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Leo Trotzki 19350126 Alles gelangt allmählich an seinen Platz

Leo Trotzki: Alles gelangt allmählich an seinen Platz

(Brief an amerikanische Freunde.)

[Nach Leo Trotzki, Die „Terroristen“-Prozesse in der USSR. Prag 1936, S. 27-30]

Ich bin Euch, liebe Freunde, für die an mich in Dezember gestellte Anfrage sehr dankbar: sie hat mich dazu veranlasst, eine Einschätzung der Sache Kirow in ihren wichtigsten Etappen zu geben. Jeder gewissenhafte Leser hat jetzt die Möglichkeit, unsere vorwegnehmenden Erwägungen und Hypothesen den danach erfolgten offiziellen Bekenntnissen gegenüberzustellen und die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Am 30. Dezember 1934 äußerte ich die feste Gewissheit darüber, dass die GPU von Anfang an über den vorbereiteten terroristischen Akt auf dem Laufenden war. Das. bezeugt unumstößlich die Teilnahme des „Konsuls", der nur ein Agent der GPU sein konnte. Jetzt haben wir den Beweis. Am 23. Januar verurteilte das Kriegstribunal 12 verantwortliche Leningrader Vertreter der GPU, mit ihrem Chef an der Spitze, zu schweren Strafen: Inhaftierung von 2 bis 10 Jahren! Das Urteil legt ihnen nicht weniger zur Last als die Tatsache, dass „sie von dem in Vorbereifung befindlichen Attentat auf Kirow unterrichtet waren, jedoch eine verbrecherische Fährlässigkeit (!) bewiesen …, indem sie nicht die notwendigen Abwehrmaßnahmen ergriffen". Das Bekenntnis der tatsächlichen Teilnahme der GPU an dem Verbrechen ist durch die jämmerliche Phrase über die „Fahrlässigkeit" verdeckt. Kann man denn tatsächlich auch nur für einen Augenblick annehmen, dass solche Säulen der GPU, wie Medwedjew, „fahrlässig" gehandelt hätten bei einer ihnen vorher bekannten Vorbereitung zur Ermordung Kirows? Nein, „Fahrlässigkeit" hat hiermit nichts zu tun. Überfluss an Eifer, Hasardspiel auf Kosten von Kirows Kopfdiese Erklärung entspricht eher dem Wesen der Sache. Als die Vorbereitung des terroristischen Attentats mit Wissen der GPU bereits begonnen hatte, bestand die Aufgabe von Medwedjew und seinen Mitarbeitern gar nicht darin, die Verschwörer zu verhaften, – das ist zu einfach – man musste einen passenden Konsul finden, ihn mit Nikolajew zusammenbringen, Nikolajew Vertrauen zum Konsul einflößen usw.; gleichzeitig musste man eine Verbindung der Sinowjew-Kamenew-Gruppe zu den Leningrader Terroristen konstruieren. Das ist keine leichte Arbeit. Sie verlangt Zeit. Aber Nikolajew wartete nicht mehr. Die Spanne zwischen dem Tempo von Medwedjew Arbeit und der Nikolajews führte zum blutigen Ende.

Das Urteil des Tribunals erklärt direkt, dass Saporoschetz, Medwedjew und die anderen keine Maßnahmen ergriffen haben", um die Tätigkeit der Terroristen-Gruppe rechtzeitig aufzudecken und lahmzulegen", „obwohl sie volle Möglichkeiten dazu hatten".

Man kann sich nicht deutlicher ausdrücken. Sie konnten den Mord abwenden, haben es aber nicht getan. Warum den nicht? Aus Fahrlässigkeit, antwortet das Tribunal. Wer wird denn das glauben? Medwedjew und die anderen konnten keine Abwehrmaßnahmen ergreifen, weil sie die ihnen übertragene delikate Sache noch nicht zu Ende geführt hatten: sie hatten noch kein einziges passendes Zettelchen von Sinowjew erhalten (nicht umsonst beklagte sich die erste amtliche Mitteilung über den Mangel an Beweisen gegen die Gruppe Sinowjew-Kamenew); sie hatten noch nicht die notwendigen Agenten für die Verbindung zwischen Leningrad und Moskau gefunden; sie haften Nikolajew noch keinen Brief für Trotzki entreißen können. Mit einem Wort, die Hauptsache war noch nicht fertig. Und Nikolajew wollte die Sache nicht länger hinausschieben. Medwedjew „wusste", sagt uns das Tribunal. Wir zweifeln nicht daran. Durch wen wusste er? Durch die eigenen Agenten, die an der Vorbereitung zum Attentat teilnahmen und gleichzeitig Nikolajew beobachteten. Was geschah mit diesen Agenten? Im Medwedjew-Prozess wird über sie kein Wort gesagt. Kein Wunder! Ihre Sache wurde zusammen mit der Nikolajew-Sache erledigt: die Agenten der GPU befinden sich zweifellos unter den 14 erschossenen Verschwörern. Die einen büßen für den Mord, die anderen – für unbefriedigende Ausführung des Auftrags.

Es ist jedoch ganz offensichtlich, dass Medwedjew dieses ganze Hasardspiel nicht auf sein eigenes Risiko spielen konnte. Die Teilnahme eines ausländischen Konsuls an der Vorbereitung der Ermordung Kirows konnte doch nicht das Geheimnis von Medwedjew allein bleiben. Über eine Angelegenheit von solch ausschließlicher Bedeutung musste Medwedjew zweifellos an Jagoda täglich telefonisch Bericht erstatten, und Jagoda – an Stalin. Es handelte sich doch um Köpfe von Leuten mit Weltruf. Überdies drohten sogar bei günstigstem Ausgang des Amalgams mit dem Konsul diplomatische Unannehmlichkeiten. Ohne ausdrückliches Einverständnis von Stalinrichtiger, ohne seine Initiative – hätten sich weder Jagoda, noch Medwedjew jemals zu einem so riskanten Unternehmen entschlossen.

Niemand, hoffen wir, wird uns jetzt entgegnen: aber Medwedjew selbst hat doch die Anklage als „richtig" anerkannt. Und ob! Was blieb ihm anderes übrig? Die Angeklagten haben vor zwei Übeln das kleinere gewählt. Sie konnten doch nicht in der Tat erklären, dass sie an einer verbrecherischen Provokation teilgenommen hatten, zum Zwecke eines Amalgams, auf Grund eines direkten Auftrages von Jagoda, ein solches Bekenntnis hätte sie den Kopf gekostet. Sie haben es vorgezogen, einer „verbrecherischen Fahrlässigkeit" angeklagt zu werden. Das ist vorsichtiger. Überdies können sie nach einigen Monaten vielleicht wieder gebraucht werden

Alles gelangt allmählich an seinen Platz. Die Sache Medwedjew wirft ein grelles Licht auf die Sache Sinowjew-Kamenew, auf ihren Platz in der Strategie Stalins. Stellen wir uns für einen Augenblick vor, dass sich der Bevölkerung der UdSSR und der ganzen Welt nur zwei Prozesse dargestellt hätten: Nikolajew u. Medwedjew, – das unvollendete Amalgam wäre vor der Welt in seiner ganzen Blöße erstanden. Nikolajew mit dem Revolver in Kirows Kabinett; der Konsul, der vorher Nikolajew um den Brief für Trotzki ersucht hat; schließlich Medwedjew, der all dies vorher wusste, aber keine notwendigen Maßnahmen ergriff. Alles ist ganz klar: die Provokation tritt schamlos hervor. Eben deshalb durfte man die Sache Nikolajew und die Sache Medwedjew nicht eine nach der anderen bringen. Man musste das Land in der Zwischenzeit mit Sensationen betäuben, die die niemanden bekannten Nikolajew und Medwedjew in der Schatten stellten. Man musste notwendigerweise die Prozesse gegen die wirklichen Teilnehmer an der Ermordung – Nikolajew und Medwedjew – trennen vom Prozess gegen die alten Revolutionäre, die Mitkämpfer Lenins, die Erbauer der Partei, indem man sie eines Verbrechens anklagte, zu dem sie – im Gegensatz zu Stalin, der böswillig mit dem Feuer spielte – nicht die geringsten Beziehungen hatten. Die Sache Sinowjew ist eine grandiose Nebeldecke für die Sache Stalin-Jagoda.

Die ersten amtlichen Mitteilungen und offiziellen Artikel nach der Verhaftung der Moskauer Gruppe der alten Bolschewiki lauteten, dass Sinowjew, Kamenew und ihre Freunde sich die „Wiederherstellung des kapitalistischen Regimes" zur Aufgabe gestellt hatten und bestrebt waren, eine ausländische „militärische Intervention" (durch Vermittlung… des lettischen Konsuls!) hervorzurufen. Kein ernsthafter Mensch glaubt natürlich daran.

Stalins Lakaien, die unter dem Namen „Führer" der Komintern auftreten, werden jedoch nicht müde, zu behaupten, dass Sinowjew, Kamenew und die anderen „ihre Verbrechen selbst zugegeben haben". Welche? Vorbereitung zur Restaurierung des Kapitalismus? Vorbereitung der Militärintervention? Vorbereitung der Ermordung von Kirow und Stalin? Nein, ganz und gar nicht das. Den Revolver auf der Brust gaben sie zu: 1. dass sie sich sehr kritisch zu den Methoden der Kollektivierung verhielten, 2. keinerlei Sympathien zu Stalin-Kaganowitsch hegten, 3. ihre Gedanken und Gefühle nicht vor ihnen nächsten Freunden verbargen. Sonst nichts! Das alles war im Jahre 1932. Für diese schweren Verbrechen, hauptsächlich für den Mangel an Liebe zu Stalin, wurden sie eben seinerzeit ausgeschlossen. Danach haben sie jedoch Buße getan und wurden wieder in die Partei aufgenommen. Was für ein Verbrechen wird ihnen denn für die Zeit nach dem Reuebekenntnis nachgesagt? Dem Wust leeren Phrasen und lakaienhaften Beschimpfungen haben wir einen einzigen konkreten Hinweis entnommen: im Dezember 1934 sagte Sinowjew seinen Freunden, dass die Politik der Einheitsfront von der Komintern nicht richtig geführt würde, dass die tatsächliche Initiative in die Hände der Sozialdemokratie gelegt wird.

Allein die Tatsache, dass eine derartige kritische Einschätzung der neuesten Politik Stalin-Bela Kuns vor dem Gericht als verbrecherische Handlung angeführt und offiziell zitiert wird als Beweis einer konterrevolutionären Verschwörung, zeigt, bis zu welch unerhörter Erniedrigung die entfesselte Willkür der thermidorianisch-bonapartistischen Bürokratie die Partei gebracht hat!

Nehmen wir an, die Kritik Sinowjews sei falsch. Gestehen wir den Lakaien sogar das Recht zu, die gegen sie gerichtete Kritik als „verbrecherisch" anzusehen. Aber was hat denn damit immerhin die „Restaurierung des Kapitalismus" und die „Militärintervention" zu tun? Welche Verbindung besteht zwischen dem Verlangen nach einer revolutionären Politik gegen die Bourgeoisie und dem Programm der Wiederherstellung eines bürgerlichen Regimes? Wo bleibt hier der gesunde Menschenverstand? Er ist vollkommen begraben unter den ungeheuerlichen Ausbrüchen der Gemeinheit!

Und was geschah mit dem Konsul? Das ist eine Frage, auf die wir keine Antwort hören. Der Konsul von Lettland hatte 5.000 Rubel zur Organisierung des Kirow-Mordes gegeben. Diese Tatsache wurde offiziell vom Gericht festgestellt. Was denn weiter? Während der Gerichtsverhandlungen weilte der lettische Diplomat auf Urlaub in Finnland, – nicht in der verhassten UdSSR und nicht in seiner Heimat Lettland sondern in dem „neutralen" Finnland. Ein umsichtiger Konsul, der vorsorgliche Freunde haben muss! Es ist jedenfalls klar, dass der Konsul die Ermordung Kirows nicht auf eigene Initiative und nicht auf eigenes Risiko finanzierte. Für einen kleinen Beamten sind solche Vorhaben nicht tragbar. Wenn der Konsul kein Agent der GPU war, wie uns Stalins Lakaien weismachen wollen, so konnte er nur im Auftrage irgend einer ausländischen Regierung fungieren, der lettischen oder deutschen (wie die Stalin-Presse andeutete). Warum zieht man denn diese verbrecherische Bande nicht ans Tageslicht? Warum stellt man denn nicht, dem Beispiel Jugoslawiens folgend, die Frage der terroristischen Verbrechen der Diplomatie zur Diskussion im Völkerbund? Es scheint, das Spiel würde den Einsatz lohnen. Indessen bezeugt Stalin nicht das geringste Interesse an dem Terroristen-Diplomaten und seinen Inspiratoren. Hinsichtlich der sog. „Abberufung" des Konsuls gab es nicht einmal eine amtliche Mitteilung! Ein einfaches Übergehen zur Tagesordnung.

Dieses Rätsel hat eine andere Seite: Warum schweigt der Konsul selbst? Jetzt ist er außerhalb der UdSSR und könnte, so sollte man meinen, die ganze Wahrheit aufdecken. Wenn er den Terror finanziert hat, so ist er ein verschworener Feind der Sowjets. Warum entlarvt er denn nicht seine Feinde? Weil der Diplomat das internationale Sprichwort gut kennt: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Der revolutionäre Terror bedarf keiner Maskierung, denn er findet seine unmittelbare Berechtigung im Bewusstsein der Volksmassen. Die Notwendigkeit des Amalgams tritt in dem Moment auf, wo die Bürokratie sich über die revolutionäre Masse erhebt, als herrschende Kaste, mit ihren besonderen Interessen, Geheimnissen und Machinationen. Für ihre Macht und ihre Privilegien kämpfend, ist die Bürokratie gezwungen, das Volk zu betrügen. Allein die Notwendigkeit, zu solchen Amalgamen seine Zuflucht zu nehmen, entlarvt und verurteilt das bürokratische Regime unbarmherzig.

Soweit ich es aus der Ferne als isolierter Beobachter beurteilen kann, hat die Strategie, die um die Leiche Kirows entfaltet wurde, Stalin keine große Lorbeeren eingebracht. Aber gerade deshalb kann er weder stehenbleiben, noch zurückgehen. Stalin ist gezwungen, die nicht gelungenen Amalgame durch neue zu ersetzen, in größerem Maßstabe und… durch erfolgreichere. Man muss ihnen in voller Rüstung begegnen! Der Kampf gegen die wüsten Maßnahmen gegen die marxistische Opposition in der UdSSR ist untrennbar vom Kampf für die Befreiung der proletarischen Avantgarde der Welt von dem verderblichen Einfluss der Stalinschen Agenten und Stalinschen Methoden. Kein einziger ehrlicher proletarischer Revolutionär darf schweigen. Von allen politischen Gestalten ist die Gestalt des Pilatus die verächtlichste.

26. Januar 1935.

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