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Leo Trotzki 19340700 Die Liga vor der Wendung

Leo Trotzki: Die Liga vor der Wendung

(Für eine eventuelle Diskussion)

[Nach Auszüge aus dem Bulletin Interieur de la Ligue Comuniste, S. 4-7, enthalten in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 957]

1. Für einen Revolutionär genügt es nicht, „richtige Ideen" zu haben. Vergessen wir nicht, dass die „richtigen Ideen" niedergelegt sind im Kapital und im Kommunistischen Manifest. Das hindert nicht, dass falsche Ideen weit verbreitet sind. Die Aufgabe der revolutionären Partei ist, die „richtigen Ideen" mit der Arbeitermassenbewegung zusammenzuschweißen. Nur dann wird die Idee eine treibende Kraft.

2. Die revolutionäre Organisation bedeutet nicht: die Zeitung mit ihren Lesern. Man kann revolutionäre Artikel schreiben und lesen und faktisch doch außerhalb der revolutionären Bewegung bleiben. Man kann den Arbeiterorganisationen von außen gute Ratschläge erteilen. Das ist etwas. Aber das ist noch keine revolutionäre Organisation.

3. Bei einigermaßen normalen Bedingungen des inneren Parteilebens der Komintern würde sich die Linke Opposition als Traktion in ständigem Kontakt mit der Massenbewegung entwickelt haben. Aber der stalinistische Apparat hat die Opposition seit den ersten Schritten ihres Lebens mechanisch isoliert. Damit hat er zwei Ziele erreicht: 1. das Leben innerhalb der kommunistischen Parteien abgetötet und 2. der Opposition das notwendige politische Milieu entzogen.

4. Die Liga sah sich (wie die anderen Sektionen) gezwungen, sich als isolierte Propagandagruppe zu entwickeln. Dadurch sind sowohl ihre positiven Seiten (ehrliche und ernste Haltung den Prinzipien gegenüber, Ideenfestigkeit) wie auch ihre negativen Seiten (Betrachtung der Arbeiterbewegung von außen her) bestimmt. Wahrend der Periode der Ausarbeitung der Prinzipien und Methoden der Linksopposition überwogen die positiven Seiten der Liga. Jetzt, wo es das angehäufte Kapital in Umlauf zu bringen gilt, drohen die negativen Seiten die Oberhand zu gewinnen.

5. Die Leitung der Liga hat den Versand einem kapitalistischen Unternehmen anvertraut. Für eine Gruppe von Literaten ist die Expedition eine unangenehme Bürde. Für eine revolutionäre Organisation ist sie ein wichtiger Hebel. Wie kann man diesen Hebel dem Feinde anvertrauen, wenn man sich ernsthaft auf den Kampf vorbereitet? Die revolutionäre Bewegung setzt sich aus dutzenden, hunderten Zweigen solch „uninteressanter", „technischer" Arbeit zusammen. Weder die Miliz, noch der Streik, geschweige denn der Generalstreik oder der Aufstand sind denkbar ohne hartnäckige vorbereitende Kleinarbeit. Die revolutionäre Organisation, die sich mit der Expedition nicht befassen kann (genauer, nicht will), verzichtet damit von vorneherein darauf, die Durchführung komplizierterer Aufgaben zu leiten.

6. In Bezug auf die Sozialistische Partei hat die Liga nicht allein Unzulänglichkeit der Initiative, sondern auch beschränkten Sektengeist an den Tag gelegt. Anstatt zumindest sich zur Aufgabe zu stellen, innerhalb der SFIO eine Fraktion zu bilden, sobald nur deren Krise offenbar wurde, forderte die Liga, dass jeder von der Richtigkeit unserer Ideen überzeugte Sozialist die Massenorganisation verlasse, um sich einer Gruppe von Véritélesern anzuschließen. Um eines innere Fraktion zu schaffen, hätte man die Bewegung der Masse verfolgen, sich dem Milieu anpassen, die tägliche Dreckarbeit leisten müssen. Gerade auf diesem entscheidenden Gebiet hat die Liga bisher so gut wie gar nicht verstanden, sich Geltung zu verschaffen. Man hat viel kostbare Zeit verstreichen lassen. Jetzt, mit einem Jahr Verspätung stellt das Politbüro diese Aufgabe: „eine innere Fraktion zu bilden“. Nein, jetzt genügt das nicht mehr: die Situation fordert entschiedenere Maßnahmen.

7. Die Kritik, die Ideen, die Parolen der Liga sind im allgemeinen richtig, aber in dieser Periode ist das erst recht ungenügend. Die revolutionären Ideen müssen Tag für Tag im Leben an der eigenen Erfahrung der Massen auseinandergesetzt werden. Aber wie kann die Liga das tun, wenn sie selbst von der Erfahrung der Massen abgeschnitten ist? Man muss hinzufügen: einige Genossen spüren nicht einmal das Bedürfnis nach dieser Erfahrung.

Es scheint ihnen genug zu sein, sich auf Grund von Zeitungslektüre eine Meinung zu bilden, und diese dann in einem Artikel oder einer Rede darzulegen. Jedoch, wenn sie nicht direkt das Denken und Handeln der Masse wiedergeben, so gehen die richtigsten Ideen an der Masse vorbei.

8. Also hat die Liga Bankrott gemacht? Ein völlig falscher Schluss. Natürlich, die Erfolge der Liga sind kleiner als viele von uns erhofften, kleiner als sie hätten sein können ohne die Fesseln eines abstrakt-propagandistischen Konservativismus. Aber trotz der ungeheuren Hindernisse sind die Erfolge unbestreitbar. Die Liga hat einen gewissen Einfluss ausgeübt auf die Ideen und Parolen der Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit (Einheitsfront, Arbeitermiliz, Einheit der Gewerkschaftsorganisation). Doch gerade diese Erfolge zusammen mit der gesamten Situation und im Besonderen mit der veränderten Taktik der bürokratischen Apparate fordern seitens der Liga eine neue und entschiedene Wendung. Wohin? Auf die Masse zu.

9. Die allgemeine Lage in Frankreich stellt die ganze bewusste Arbeiterbewegung vor eine Aufgabe kurzer Sicht: entweder wird das Proletariat im Laufe der nächsten 6 Monate, eines Jahres, vielleicht zwei Jahren den Faschismus vernichten und einen Riesenschritt nach vorwärts, zum Kampf um die Macht tun, oder es wird selbst vernichtet und ganz Europa wird zur Arena der faschistischen Tyrannei und des Krieges werden. Der Druck dieser furchtbaren Alternative hat beide Arbeiterparteien gezwungen, den Weg der Einheitsfront zu betreten. Aber gerade durch diesen großen Erfolg richtet sich vor der Liga die Frage in ihrer ganzen Größe auf: sein oder nicht sein?

10. Die gemeinsame Versammlung vom 2. Juli charakterisiert die geschaffene Lage in bemerkenswert klarer Weise. Wie die Liga so manches Mal voraussagte, hat bereits der erste Schritt der Einheitsfront eines: außerordentlichem Begeisterung in den Massen ausgelöst. Die Möglichkeit, auf diesem Wege zu siegen, ist außer Zweifel. Jedoch haben sowohl die Stalinisten wie die Sozialisten die Vereinigung nicht nur nicht benutzt, um sich Kampfziele zu stellen, sondern im Gegenteil all ihre Kräfte darauf gerichtet, dass die Masse in der bloßen Tatsache der gemeinsamen Versammlung ihre volle Befriedigung findet. Gestern war die größte Gefahr die Sabotage der Einheitsfront. Heute werden die größte Gefahr die Illusionen der Einheitsfront, die mit den parlamentarischen Illusionen sehr verwandt sind; diplomatische Noten, pathetische Reden, Händedrücke, Block ohne revolutionären Inhalt und – Betrug der Masse. Auf dieser symbolischen Versammlung hat die Liga das Wort nicht erhalten. Und das nicht zufällig; wir haben hier das Aktionsprogramm der beiden Bürokratien für die ganze kommende Periode vor uns.

11. Dies Programm ist praktisch nur deshalb zu verwirklichen, weil die Liga von den Massen isoliert bleibt. Der Versuch, diese Isolierung zu überspringen, indem man diplomatische Noten mit den Zentralkomitees wechselt und beim Nationalrat der SP interveniert usw., ist nichts als diplomatische Spielerei, mit dem Ziel, das ungünstige Kräfteverhältnis zu maskieren. Das schickt sich für uns nicht. Es gilt nicht, das Kräfteverhältnis zu verbergen, sondern, es zu ändern. Man muss in die Masse hineingehen. Man muss seinen Platz in den Kadern der Einheitsfront suchen, d.h. in den Kadern einer der beiden Bestandteile. Praktisch bedeutet das, in der SFIO.

12. Kapitulation vor der 2.Internationale? Den Vorwurf einer solchen Kapitulation kann man mit viel größerem Rechte den Stalinisten machen, die in 24 Stunden auf Litwinows Befehl die Theorie vom Sozialfaschismus zum alten Eisen warfen, erkannten, dass die Demokratie vorzuziehen ist, und sogar auf die Kritik an ihren neuen Freunden verzichteten. Wir, wir geben nichts auf. Wir stellen bloß ehrlich fest, dass unsere Organisation zu schwach ist, um eine unabhängige praktische Rolle zu beanspruchen in den bevorstehenden Kämpfen. Und dennoch, Revolutionäre die wir sind, wollen wir nicht beiseite stehen. 1848 trat Marx mit seiner schwachen kommunistischen Organisation ein in die demokratische Partei. Plechanow, um nicht abseits zu bleiben, versuchte die Gruppe der „Befreiung der Arbeit" in den „Volkswillen" hineinzubringen, mit dem er fünf Jahre vorher aus prinzipiellen Gründen gebrochen hatte. Aus anderen Erwägungen heraus und in einer anderen Situation empfahl Lenin der KP Englands, in die Labour Party zu gehen. Wir unsererseits waren bereit, mit der SAP und der OSP in eine internationale Partei zu gehen. Unseren britischen Freunden haben wir dringend empfohlen, in die ILP zu gehen, und ein Teil von ihnen ist unserem Rate gefolgt. War das eine Kapitulation? Keineswegs! Jetzt heißt es, die gleiche Politik in Frankreich anzuwenden und zu entwickeln.

13. Aber wir haben doch die Notwendigkeit der Bildung einer neuen Partei und einer neuen Internationale proklamiert? Dies Programm behält seine volle Kraft. Aber niemals haben wir versprochen, unseren Nabel solange zu beschauen, bis sich um uns die 4. Internationale versammelt hat. Wir wiesen stets darauf hin, dass die Wege zu ihrem Aufbau kompliziert und in den verschiedenen Ländern nicht dieselben sein werden, wie es übrigens auch mit der 3. Internationale der Fall war. Im Besonderen erinnerte Gen. Trotzki vor einem Jahr an das französische Beispiel, wo trotz dem Bruch der Bolschewiki mit der 2. Internationale deren gesamte Sektion für die 3. gewonnen wurde. Nirgends steht geschrieben, dass eine Wiederholung der Geschichte des Kongresses von Tours ausgeschlossen sei: Im Gegenteil, viele Umstände sprechen dafür, dass das vollständig möglich ist.

14. Aber in diesem Falle wird uns die SFIO nicht aufnehmen! Sehr wohl möglich, dass die Spitzen sich widersetzen werden. Dagegen aber werden die meisten lokalen Organisationen uns entgegenkommen. Im Innern der Partei geht ein Kampf der Richtungen vor sich. Die Linken werden für uns sein. Unser Band mit den Linken wird sich verstärken und die Entwicklung arbeitet zugunsten der Linken.

15. Aber wir müssen versprechen, die Disziplin zu wahren? Gewiss, wir werden im Rahmen der Statuten arbeiten und die Disziplin wahren. Wir werden eine Fraktion. Dafür erhalten wir die ständige Verbindung mit Zehntausenden von Arbeitern, das Recht, am Kampf und an der Diskussion teilzunehmen, und, was für uns selbst besonders notwendig ist, die Möglichkeit, Tag für Tag unsere Ideen und unsere Losungen in der Aktion der Massen zu prüfen.

16. Aber schließt der Eintritt in die SP nicht die Gefahr einer opportunistischen Anpassung oder der Entartung ein? Ohne Zweifel!. Jedoch, es wäre naiv, zu denken, man könne dieser Gefahr durch Selbstisolierung entgehen. Die Liga ist jetzt unabhängig, aber leider enthält ihre Haltung zur SFIC-Politik Elemente unzulässiger Anpassung. Es ist nicht nötig, die Führer mit Kraftausdrücken zu belegen, aber absolut notwendig ist, die Gefahr jenes rein dekorativen Verfahrens aufzuzeigen, das auf den Seiten des Populaire (wie der Humanité) für „Kampf gegen den Faschismus“ ausgegeben wird. Das Proletariat befindet sich einem Todfeind gegenüber, der zu allem bereit ist und Im nötigen Moment bis an die Zähne bewaffnet sein wird. Die proletarische Vorhut muss in sich und in den breiten Massen unerschütterliche Kampfbereitschaft, eisernen Willen, revolutionäre Disziplin und militärische Schlagfertigkeit entwickeln. Paraden zu vorgeschriebener Stunde, Manifestationen mit Polizeierlaubnis und andere symbolische Aktionen schläfern nur die Wachsamkeit und den Willen der Arbeiter ein. Nötig ist eine Kampforganisation, nötig ist die Bewaffnung, nötig sind gestählte Abteilungen, Instrukteure und Stäbe, nötig sind aktive Manöver, nötig ist, den Feind zu entwaffnen, ihn von der Straße zu fegen, ihn unter Terror zu halten. Die Pflicht der Liga, gleich, ob sie „unabhängig" bleibt oder ob sie eintritt in eine der Parteien der Einheitsfront, fordert gebieterisch, dass sie das den Arbeitern offen, klar, ehrlich, dem Ernst der Situation und den daraus sich ergebenden Aufgaben entsprechend erklärt.

17. Welches wird aber in diesem Fall unsere Haltung zur KP sein? Wir werden mit ihr einen engeren Kontakt als vorher herstellen, auf dem Wege über die Einheitsfront. Man muss sich klar darüber Rechenschaft ablegen, dass die französische KP nur imstande ist, die SP zur Auflösung zu bringen ohne irgendeinen Vorteil für die Revolution. Es ist allgemein bekannt, dass dies das Ergebnis der Koalition der britischen KP mit der ILP ist. Aber wenn wir hingegen den proletarischen Kern der SFIO mit unseren Ideen befruchten, werden wir eine neue und unschätzbare Möglichkeit haben, auf den proletarischen Kern der KP einzuwirken. In dieser Weise kann eine mächtige Sektion der 4. Internationale zustande kommen.

18. Aber die proletarische Partei soll doch unabhängig sein? Gewiss. Aber die Liga ist noch keine Partei. Sie Ist ein Embryo, und ein Embryo braucht für seine Entwicklung Decke und Nahrung.

19. Aber wenn … Und doch … Und wenn …

Alles voraussehen und alles vorhersagen ist unmöglich. Man muss die Lage klar begreifen, sich Aufgaben stellen und an ihre Durchführung schreiten, und keine Zeit verlieren, denn in 6 Monaten kann uns endgültig die Möglichkeit verloren gehen, die sich uns jetzt bietet. Man muss kurze Sicht nehmen!

20. Zum Schluss: der Koran sagt, der Berg sei zum Propheten gekommen; der Marxismus empfiehlt den Propheten, zum Berge zu gehen.

Vidal.

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