga und der Vérité mehrfach Unzulänglichkeit im Kampfe gegen die sozialdemokratische Führung vor. Auf den ersten Blick kann es scheinen, als klaffe zwischen dieser Kritik, die ich auch heute in vollem Umfange aufrechterhalte, und dem Vorschlag, in die sozialdemokratische Partei einzutreten, ein unversöhnlicher Widerspruch. In Wirklichkeit ist das nicht der Fall. Als unabhängige Organisation existieren und dabei sich nicht scharf von den Sozialdemokraten abgrenzen, bedeutet zu riskieren, Anhängsel der Sozialdemokratie zu werden. Offen (unter den konkreten gegebenen Bedingungen) in die Sozialdemokratie eintreten, um einen unerbittlichen Kampf gegen die reformistische Führung zu entfalten, heißt ein revolutionäres Werk vollbringen. Die Beurteilung der Politik von Blum & Co muss in beiden Fällen die gleiche sein.

Man kann noch einen Einwand machen: Warum mit der sozialistischen Partei beginnen? Wäre es nicht richtiger, sich vorerst an die Kommunistische Partei zu. wenden? Jedenfalls kann diese Frage kein Gegenstand ernsterer Meinungsverschiedenheiten werden; es ist klar, dass der Appell an die Stalinisten nur den Charakter einer Demonstration haben kann. Ist sie erforderlich? Es mag sein, dass sie für einen gewissen Teil der kommunistischen Arbeiter nützlich wäre. Die Deklaration der Liga würde dann folgenden Inhalt haben können: „Wir haben gegen die Theorie vom Sozialfaschismus für die Einheitsfront usw. gekämpft. Die letzten Schritte der Partei zeugen von einer gewissen Wendung in diese Richtung. Aus diesem Grunde sind wir bereit, einen loyalen Versuch au machen, um innerhalb der Partei zu arbeiten. Natürlich unter der Bedingung, dass es uns möglich sei, für unsere Ideen auf der Basis der Parteidemokratie zu kämpfen". Nach der unausbleiblichen Ablehnung müsste sich die Liga an die Sozialistische Partei wenden. Wenn die Spitze der Sozialistischen Partei die Aufnahme der Liga verweigert (und das ist sehr gut möglich), so re uns ein breites Feld geöffnet für den Kampf gegen die Leitung in unteren Organen. Die Sympathien der sozialistischen Arbeiter wären in diesem Fall ohne Zweifel auf Seiten der Liga.

Die Liga steht vor der ernstesten Wendung ihrer ganzen Geschichte. Der Erfolg dieser Wendung wird gesichert sein allein durch Kühnheit. Schnelligkeit und Einstimmigkeit. Zeitverlust, endlose Diskussionen und innerer Kampf würden den Untergang bedeuten.

Zunächst muss das Zentralkomitee, angefangen beim Politbüro, seine Stellung festlegen, Hand in Hand natürlich: mit dem Internationalen Sekretariat. Dann müssten die Mitglieder des Politbüros an Ort und Stelle die Meinung der Mitglieder vorbereiten. Wegen der außerordentlichen Bedeutung der Frage wäre es notwendig, eine Konferenz einzuberufen, um endgültig Beschluss zu fassen. Angesichts des raschen Laufs der Ereignisse müsste die Konferenz nicht später als Mitte Juli, beispielsweise den 14. Juli, zusammentreten. Nur bei Beobachtung dieses Tempos in den Taten und mannhaftem Charakter der Wendung selbst kann man fest damit rechnen, dass die Liga nicht nur nicht neben den Ereignissen herläuft, sondern auch einen Riesenschritt vorwärts tut auf dem Wege der Errichtung einer wahrhaft revolutionären Partei des Proletariats und des Aufbaus der 4.Internationale.

Vidal

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