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Leo Trotzki 19341200 Zum London-Amsterdamer Büro

Leo Trotzki: Zum London-Amsterdamer Büro

(Über einen Thesenentwurf der SAP.)

[Nach Unser Wort, Halbmonatszeitung der IKD, 3. Jahrgang, Nummer 1 (53), Anfang Februar 1935, S. 3]

[Das London-Amsterdamer Büro (die IAG) beruft für Mitte Februar eine Internationale Konferenz ein. Wir halten es für wichtig, anlässlich dieser Gelegenheit nochmals unsere kritische Stellungnahme gegenüber dem London-Amsterdamer Büro und der von ihm eingeschlagenen Politik darzulegen. Der nachstehende Artikel beschäftigt sich vor allem mit Thesen, die von der SAP ausgearbeitet worden sind. Wir hoffen, dass die konkrete Fragestellung des Genossen Crux der Diskussion über die Probleme der Herausbildung der 4. Internationale neue Anregungen geben wird. DIE RED.]

Formal genommen, kann das Projekt der SAP gewissermaßen als ein Schritt vorwärts angesehen werden. Die wichtigste Neuerung ist, dass die SAP die Politik der Komintern zum ersten Mal nicht als ultralinks, sondern als schwankend zwischen Ultralinks und Rechts charakterisiert. Aber nicht einmal diese Konzession an unsere Kritik wird konsequent bis zum nötigen Ende geführt. Was bedeutet theoretisch und politisch eine Tendenz – oder besser gesagt: eine Weltorganisation – die zwischen zwei Extremen schwankt? Diese Schwankungen müssen sich an einem sozialen Körper, an einer politischen Physiognomie zeigen. Wir haben sie schon lange als bürokratischen Zentrismus charakterisiert. Die Führer der SAP haben diese Definition bekämpft, aber keine andere an ihre Stelle gesetzt.Die Schwankungen bleiben also rätselhaft. So finden sie kein Motiv dafür, die proletarische Weltavantgarde vom Druck der Sowjetbürokratie zu befreien. Die erste theoretische Konzession, macht auf halbem Weg halt und bleibt wertlos (s. § 7)

In § 5 wird der Faschismus definiert, und § 6 der Reformismus mit der bürgerlichen Demokratie verbunden. Aber in den Thesen findet sich kein Wort über das Übergangsstadium zwischen der reformistisch-demokratischen und der faschistischen Periode. Die SAP übergeht die Frage des Bonapartismus völlig, die für eine große Zahl von Ländern von brennender Aktualität ist. Wie kann man sich über die augenblickliche politische Lage in Frankreich, Belgien. Holland usw. orientieren, ohne den Begriff des Neobonapartismus zu definieren und zu erklären?

In den Thesen über den Krieg überrascht es, nichts über die Rolle des Nationalstaates in der gegenwärtigen Krise des kapitalistischen Systems zu lesen. Der Grundwiderspruch liegt zwischen den Produktivkräften des Kapitalismus und dem Konsumtionsniveau der Massen. Aber dieser Widerspruch zeigt sich nicht auf der Bühne eines einheitlichen und unteilbaren Kapitalismus. Der Nationalstaat bestimmt den Rahmen innerhalb dessen dieser Widerspruch sich offenbart So wird der Widerspruch zwischen den kapitalistischen Produktivkräften und dem Nationalstaat zu einer unmittelbaren Kriegsursache. Wenn man nicht die in Bezug auf die Wirtschaft reaktionäre Rolle des Nationalstaats erkennt, kann man nicht die Idee der nationalen Verteidigung zurückweisen. Darum sind die Thesen, die sich auf diesen Hauptpunkt beziehen, so schwach.

Aber wichtiger noch als diese Fehler, diese theoretischen und politischen Mängel (es gibt noch andere), ist die fundamentale Zweideutigkeit, auf der die ganze Organisation der IAG aufgebaut ist. Diese Zweideutigkeit muss einer Politik innewohnen, die die offene Aussprache und die gegenseitige marxistische Kritik durch die Diplomatie des Apparats ersetzt.

Wir lesen: «Die IAG ist keine Internationale. Es besteht bei ihren Anhängern noch keine solche Solidarität in Theorie und Praxis, dass sie ihnen erlauben würde, eine gegenseitige Garantie für die gesamte Politik jeder ihrer Organisationen zu übernehmen.» Die Zweideutigkeit liegt im Wort «gesamte Politik». Es handelt sich nicht darum, zu wissen, ob de SAP die Verantwortung für alle Taten der NAP übernimmt, sondern um die allgemeine Orientierung, um die Richtlinien der SAP. Genau so stellt sich dio Frage in Bezug auf die ILP usw.

Für uns nun ist die Politik der NAP diametral entgegengesetzt zu unserer eigenen.

In den Sitzungsberichten der IAG findet man nicht die Spur einer Erklärung über Richtlinien, die für die Tätigkeit jeder der angeschlossenen Parteien maßgebend sind. Unter diesen Bedingungen verlieren Konferenz und Thesen der IAG jeden revolutionären Wert. Schlimmer noch: man deckt mit passend zurechtgemachten Thesen eine Tätigkeit zu, die im entgegengesetzten Sinn verläuft.

Man macht uns zuweilen den Einwand: «Aber eure französische Sektion ist zur sozialdemokratischen Partei zurückgegangen. Die leninistische Jugend in Belgien schickt sich an, der JGS beizutreten. Wie könnt ihr Bolschewisten-Leninisten unter diesen Umständen gegen den Mangel an Zusammenhang in der IAG wettern?»

Dieses Argument ist gänzlich falsch. Unsere französische Sektion hat keine doppelte Buchführung. Ihre Prinzipien und ihre Aktivität gehen nicht auseinander. Sie ersetzt nicht die revolutionäre Kritik durch Diplomatie.

Sie ist zuweilen verpflichtet, sich in der Ausdrucksform ihrer Ideen Schranken aufzuerlegen. Aber sie schweigt niemals über die Grunddinge, die Fehler und Verbrechen der SFIO-.Führer mit einbegriffen; während die IAG hartnäckig über alle Fragen schweigt, die wirkliche Bedeutung haben, und vor allem über die Politik der NAP-Leitung, die das Terrain für den Faschismus in Norwegen vorbereitet.

Es ist richtig, dass § 8 der Thesen über die Aufgaben die zugehörigen Organisationen «verpflichten», ihre Politik auf die Eroberung der Macht usw. zu orientieren. Diese «Verpflichtungen» sollen der IAG den Anschein geben, einen Schritt auf die politische und theoretische Kohäsion zu machen. In Wirklichkeit aber handelt es sich um eine reine Form. Wie kann man Organisationen zu irgend etwas «verpflichten», die nie Rechenschaft über ihre Tätigkeit geben und nicht einmal eine Kritik von Seiten anderer Organisationen gestatten? Um zu «verpflichten», muss man kontrollieren. Und um zu kontrollieren, muss man das Recht haben zu kritisieren.

De Man, Jouhaux und Andere wollen die kapitalistische Wirtschaft «verpflichten», sich einer Leitung zu unterwerfen. Aber sie lehnen die Parole einer Produktionskontrolle, die mit Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses zu beginnen hätte, ab – und sie haben Grund dazu! Der Plan einer Wirtschaftsleitung, der sich um die wirkliche Aktivität nicht kümmert, ist nur eine Geistreichelei, die die Naiven ablenkt oder irreführt, während die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses, eine viel bescheidenere Losung, einen unerbittlichen Kampf gegen die Bourgeoisie verlangt. Die Thesen der SAP bedeuten einen Plan zur Leitung der Politik. Aber das Geschäftsgeheimnis der Tranmael & Co. wird intakt gelassen. Hier liegt das ganze Unglück. Und dieses Unglück macht völlig die kleinen Fortschritte der theoretischen Formulierungen zunichte.

Die Zweideutigkeit bleibt natürlich in der Frage der neuen Internationale bestehen. Die Thesen erkennen an, dass «die beiden großen Internationalen mehr und mehr zu einem Hemmschuh im Kampf des Proletariats geworden sind», enthalten sich aber gleichzeitig, das Losungswort der neuen Internationale, der vierten, auszugeben. Warum? Weil Tranmael und Genossen mit der Weisheitsallüre, die sie sich zu geben wissen, verkünden, dass es jetzt schon eine Internationale zu viel gibt. Man stellte sich einen Augenblick einen Agitator vor, der in den Arbeiterversammlungen verkündigt, dass die 2. und 3. Internationale für die proletarische Revolution einen Hemmschuh und ein Handicap bedeuten. Die Hörer können mit dem Redner einverstanden sein oder nicht, jedenfalls erwarten sie von ihm, dass er sagt: «Wir müssen auf dieser oder dieser Basis eine neue Internationale schaffen». Aber der Redner der SAP hat kein Recht, das zu sagen. Seine Kritik der beiden Internationaler, ist nur ein blinder Schuss. Darum treten SAP und IAG auf der Stelle.

Die Endlosung dieser Thesen ist die Berufung eines Kongresses aller proletarischen Antikriegs-Organisationen. Diese Losung ist nichts anderes als eine Fiktion. Selbst wenn die wichtigsten Organisationen wie die Trade Unions bereit wären, sich mit russischen Bolschewisten zusammenzusetzen, und wenn sich eine Regierung fände, die einen solchen Kongress zuließe, so wäre doch das Ergebnis dieses Kampfes gegen den Krieg gänzlich wirkungslos. Der Kongress könnte sogar die imperialistische Bourgeoisie durch seine Ohnmacht ermutigen. Wenn die syndikalistischen, sozialdemokratischen und stalinistischen Bürokratien sich gezwungen sähen, einen solchen Kongress einzuberufen, so müssten wir daran teilnehmen, um für unsere Ideen und Methoden zu kämpfen. Aber diesen Kongress zum Losungswort zu nehmen und ihn von vornherein als Kampfmittel gegen den Krieg zu proklamieren, bedeutete nur eine Illusion mehr. Man speist jetzt die Arbeiter mit Abstraktionen ab wie Einheitsfront, Gemeinschaftsfront und organische Einheit. Der «Weltkongress» gehört derselben Kategorie tröstlicher Fiktionen an.

Fassen wir zusammen: Wenn die IAG aufhören will, etwas Leeres und Unlebendiges zu sein, so muss sie. an die Spitze der Tagesordnung ihrer Februarkonferenz einen Rechenschaftsbericht aller zugehörigen Organisationen (angefangen mit der NAP als der wichtigsten) über ihre Tätigkeit in ihren eigenen Ländern setzen. Die offene und rückhaltlose Debatte über diesen Bericht muss zur Ausarbeitung von Thesen über die allgemeine Politik des Proletariats und über die besondere jeder angeschlossenen Organisation führen. Diese Thesen können nur mit einer schonungslosen Verurteilung des Tranmaelismus und jeder Politik, die mit ihm kokettiert, anfangen.

Mit einem Wort: man muss offen sagen was ist. Das ist der Anfang der Weisheit.

CRUX.

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