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Leo Trotzki 19340316 Ein zentristisches Attentat auf den Marxismus

Leo Trotzki: Ein zentristisches Attentat auf den Marxismus

(Brief an den holländischen Genossen Sneevliet)

[Nach Unser Wort, Wochenzeitung der Internationalen Kommunisten Deutschlands, 2. Jahrgang, Nummer 10 (26), 4. Märzwoche 1934, S. 1 f.]

Ich habe mich sehr für den theoretischen Artikel des Genossen de Kadt («Einige Bemerkungen über das Programm der neuen Internationale») interessiert, weil er ein sehr wichtiges theoretisches Bekenntnis eines der Führer der OSP darstellt. Ich wollte zuerst den Schluss des Artikels in «De Nieuwe Weg» abwarten. Wie ich aber annehme, bleibt der Artikel immer noch unvollendet. Aber auch das Veröffentlichte genügt. Es ist bekannt, dass der Zentrismus sich immer und aus Leibeskräften sträubt, das Gebiet der «grauen Theorie» zu betreten, weil er eben sich nicht bloßstellen will. De Kadt hat sich durch die ganze Situation bewogen gefunden, eine Stellungnahme zu den programmatischen Problemen der neuen Internationale anzudeuten, und diesen Schritt kann man nicht anders als verhängnisvoll nennen.

In diesem Brief möchte ich nur ein paar Punkte berühren, die, obzwar sie auf verschiedenen Ebenen liegen, für die zentristische Denkweise doch gleich charakteristisch sind.

«Es ist nicht unsere Aufgabe», schreibt de Kadt, «heute schon die Formulierungen zu geben, die wir für nötig erachten. Diese Bemerkungen haben nur zum Ziel, im Voraus das Recht (!) zu behaupten, in den kommenden Programmdiskussionen nicht-orthodoxe Ansichten zu verteidigen». Es handelt sich – nicht wahr? – um die Ausarbeitung der Grundsätze der neuen Internationale. Kaum kann man in dieser Epoche sich ein schwerwiegenderes Dokument vorstellen. Was sollte unter diesen Bedingungen das dringendste, unmittelbarste, tiefste Bedürfnis jedes marxistische Revolutionärs sein? Wenigstens die wichtigsten Beobachtungen, Verallgemeinerungen, Behauptungen, Losungen zu formulieren, die in dem Programm ihren Platz finden müssen; denn es handelt sich doch darum, den aufgewühlten, desorientierten, enttäuschten, suchenden Arbeitern Antwort auf die brennenden Fragen unserer Epoche zu geben. So stellt sich die Sache wenigstens uns, den «orthodoxen» Marxisten dar. Ganz anders aber de Kadt. Er tritt an das Problem rein individualistisch, psychologisch, dilettantisch heran. Für ihn handelt es sich nicht darum, bestimmte Ideen zu formulieren, sondern um sein «Recht», in der Zukunft «nicht-orthodoxe» Ansichten zu hegen. Die Programmfrage aber ist keine Rechtsfrage. Die Ansichten soll man vorlegen und nicht das Recht auf Ansichten. Niemand in der Arbeiterwelt interessiert sich dafür, ob jemand von uns ein «Recht» habe, nicht-orthodoxe Ansichten später einmal zur Weit zu bringen. Man will die Ansichten selbst kennen, um sie auf ihren reellen Inhalt zu prüfen. Das Geheimnis aber besteht darin, dass der Zentrist überhaupt keine bestimmten, klaren, durchdachten Ansichten hat. Daher begnügt er sich mit dem Recht…, keine Ansichten zu haben.

Unmittelbar nach den angeführten Worten fährt de Kadt folgendermaßen fort: «Um ein Beispiel zu geben: müssen wir fortfahren, über die ,Diktatur des Proletariats* zu reden, während doch in Wirklichkeit die Diktatur allein durch den sozialistischen Teil des Proletariats und durch die nichtproletarischen Elemente, die dem Sozialismus ergeben sind, ausgeübt wird? Wir haben in Wirklichkeit mit einer ,sozialistischen Diktatur' zu tun, einer Diktatur, die durch Sozialisten für den Sozialismus ausgeübt wird». Hübsch gesagt: «um ein Beispiel zu geben»! Der Kritiker merkt gar nicht, dass er mit seinem «Beispiel» so ganz nebenbei das ganze Gebäude des Marxismus umzuschmeißen versucht. Denn es handelt sich hierbei nicht um den Namen der Diktatur des Proletariats, sondern um das Wesen der Klassentheorie der Gesellschaft. Marx, der jedenfalls sich mit dem «Recht» auf Ideen nicht begnügte, sondern manche gute Ideen hatte, hielt gerade die Theorie der Diktatur des Proletariats für seinen wichtigsten Beitrag zur Gesellschaftserkenntnis. Schon im Jahre 1852 erklärte Marx an Weydemeyer, dass die Klassentheorie der Gesellschaft schon vor ihm von bürgerlichen Gelehrten entdeckt und formuliert wurde, dass er – Marx – diese Theorie auf die weitere Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft anwandte bis zur letzten Konsequenz, d. h. der Diktatur des Proletariats. Lenin schrieb ein Buch («Staat und Revolution») in dem er gerade diese grundlegende marxistische Lehre von dem «nicht-orthodoxen», revisionistischen Mist der Kautsky, Otto Bauer usw. befreite und reinigte. Jetzt kommt de Kadt mit seinem «Recht auf Ansichten» und erklärt uns «zum Beispiel» über die Diktatur des Proletariats: «So was gibt's ja gar nicht», denn in Wirklichkeit «wird die Diktatur nur durch den sozialistischen Teil des Proletariats verwirklicht» und obendrein beteiligen sich an ihr auch Nichtproletarier. Mit anderen Worten, es handelt sich nicht um die Diktatur einer Klasse, sondern um die Herrschaft einer geistigen Gemeinde, eines Zusammenschlusses von Leuten um die Idee des Sozialismus herum. Wir sehen also: nicht Klassen entscheiden in der Geschichte, sondern Ideen. Daher muss sich auch jeder selbstachtende Mensch das Recht auf Ideen bewahren. De Kadt stellt «zum Beispiel» dem Marxismus eine durch und durch idealistisch-metaphysische Geschichtsphilosophie gegenüber. Ein Dutzend Zeilen genügt ihm, um sich von den Grundsätzen des Marxismus loszusagen.

Wir armen «Orthodoxen» aber glauben auch heute, dass nicht die Ideen das Schicksal der Gesellschaft bestimmen, sondern die Klassen; dass soziale Ideen – wie der alte, kluge Italiener Antonio Labriola sagte – nicht vom Himmel fallen, sondern unmittelbare oder geschichtliche Interessen der Klassen zum Ausdruck bringen. Die «Idee» des Sozialismus ist der theoretische Ausdruck der geschichtlichen Tendenz des Proletariats, im Zusammenhang mit der gesamten Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Gesellschaft. Das Verhältnis zwischen Klasse und «Idee» ist nicht mechanisch, sondern dialektisch. Die Klasse kommt zum Selbstbewusstsein nicht durch Offenbarung, sondern durch harten Kampf, der auch die Formen eines inneren Kampfes im Proletariat selbst annimmt. So – mit Verlaub – ist unser Kampf gegen den Zentrismus; ein wichtiger Bestandteil des Kampfes der Arbeiterklasse um Selbsterkenntnis. Daher ist es unvermeidlich, dass im Prozess der Entwicklung des Proletariats eine Auslese der Fortgeschrittensten, Weitsichtigsten, Mutigsten stattfindet, der Elite, der wirklichen Avantgarde. Und erst durch die Vermittlung dieses seines wichtigsten Organs kann das Proletariat seine geschichtliche Mission erfüllen, d. h. die Macht erobern und sie in Form der Diktatur behaupten bis zur vollständigen Aufhebung der Klassengegensätze. Dass es sich um die Diktatur der Klasse handelt, beweist das Verhältnis zwischen der Klasse und seiner Avantgarde: ohne die Unterstützung der großen Mehrheit der Klasse wäre die Errichtung des Arbeiterstaates unmöglich. Dass die proletarische Revolution sich aber durch die Vermittlung der Avantgarde vollzieht, erklärt sich aus der Ungleichartigkeit des Proletariats, wie es uns von der Geschichte eben gegeben ist. Marx operierte nicht mit leeren Abstraktionen («Klasse», «Sozialismus»), sondern mit geschichtlichen Realitäten, ihren wirklichen Zusammenhängen und ihrem Aufeinanderwirken.

Dass sich an der Diktatur auch Abtrünnige anderer Klassen beteiligen, erklärt sich dadurch, dass wir mit der lebendigen sozialen Materie zu tun haben, wo die Klassen ineinander übergehen, aufeinander wirken, und nicht mit den Schubladen einer Apotheke, wo jedes Präparat seine eigene Packung und Etikette hat. Die bestimmende geschichtliche Rolle der Klassen verleiht eben der progressiven Klasse die Fähigkeit, die besten Elemente anderer Klassen mitzureißen. Damit aber, so wie es de Kadt tut, die Klassentheorie einfach für null und nichtig zu erklären, ist dasselbe, wie wollte man das Gesetz der Schwere leugnen, weil eine Luftblase nicht nach unten sondern nach oben geht.

De Kadt nimmt dann ein anderes «Beispiel», diesmal nicht gegen Marx, sondern gegen Lenin: «Warum müssen wir», fragt er, «in unserem Programm das ,Räteprinzip' anerkennen, während noch nicht die Spur eines Beweises erbracht ist, dass die ,Räte' etwas anderes (!) sind als zeitliche (!!), improvisierte (!!!) Organisationsformen, in denen die Masse sich unmitlelbar vor und unmittelbar nach dem Kampf um die Macht vereinigt». Der Idealist und Metaphysiker ist nicht geneigt, dem «Räteprinzip» eine große Bedeutung beizumessen, denn die Räte sind doch nichts weiter als eine «zeitliche» Organisationsform, sie dienen dem Proletariat nur «unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Kampf um die Macht». Wir Marxisten sind gar nicht darauf erpicht, «ewige», «unvergängliche» Werte in unser Programm aufzunehmen, wir begnügen uns eben mit «zeitlichen» Dingen wie den Raten, die – das gibt auch de Kadt zu – Instrumente der Machteroberung und Machtbehauptung des Proletariats sind. Vorläufig ist uns dies vollständig genug. Wir wollen de Kadt und seinen Gesinnungsgenossen das «Recht» zuerkennen, in der Zukunft viel «ewigere» Organisationsformen zu erfinden; zuerst sollen sie aber wenigstens versuchen, die «zeitlichen» Räte zu schaffen und die Macht zu erobern.

Ich könnte so den ganzen Artikel Satz für Satz durchnehmen, um zu beweisen, dass – schließt man die nichtssagenden Gemeinplätze aus – de Kadts Artikel nur aus horrenden Verstößen gegen die Grundsätze des Marxismus besteht. De Kadt nennt nie die Leuchten, die ihn inspiriert haben. Marx, Engels und Lenin waren es jedenfalls nicht. Aber in seinen allerneusten revisionistischen Offenbarungen finden wir nichts als Nachklänge von Bernstein, den deutschen Neukantianern und auch der Austromarxisten. Und das alles soll zum Aufbau des Programms der neuen Internationale dienen? Aber nein! Dafür muss de Kadts schon eine andere Verwendung suchen.

Unser Kritiker ist sehr streng dem Bolschewismus gegenüber, auch dem echten – Lenins. Er will ihn nicht «idealisieren». Das ist auch gar nicht nötig. Was de Kadt aber über den Leninismus sagt, ist wahrhaft kläglich. Nicht mit prinzipieller Kritik haben wir da zu tun, sondern mit verstümmelten Tatsachen. Anachronismen, missverstandenen Verhältnissen, falschen, persönlichen Einschätzungen und dergl. Die Widerlegung würde daher, ohne von großem Nutzen zu sein, zu viel Zeit in Anspruch nehmen müssen. Hier genügt es, festzustellen, dass de Kadt sehr streng «das System Lenin-Trotzki» kritisiert, um sich mit dem System … Tranmael zu verbünden. Hand in Hand mit der norwegischen Sozialdemokratie, die ja doch nur eine verwässerte Ausgabe des Austromarxismus ist, will de Kadt die internationale Arbeiterbewegung «revolutionär» erneuern… auf Grund der Prinzipien, die man uns erst später verraten wird.

Das «Recht", schiefe Ansichten zu haben, wollen wir niemanden streitig machen. Den holländischen Arbeitern aber möchten wir aus voller Überzeugung sagen: auf der Philosophie de Kadts eine Partei bauen, heißt auf Sand bauen. Hütet Euch, das zu tun; baut auf dem marxschen Granit!

PS: Nachdem ich meinen Artikel abgeschickt hatte, habe ich erfahren, dass de Kadt ins Gefängnis kommt. Dass wir mit ihm in einer Front gegen die holländische wie gegen jede andere Reaktion stehen, braucht nicht erörtert zu werden. Die Verhaftung kann aber die Kritik seines Artikels nicht hintan halten. Wir können die unglückselige Politik der KPD nicht schweigend hinnehmen, nur weil Thälmann und viele andere in den Händen der Henker sind.

Auch können wir die Verbrechen des Austromarxismus nicht verschweigen trotz den vielen heldenhaften Opfern, die er jüngst brachte und noch bringt. Die Erfordernisse der revolutionären Politik stehen über dem Wechsel des persönlichen Schicksals.

16. März 1934.

L. Trotzki.

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