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Leo Trotzki 19340718 Die Stalinisten und organische Einheit

Leo Trotzki: Die Stalinisten und organische Einheit

[Nach Auszüge aus dem Bulletin Interieur de la Ligue Comuniste, S. 7-9, enthalten in Lev Davidovič Trockij / International Left Opposition Archives, inventory number 957, Titel nach Sinclairs Trotzki-Bibliographie, S. 749, wo allerdings der 19. Juli als Datum angegeben ist, International Institute of Social History, Amsterdam.]

18.7.34

Liebe Genossen!

Nach dem Nationalrat der SFIO sind die Lage und der einzuschlagende Weg so klar und deutlich geworden, dass man absichtlich blind sein muss,um sie nicht zu erkennen.

Die Vertreter der GAP (Ständige Verwaltungskommission der SFIO) und des CC (ZK der KPF) haben schon eine Vorbesprechung gehabt über die Möglichkeit der organischen Einheit (Einheitspartei). Thorez erklärte, auch er betrachte die Aktionseinheit als eine Etappe zur organischen Einheit. Diese Besprechung wurde stenographiert. Séverac hat das Stenogramm auf dem Nationalrat (der SFIO) vorgelesen (um jeden Preise muss man den Text verschaffen).

Diese Tatsache ist der Maßstab für den geschichtlichen Rückschritt vor allem auf der Ebene der Partei. Denken wir darüber gut nach; 1914 wurde bereits die Notwendigkeit des Bruches mit den sozialdemokratischen Parteien ausgesprochen. Dieser Bruch vollzog sich in Frankreich 1921. Jahre der Läuterung folgten und heute, im Sommer 1934, vermelden die Führer der KP offen, ihr Ziel sei die organische Einheit mit der sozialdemokratischen Partei. Ein kolossaler Rückschritt!

Nicht wir haben ihn gewollt oder geschaffen. Er ist eine Tatsache, durch die Entwicklung und vor allem durch den Einfluss der Stalinbürokratie gegeben Aber er ist Tatsache. Wer diese Grundtatsache beiseite schieben oder unterschätzen wollte, wird sich unvermeidlich den Schädel einrennen. Aber das Maß des Rückschritts ist noch nicht voll. Nicht genug damit, dass die Leitung der KP sich gezwungen sieht (wenig hat zu sagen, mit welchen Hintergedanken), die Perspektive der organischen Einheit mit der Sozialdemokratie aufzutun nach dreizehn Jahren unabhängiger Existenz und zwanzig Jahre nach der Verkündung der Unmöglichkeit, mit den Sozialdemokraten in derselben Partei zusammenzuarbeiten.

Nein, noch besser – oder eher schlimmer: wir Marxisten sind genötigt anzuerkennen, dass im Augenblick die Verschmelzung der beiden Parteien ein Fortschritt wäre, nicht im Vergleich mit Lenins Parolen von 1914, noch in Vergleich mit dem Kongress von Tours, sondern verglichen mit der heutigen Lage, so wie sie ist. Die Verschmelzung der beiden Parteien würde die Möglichkeit bedeuten, von neuem zu beginnen. So steht es. Die Arbeiterbewegung ist in eine geschichtliche Sackgasse geraten. Das Gefühl dieser Sackgasse ist es, das die Stalinisten zu ihrem „Kapitulations"vorhaben treibt und das Vorhandensein dieser Sackgasse macht aus dieser „Kapitulation" eine fortschrittliche Tatsache. Die Verschmelzung der beiden Parteien würde unvermeidlich den Weg frei machen für die Diskussion, die Analyse, das Studium, einen Fraktionskampf breiten Ausmaßes und zugleich für die Herauskristallisierung einer neuen revolutionären Partei, Sektion der 4. Internationale. Der geschichtliche Rückschritt – das wiederhole ich nachdrücklichst – besteht nicht nur darin, dass die stalinistische Bürokratie gezwungen ist, sich dem Verlangen der Klasse durch Verbrüderung mit der Sozialdemokratie anzupassen, sondern auch darin, dass diese banale, sentimentale, inhaltslose Verbrüderung einen kolossalen Fortschritt bedeutet im Vergleich mit der absoluten Ausweglosigkeit von gestern. Um seinen Weg zu finden, muss man diese furchtbare Dialektik der Entwicklung von Grund auf begreifen. Man muss durchdrungen werden von der synthetischen Vorstellung all dessen, was während der letzten 20 Jahre in der französischen Arbeiterbewegung geschah. Sonst ist man verdammt, Sklave des eigenen Subjektivismus oder einiger stolzer aber leerer Formeln zu werden. Vor der Situation, so wie sie weiter oben kurz gekennzeichnet ist, ist der, der da sagt: „Niemals werde ich der Sozialdemokratie beitreten“. Kapitulation! Verrat! Usw. usw.“ nur ein sentimentaler Wicht, der vielleicht die marxistischen Botanikformeln kennt aber entsetzt stehen bleibt vor den lebenden Bäumen und erst recht vor dem Wald.

Wenn die objektive Analyse uns sagt – und man versuche doch, sie zu widerlegen – dass die Verschmelzung der beiden Parteien, so wie sie sind jetzt ein kolossaler Fortschritt wäre, wie kann man dann für die Liga das Rocht fordern, isoliert, von dieser neuen großen Perspektive losgelöst zu bleiben?

Ich will nicht sagen, dass die Verschmelzung der beiden Parteien schon sicher sei von vorneherein. Nein, es spielen zu viel Faktoren mit, als dass man mathematisch die Resultante zeichnen kannte. Die stalinistische Bürokratie, heute in Panik kann in der Folgezeit wieder in ihren Übermut zurückfallen und in der SFIO eine Abtreibungsspaltung hervorzurufen versuchen. Doriot kann zur SFIO kommen, neue Ortsgruppen können von der KP zur SP übergehen usw. usw., aber alle diese möglichen Episoden ändern nichts an der Charakterisierung der augenblicklichen Lage der Arbeiterbewegung und ihrer gebieterischen Notwendigkeiten.

Wenn die Verschmelzung nicht zustande kommt und die Stalinisten versuchen, die SP mit ihren gewohnten Methoden zu desorganisieren (Zickzacks, Demagogie, selbst individuelle Korrumpierung), können nur unsere Ideen und unsere Methoden dem revolutionären Kern der SP die Kraft zum Widerstand gegen die vollständige Zersetzung einimpfen. Die ILP hätte heute ein anderes Gesicht, wäre vor einem Jahr unsere Sektion dort eingetreten, um die in einigen Artikeln und Briefen entwickelte Politik zu verteidigen. Das ist auch schon die Antwort auf gen eventuellen Einwand: Warten wir doch ab, bis die Einheit der beiden großen Parteien hergestellt ist und geben wir erst dann unsere Visitenkarte ab. Das hieße, statt vorauszuschauen, zu handeln und vorzubereiten – den Moment abwarten, wo wir durch die Aktion der anderen praktisch liquidiert sein werden.

Genossen, unsere Verantwortung vor dem französischen Proletariat wie vor dem internationalen Marxismus ist ungeheuer groß. Man muss der Wirklichkeit gerade ins Gesicht schauen und die Vorurteile des abgeschlossenen Zirkels abstreifen.

Einen anderen Weg gibt es nicht, aber dieser ist ein sicherer Weg.

Vidal.

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