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Leo Trotzki 19350201 Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus

Leo Trotzki: Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus

(Eine geschichtlich-theoretische Umschau)

[Nach Unser Wort, Halbmonatszeitung der IKD, 3. Jahrgang, Nummer 4 (56), Anfang Mai 1935, S. 2 f., Nr. 6 (58), Mitte Juni 1935, S. 3 f., Nr. 7. (59), Anfang Juli 1935, S. 3]

Die Außenpolitik der Stalinbürokratie hat in ihren beiden Kanälen, dem Hauptkanal der Diplomatie und dem Hilfskanal der Komintern eine scharfe Wendung vollzogen – in Richtung auf den Völkerbund, den Status quo, ein Bündnis mit den Reformisten und der bürgerlichen Demokratie. Die Innenpolitik wendete gleichzeitig zum Markt und zum «wohlhabenden Kolchosbauern». Die neuerliche Zerschlagung der oppositionellen und halb oppositionellen Gruppen und irgendwie kritischen Einzelelemente, die neue Massensäuberung der Partei sollen Stalin die Hände für den Rechtskurs lösen. Im Wesen geht es um Rückkehr zum alten organischen Kurs (Einsatz auf den Kulaken, Bündnis mit der Kuomintang, Anglo-russischen Komitee usw.), jedoch in erweitertem Maßstabe und unter ungleich schwierigeren Bedingungen. Wohin wird dieser Kurs führen? Das Wort «Thermidor» ist wieder auf vieler Lippen. Leider verwischte sich dieses Wort durch Abnützung, verlor den konkreten Inhalt und genügt weder zur Charakterisierung der Etappe, die die Stalinbürokratie durchläuft noch der Katastrophe, die sie vorbereitet. Vor allem heißt es, sich über die Terminologie einig werden.

Der Streit um den „Thermidor" in der Vergangenheit.

Die Frage des «Thermidor» ist mit der Geschichte der «Linken Opposition» in der USRR eng verbunden. Heute wäre es nicht leicht festzustellen, wer zuerst zur geschichtlichen Analogie mit dem Thermidor griff. 1926 jedenfalls verteilten sich die Stellungen ungefähr so: Die Gruppe «Demokratischer Zentralismus» (der von Stalin in der Verbannung zu Tode gequälte W. M. Smirnow, Sapronow u. a.) behauptete: «Der Thermidor ist eine vollzogene Tatsache!» Die Anhänger der Plattform der Linken Opposition, die Bolschewiki-Leninisten. verwarfen kategorisch diese Behauptung. Auf dieser Linie ging eben die Spaltung vor sich. Wer hat Recht behalten? Um diese Frage zu beantworten, muss man genau feststellen, was eigentlich beide Gruppen unter «Thermidor» verstanden: geschichtliche Analogien lassen verschiedene Deutungen und damit auch Missbräuche zu.

Der verstorbene W. M. Smirnow – einer der edelsten Vertreter des alten bolschewistischen Typs – war der Auffassung, das Zurückbleiben der Industrialisierung, das Wachstum von Kulak und Nepmann (des neuen Bourgeois), ihre Verfilzung mit der Bürokratie, endlich die Entartung der Partei seien so weit gediehen, dass ohne neue Revolution eine Rückkehr auf die sozialistischen Geleise nicht möglich sei. Das Proletariat habe die Macht bereits verloren. Nach der Zertrümmerung der Linken Opposition drücke die Bürokratie die Interessen des wiedererstehenden bürgerlichen Regimes aus. Die Haupterrungenschaften der Oktoberrevolution seien liquidiert. Das war in ihren Grundzügen die Stellung der «D.Z.».

Die «Linke Opposition» wandte dagegen ein: Elemente der Doppelherrschaft sind im Lande ohne Zweifel entstanden: aber der Übergang von diesen Elementen zur Herrschaft der Bourgeoisie kann nicht anders vor sich gehen als durch eine konterrevolutionäre Umwälzung. Die Bürokratie ist wohl schon mit Nepmann und Kulak verbunden; doch ihre Hauptwurzeln führen noch immer in die Arbeiterklasse. Im Kampf gegen die Linke Opposition schleppt die Bürokratie mit den Nepmännern und Kulaken zweifellos einen schweren Schwanz hinter sich her. Aber morgen wird dieser Schwanz auf das Haupt niedersausen, d. h. auf die herrschende Bürokratie. Neue Spaltungen in ihrer Mitte sind unvermeidlich. Angesichts der Gefahr einer offenen konterrevolutionären Umwälzung wird der grundlegende Kern der zentristischen Bürokratie sich gegen die aufstrebende Bauernbourgeoisie auf die Arbeiter stützen. Der Ausgang des Konfliktes ist noch lange nicht bestimmt. Noch ist es zu früh, die Oktoberrevolution zu Grabe zu tragen. Die Zertrümmerung der Linken Opposition erleichtert dem Thermidor sein Werk. Doch noch ist der Thermidor nicht vollzogen.

Es genügt, den genauen Inhalt der Debatten von 1926-27 wiederherzustellen, um die Richtigkeit des Standpunktes der Bolschewiki-Leninisten im Lichte der weiteren Entwicklung mit aller Deutlichkeit hervortreten zu lassen. Bereits 1927 stieß der Kulak gegen die Bürokratie vor, indem er ihr das Getreide vorenthielt, das er in seinen Händen hatte ansammeln können. Das Jahr 1928 sieht die Bürokratie in offener Spaltung. Die Rechten sind für weitere Zugeständnisse an die Kulaken. Das Zentrum rüstet sich mit den Ideen der von ihr gemeinsam mit den Rechten zertrümmerten Linksopposition, findet Unterstützung bei den Arbeitern, zerschlägt die Rechten, beschreitet den Weg der Industrialisierung und dann der Kollektivierung. Um den Preis zahlloser überflüssiger Opfer erwiesen sich die grundlegenden sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution dennoch gerettet.

Die Voraussage der Bolschewiki-Leninisten (genauer: die «bessere Variante» ihrer Voraussage) wurde vollauf bestätigt. Heute kann es darüber keinen Streit geben. Die Entwicklung der Produktivkräfte vollzog sich nicht auf dem Weg der Wiederherstellung des Privateigentums, sondern auf der Basis der Sozialisierung, vermittelst planmäßiger Leitung. Die weltgeschichtliche Bedeutung dieser Tatsache kann nur politisch Blinden verborgen bleiben.

Der wirkliche Sinn des Thermidor.

Nichtsdestoweniger kann und muss man jetzt zugeben, dass die Analogie mit dem Thermidor eher zur Verdunklung als zur Aufklärung der Frage gedient hat. Der Thermidor des Jahres 1794 vollzog eine Machtverschiebung von den einen Gruppen des Konvents zu anderen, von den einen Schichten des siegreichen «Volks» zu anderen. War der Thermidor Konterrevolution? Die Beantwortung dieser Frage hängt von dem Umfang ab, den wir im gegebenen Falle dem Begriff «Konterrevolution» verleihen. Die soziale Umwälzung von 1789-1793 war eine bürgerliche. Im Wesen lief sie hinaus auf die Ersetzung des gebundenen feudalen Eigentums durch das «freie» bürgerliche Eigentum. Die dieser Revolution entsprechende Konterrevolution hätte die Wiederherstellung des feudalen Eigentums bringen müssen. Allein, der Thermidor hat dies nicht einmal versucht. Robespierre wollte sich auf die Handwerker stützen, das Direktorium auf die Mittelbourgeoisie. Bonaparte vereinigte sich mit den Banken. Alle diese Verschiebungen, die freilich nicht nur vor. politischen sondern auch von sozialer Bedeutung waren, vollzogen sich jedoch auf dem Boden der neuen bürgerlichen Gesellschaft und Staatsmacht.

Der Thermidor war ein Akt der Reaktion auf der gesellschaftlichen Grundlage der Revolution. Den gleichen Sinn hatte der 18. Brumaire Bonapartes, der nächste wichtige Abschnitt auf dem Wege der Reaktion. In beiden Fällen ging es nicht um die Wiederherstellung der alten Eigentums- oder Machtformen der alten herrschenden Stände, sondern um den Anteil der verschiedenen Teile des siegreichen «Dritten Standes» an den Vorteilen des neuen gesellschaftlichen Regimes. Die Bourgeoisie erraffte immer mehr Eigentum und Macht (direkt und unmittelbar, oder durch besondere Agenten wie Bonaparte), wobei sie die sozialen Errungenschaften der Revolution keineswegs antastete, sie im Gegenteil sorgfältig festigte, ordnete und stabilisierte. Napoleon schützte das bürgerliche, darunter auch das bäuerliche Eigentum sowohl vor dem «Pöbel» als auch vor den Ansprüchen der expropriierten Eigentümer. Das feudale Europa hasste Napoleon als lebendige Verkörperung der Revolution und hatte in seiner Art recht.

Die marxistische Einschätzung der USSR.

Die heutige Sowjetunion ähnelt zweifellos sehr wenig jenem Typus der Sowjetrepublik, wie ihn Lenin im Jahre 1917 entwarf (Fehlen einer ständigen Bürokratie und stehenden Armee, Absetzbarkeit aller gewählten Personen zu beliebiger Zeit, aktive Massenkontrolle «ohne Ansehen der Person» usw.). Die Herrschaft der Bürokratie über das Land wie auch Stalins Herrschaft über die Bürokratie haben fast absolute Vollendung erreicht. Doch welche Schlussfolgerungen ergehen sich daraus? Der eine sagt: da der reale, aus der proletarischen Revolution hervorgegangene Staat den idealen, vorgefassten Normen nicht entspricht, kehre ich ihm den Rücken. Das ist politischer Snobismus, Gang und Gäbe in pazifistisch demokratisch, anarchosyndikalistischen, überhaupt ultralinken Kreisen der kleinbürgerlichen Intellektuellen. Der andere sagt: Da dieser Staat aus der proletarischen Revolution hervorging, ist jede Kritik an ihm Lästerung und Konterrevolution. Das ist die Stimme der Scheinheiligkeit, wohinter sich zumeist direkte materielle Interessiertheit bestimmter Gruppen der gleichen kleinbürgerlichen Intellektuellen oder der Arbeiterbürokratie verbirgt. Diese beiden Typen – der politische Snob und der politische Heuchler – gehen leicht ineinander über, je nach den persönlichen Umständen. Lassen wir beide links liegen.

Der Marxist sagt: Die heutige USSR entspricht offensichtlich nicht den vorgefassten Normen des Sowjetstaates; erforschen wir, was wir nicht vorausgesehen haben, als wir die programmatischen Normen ausarbeiteten; erforschen wir weiter, welche sozialen Faktoren den Arbeiterstaat verunstaltet haben; überprüfen wir nochmals, ob diese Verunstaltungen auf das wirtschaftliche Fundament des Staates übergegriffen haben, d. h. ob die wesentlich sozialen Errungenschaften der proletarischen Revolution erhalten geblieben sind, wenn ja, in welcher Richtung verändern sie sich, gibt es in der USSR und auf der Weltarena Faktoren, die das Übergewicht der fortschrittlichen Entwicklungstendenzen über die reaktionären fördern und beschleunigen können? Eine solche Fragestellung ist verwickelt. Sir bietet keinen fertigen Universalschlüssel, den träge Geister lieben. Dafür aber schützt sie nicht nur vor den beiden Plagen: Snobismus und Scheinheiligkeit, sondern erschließt auch die Möglichkeit tätiger Einwirkung auf das Geschick der USSR.

Als die Gruppe «DZ.» 1926 den Arbeiterstaat für liquidiert erklärte, beerdigte sie offensichtlich die noch lebendige Revolution. Im Gegensatz hierzu arbeitete die Linke Opposition eine Plattform von Reformen des Sowjetregimes aus. Die Stalinbürokratie schlug auf die Linke Opposition ein, um sich als privilegierte Kaste zu behaupten und zu festigen. Doch im Kampfe um ihre Stellung sah sie sich genötigt, der Plattform der Linken Opposition alle jene Maßnahmen zu entlehnen, die allein ihr die Möglichkeit gaben, die sozialen Grundlagen des Sowjetstaates zu retten. Das ist eine unschätzbare politische Lehre! Sie beweist, wie bestimmte geschichtliche Bedingungen: Rückständigkeit der Bauernschaft, Ermüdung des Proletariats. Ausbleiben entscheidender Unterstützung vom Westen, in der Revolution ein «zweites Kapitel» vorbereiteten, das gekennzeichnet ist durch die Unterdrückung der proletarischen Avantgarde und die Niederschlagung der revolutionären Internationalisten durch die konservative, nationale Bürokratie. Das gleiche Beispiel zeigt aber, wie die richtige politische Linie einer marxistischen Gruppe ermöglicht, die Entwicklung zu befruchten, selbst wenn die Sieger des «zweiten Kapitels» die Revolutionäre des «ersten Kapitels» niederschlagen.

Die oberflächliche, idealistische Denkart, die mit fertigen Normen arbeitet und ihnen mechanisch die lebendige Entwicklung anpasst, verfällt leicht aus der Begeisterung in Zerknirschtheit. Nur der dialektische Materialismus, der alles Bestehende betrachten lehrt in seiner Entwicklung, im Widerstreit der inneren Kräfte, verleiht dem Denken und der Tat die notwendige Beständigkeit.

Diktatur des Proletariats und Diktatur der Bürokratie.

In einer Reihe früherer Arbeiten haben wir festgestellt, dass die Sowjetgesellschaft trotz der durch die Nationalisierung der Produktionsmitte! bedingten wirtschaftlichen Erfolge voll und ganz ihren widerspruchsvollen Übergangscharakter bewährt und nach Lage der Werktätigen, Ungleichheit der Lebensbedingungen, Privilegien der Bürokratie noch immer dem kapitalistischen Regime viel näher steht als dem künftigen Kommunismus.

Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass der Sowjetstaat trotz der ungeheuerlichen bürokratischen Entartung immer noch geschichtliches Werkzeug der Arbeiterklasse bleibt, insofern er die Entwicklung von Wirtschaft und Kultur auf der Grundlage der nationalisierten Produktionsmittel sichert und allein dadurch die Voraussetzungen für die wirklichen Emanzipation der Werktätigen durch Liquidierung der Bürokratie und der sozialen Ungleichheit vorbereitet.

Wer diese beiden Grundthesen nicht ernst durchdacht und sich zu eigen macht, wer überhaupt die Literatur der Bolschewiki-Leninisten zur Finge der USSR seit dem Jahre 1923 nicht studiert hat, der läuft Gefahr, bei jeder neuen Begebenheit des Leitseil zu verlieren und die marxistischen Analyse durch klägliches Wehgeschrei zu ersetzen.

Der Sowjet- (richtiger wäre zu sagen: Antisowjet-) Bürokratismus ist das Erzeugnis der sozialen Gegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen Proletariat und Bauerntum (diese beiden Arten von Gegensätzen decken sich nicht), zwischen den nationalen Republiken und Gebieten, zwischen den verschiedenen Gruppen von Bauern, zwischen den verschiedenen. Schichten des Proletariats, zwischen den verschiedenen Verbrauchergruppen, endlich zwischen dem Sowjetstaat, in seiner Gesamtheit und seiner kapitalistischen Einkreisung. Gegenwärtig treten mit der Übertragung aller Beziehungen in die Goldrechnung die wirtschaftlichen Gegensätze besonders scharf hervor.

Die Bürokratie reguliert diese Gegensätze, indem sie sich über die werktätigen Massen erhebt. Sie nutzt diese ihre Funktion zur Festigung ihrer Herrschaft aus. Durch die unkontrollierte, willkürliche, keinen Einspruch duldende Führung häuft sie neue Gegensätze an. Indem sie sich diese zunutze macht, schafft sie das Regime des bürokratischen Absolutismus.

Die Gegensätze innerhalb der Bürokratie selbst führten zur Auslese eines kommandierenden Ordens, die Notwendigkeit der Disziplin innerhalb des Ordens zum Prinzip der individuellen Leitung, zum Kult des unfehlbaren Führers. In Betrieb, im Kolchos, auf der Universität, im Staate, überall das gleiche Regiment: der Führer mit einer Gefolgschaft von Getreuen, die Übrigen gehorchen dem Fühler. Stalin war und konnte seiner ganzen Natur nach nie Massenführer sein: Er ist Führer der bürokratischen «Führer», ihre Krönung, ihre Personifizierung.

Je verwickelter die Wirtschaftsaufgaben, je höher die Anforderungen und Interessen der Bevölkerung werden, desto schärfer auch die Gegensätze zwischen dem bürokratischen Regime und den Bedürfnissen der sozialistischen Entwicklung, desto brutaler kämpft die Bürokratie um die Erhaltung ihrer Positionen, desto zynischer greift sie zu Gewalt, Betrug und Bestechung.

Die Tatsache der unaufhörlichen Verschlechterung des politischen Regimes trotz Wachstum von Wirtschaft und Kultur, diese schreiende Tatsache erklärt sich dadurch und auch nur dadurch, dass der Druck, die Verfolgungen und Repressalien gut zur Hälfte nicht dem Schutz, des Staates dienen, sondern dem Schutz der Macht und der Vorrechte der Bürokratie. Daher auch die wachsende Notwendigkeit, die Repressalien mit Fälschungen und Amalgamen zu maskieren.

(Fortsetzung folgt).

(1. Fortsetzung)

«Kann man aber einen solchen Staat als Arbeiterstaat bezeichnen?» so ertönt die empörte Stimme der Moralisten, Idealisten und «revolutionären« Snobs. Vorsichtigere wenden ein: «Vielleicht ist es letzten Endes noch ein Arbeiterstaat, aber von der Diktatur des Proletariats hat er nicht die Spur mehr: er ist ein entarteter Arbeiterstaat unter der Diktatur der Bürokratie.»

Auf diese Argumentation in ihrem vollen Umfang zurückzukommen, besteht keine Veranlassung. Darüber ist in der Literatur unserer Richtung und in ihren offiziellen Dokumenten alles Notwendige gesagt. Niemand hat versucht den Standpunkt der Bolschewiki-Leninisten in dieser höchst wichtigen Frage richtig zu stellen oder zu ergänzen.

Wir beschränken uns hier lediglich auf eine Frage: kann man die faktische Diktatur der Bürokratie als Diktatur des Proletariats bezeichnen?

Die terminologische Schwierigkeit erwächst daraus, dass das Wort Diktatur bald im eng politischen, bald im tieferen, soziologischen Sinne gebraucht wird. Wir sprechen von der «Mussolinidiktatur» und erklären gleichzeitig den Faschismus für ein bloßes Werkzeug des Finanzkapitals. Was ist richtig? Eines wie das andere, aber in verschiedenen Ebenen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass alle Verfügungsgewalt in Mussolinis Händen vereinigt ist. Doch trifft nicht weniger zu, dass der gesamte reale Inhalt der Regierungstätigkeit von den Interessen des Finanzkapitals diktiert ist. Die soziale Herrschaft einer Klasse («Diktatur») kann äußerst verschiedene politische Formen annehmen. Davon zeugt die ganze Geschichte der Bourgeoisie, vom Mittelalter bis auf den heutigen Tag.

Die Erfahrung der Sowjetunion reicht bereits aus. um – mit allen notwendigen Änderungen – das gleiche soziologische Gesetz auch auf die Diktatur des Proletariats auszudehnen. Von der Machteroberung bis zur Auflösung des Arbeiterstaates in der sozialistischen Gesellschaft können die Formen und Methoden der proletarischen Herrschaft sich einschneidend ändern, je nach dem Gang des inneren und äußeren Klassenkampfes.

So erinnert Stalins heutiges Kommando in keiner Weise an die Sowjetmacht der ersten Revolutionsjahre. Die Ablösung des einen Regimes durch das andere ist nicht mit einem Male vor sich gegangen, sondern ruckweise, durch eine Reihe kleiner Bürgerkriege der Bürokratie gegen die proletarische Avantgarde. In letzter geschichtlicher Instanz wurde die Sowjetdemokratie gesprengt unter dem Ansturm der sozialen Gegensätze. Das machte sich die Bürokratie zunutze und entriss den Massenorganisationen die Macht. In diesem Sinne kann man auch von einer Diktatur der Bürokratie und sogar von der persönlichen Diktatur Stalins sprechen. Doch diese Usurpation und ihre Aufrechterhaltung war nur dadurch möglich, dass der soziale Inhalt der bürokratischen Diktatur durch die von der proletarischen Revolution begründeten Produktionsverhältnisse bestimmt blieb. In diesem Sinne kann man mit vollem Recht sagen, dass die Diktatur des Proletariats in der Diktatur der Bürokratie verunstalteten, aber unzweifelhaften Ausdruck gefunden hat.

Es gilt, die geschichtliche Analogie zu überprüfen und richtigzustellen

In den internen Auseinandersetzungen der russischen und internationalen Opposition verstand man unter Thermidor gemeinhin die erste Etappe der gegen die soziale Basis des Arbeiterstaates gerichteten bürgerlichen Konterrevolution*. Obwohl, wie wir gesehen, das Wesen der Diskussion früher dadurch nicht gelitten hatte, wurde die geschichtliche Analogie dennoch rein konventionell und unwirklich und diese Konvention gerät immer mehr in Widerspruch mit den Interessen der Analyse der neuesten Entwicklung des Sowjetstaates. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass wir oft und mit hinreichender Berechtigung vom plebiszitären oder bonapartistischen Regime Stalins sprachen. Doch der Bonapartismus kam in Frankreich nach dem Thermidor. Bleibt man im Rahmen der geschichtlichen Analogie, drängt sich die Frage auf: Wenn der Sowjet-«Thermidor» noch nicht eingetreten ist, woher kommt dann der Bonapartismus? Ohne unsere alte Ansicht in ihrem Wesen zu ändern – dazu besteht keinerlei Anlass – heißt es radikal die geschichtliche Analogie revidieren. Das wird uns helfen, manchen alten Tatsachen näherzukommen und manche neue Erscheinungen besser zu begreifen.

Der Umsturz des 9. Thermidor hob die grundlegenden Errungenschaften der bürgerlichen Revolution nicht auf, händigte aber die Macht gemäßigteren und konservativeren Jakobinern aus, den bessergestellten Elementen der bürgerlichen Gesellschaft. Heute kann man bereits unmöglich übersehen, dass auch in der Sowjetunion schon längst eine Machtverschiebung nach rechts vor sich gegangen ist. ganz analog zum Thermidor, wenn auch in langsamerem Tempo und in verschleierteren Formen. Die Verschwörung der Sowjetbürokratie gegen den linken Flügel konnte in der ersten Zeit nur deshalb verhältnismäßig «trocken» vor sich gehen, weil sie weitaus systematischer und vollständiger durchgeführt wurde als die Improvisation des 9. Thermidor.

Das Proletariat ist sozial gleichartiger als die Bourgeoisie, enthält aber doch eine ganze Reihe von Schichten, die sich besonders deutlich nach der Machteroberung abzeichnen, wo sich die Bürokratie und die mit ihr verbundene Arbeiteraristokratie herausbildet. Die Zertrümmerung der Linken Opposition bedeutete in direktem und unmittelbarem Sinne den Übergang der Macht aus den Händen der revolutionären Avantgarde in die der konservativeren Elemente der Bürokratie und der Oberschichten der Arbeiterklasse. Das Jahr 1924 ist eben der Beginn des Sowjetthermidors.

Eis handelt sich hier selbstverständlich nicht um Identität, sondern um eine geschichtliche Analogie, die immer ihre Grenzen hat in der Verschiedenheit der Gesellschaftsordnungen und Epochen. Aber die vorliegende Analogie ist weder oberflächlich noch zufällig; sie ist bestimmt durch die äußerste Anspannung des Klassenkampfes während Revolution und Konterrevolution. Die Bürokratie schwang sich in beiden Fällen auf dem Rücken der plebejischen Demokratie empor, die den Sieg des neuen Regimes gesichert hatte. Die Jakobinerklubs wurden allmählich erstickt. Die Revolutionäre von 1793 gingen in den Kämpfen zu Grunde, wurden Diplomaten und Generäle, fielen unter den Schlägen der Unterdrückung oder … gingen in die Illegalität. Anderen Jakobinern glückte später die Umwandlung in napoleonische Präfekten. Zu ihnen gesellten sich in immer wachsender Zahl Überläufer aus den alten Parteien, ehemalige Aristokraten, vulgäre Karrieristen. Und in Russland? Der allmähliche Übergang von den lebensprühenden Sowjets und Parteiklubs zum Kommandoregiment der Sekretäre, die einzig und allein vom «heiß geliebten Führer» abhängen, wiederholt nach 130-140 Jahren das gleiche Bild der Entartung, nur auf einer gigantischeren Arena und in reiferer Lage.

Die langwährende Stabilisierung des thermidorianisch-bonapartistischen Regimes wurde in Frankreich möglich nur dank der Entfaltung der von den feudalen Fesseln befreiten Produktivkräfte. Emporkömmlinge, Beutegeier, Gevattern und Bundesgenossen der Bürokratie bereicherten sich. Die enttäuschten Massen verfielen der Ermattung.

Der im Jahre 1923 für die Bürokraten selbst unerwartet einsetzende Aufschwung der nationalisierten Produktivkräfte schuf die notwendigen wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Stabilisierung der Sowjetbürokratie. Der Wirtschaftsaufbau erschloss der Energie der aktiven und fähigen Organisatoren, Administratoren, Techniker einen Ausweg. Ihre materielle und moralische Lage hob sich zusehends. Eine breite bevorrechtete Schicht entstand, eng verbunden mit der herrschenden Spitze. Die werktätigen Massen lebten von Hoffnungen oder verfielen in Hoffnungslosigkeit.

Abgeschmackte Pedanterie wäre es, die einzelnen Etappen der russischen Revolution entsprechenden Ereignissen in Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts angleichen zu wollen. Aber doch fällt es direkt in die Augen, dass das gegenwärtige politische Regime der Sowjets außerordentlich an das Regime des Ersten Konsuls erinnert und zwar gegen Ende des Konsulats, als es sich dem Kaiserreich näherte. Fehlt Stalin auch der Glanz der Siege, – in dem Regime der organisierten Kriecherei übertrifft er jedenfalls den erster. Bonaparte. Eine solche Macht war zu erzielen nur durch die Erstickung der Partei, der Sowjets, der gesamten Arbeiterklasse. Die Bürokratie, auf die sich Stalin stützt, ist materiell mit den Ergebnissen der vollzogenen nationalen Revolution verbunden, mit der sich entwickelnden internationalen Revolution hat sie aber keinerlei Berührungspunkte. In ihrer Lebensweise, ihren Interessen, ihrer Psychologie unterscheiden sich die heutigen Sowjetbeamten von den revolutionären Bolschewiki nicht minder, als Napoleons Generäle und Präfekten von den revolutionären Jakobinern.

Thermidorianer und Bonapartisten

Der Londoner Sowjetbotschafter, Majski, erläuterte kürzlich einer Abordnung der britischen Trade-Unions die Notwendigkeit und Berechtigung des Stalinschen Strafgerichts über die «konterrevolutionären» Sinowjewisten. Diese grelle Episode – eine von Tausenden – führt uns direkt ins Herz der Frage. Wer die Sinowjewisten sind, wissen wir. Welches auch ihre Fehler und Schwankungen seien, eines steht außer Zweifel: sie verkörpern den Typus des «Berufsrevolutionärs». Die Fragen der Weltarbeiterbewegung – das sind für sie Lebensfragen. Wer aber ist Majski? Ein rechter Menschewik, der sich im Jahre 1918 rechts von der eigenen Partei trennte, um einer weißen, unter Koltschaks Schutz stehenden Regierung jenseits des Urals als Minister beitreten zu können. Erst nach der Niederringung Koltschaks hielt es Majski an der Zeit, sich den Sowjets zuzuwenden. Lenin – und wir mit ihm, – hegte solchen Typen gegenüber allergrößtes Misstrauen, um nicht zu sagen Verachtung. Heute beschuldigt Majski in der Botschafterwürde die «Sinowjewisten» und die «Trotzkisten», sie wollten eine Militärintervention heraufbeschwören zur Wiederherstellung jenes Kapitalismus … den Majski gegen uns mit den Mitteln des Bürgerkrieges verteidigte.

Der gegenwärtige Gesandte in den Vereinigten Staaten, A. Trojanowski, gehörte in seiner Jugend zu den Bolschewiki. verließ später die Partei, war Patriot während des Krieges, Menschewik im Jahre 1917. Die Oktoberrevolution trifft ihn als Mitglied des Zentralkomitees der Menschewiki an. Als solcher leitete er in den folgenden Jahren den illegalen Kampf gegen die Diktatur des Proletariats; der stalinistischen Partei, richtiger Diplomatie, trat er nach Zerschlagung der Linken Opposition bei.

Der Pariser Gesandte Potemkin war während der Oktoberrevolution bürgerlicher Geschichtsprofessor; den Bolschewiki schloss er sich nach dem Siege an; der ehemalige Berliner Gesandte Chintschuk gehörte als Menschewik in den Tagen der Oktoberumwälzung dem konterrevolutionären Moskauer Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution an, gemeinsam mit dem rechten Sozialrevolutionär Grinko, dem jetzigen Volkskomissar für Finanzen. Chintschuks Nachfolger in Berlin, Suritz, war politischer Sekretär des ersten Sowjetvorsitzenden des Menschewiks Tschcheidse und schloss sich den Bolschewiki nach dem Siege an. Fast alle anderen Diplomaten sind von der gleichen Sorte; dabei aber werden für das Ausland – besonders nach den Geschichten mit Bessedowski, Dimitrewski, Agabekow usw. – nur ganz zuverlässige Leute ernannt.

Vor kurzem brachte die Weltpresse im Zusammenhang mit den großen Erfolgen der sowjetischen Goldgewinnung Mitteilungen über deren Organisator, Ingenieur Serebrowski. Der Moskauer Korrespondent des «Temps», der jetzt mit Duranty und Louis Fischer erfolgreich als Offiziosus der bürokratischen Spitzen konkurriert, unterstrich mit besonderer Sorgfalt den Umstand, dass Serebrowski als Bolschewik seit 1903 zur «alten Garde» gehöre. So steht es tatsächlich in Serebrowskis Parteibuch. In Wirklichkeit nahm er an der Revolution von 1905 als junger menschewistischer Student teil, um dann für lange Jahre ins Lager der Bourgeoisie überzugehen. Die Februarrevolution sieht ihn als Regierungsdirektor zweier für den Kriegsbedarf arbeitenden Betriebe, als Mitglied des Unternehmerverbandes und aktiven Teilnehmer am Kampf gegen den Metallarbeiterverband. Im Mai 1917 erklärte Serebrowski Lenin für einen «deutschen Spion»! Nach dem Siege zog ich Serebrowski neben anderen Spezialisten zur technischer Arbeit heran. Lenin hegte ihm gegenüber Misstrauen, ich – kein großes Vertrauen. Jetzt ist Serebrowski Mitglied des Zentralkomitees.

In der theoretischen Zeitschrift des Zentralkomitees, dem «Bolschewik» (31. Dezember 1934), steht ein Bericht Serebrowskis «Über die Goldproduktion der USSR». Schlagen wir die erste Seite auf: «…unter der Leitung des geliebten Führers der Partei und der Arbeiterklasse, des Genossen Stalin…», drei Zeilen weiter: «Genosse Stalin im Gespräch mit dem amerikanischen Korrespondenten, Herrn Duranty…»; fünf Zeilen weiter: «die knappe und präzise Antwort des Genossen Stalin…»; am Ende der Seite: «das heißt, stalinistisch ums Gold kämpfen». Zweite Seite: «lehrt uns der große Führer Genosse Stalin»; drei Zeilen danach: «als Antwort auf ihren (der Bolschewiki) Rapport (!) schrieb Genosse Stalin: «Gratuliere zum Erfolg…». Unten auf der gleichen Seite: «beseelt von den Weisungen des Genossen Stalin»; in der nächsten Zeile: «die Partei mit dem Genossen Stalin an der Spitze»; nach zwei Zeilen: «die Weisungen unserer Partei und (!) des Genossen Stalin». Nehmen wir den Schluss des Artikels: Über eine halbe Seite lesen wir: «die Weisungen des genialen Führers der Partei und der Arbeiterklasse, des Genossen Stalin…» und drei Zeilen darauf: «die Worte des geliebten Führers, des Genossen Stalin…».

Selbst die Satire steht entwaffnet da angesichts dieses kriecherischen Ergusses. Man sollte meinen, «geliebte Führer» hätten es nicht nötig, sich fünfmal auf jeder Seite die Liebe erklären zu lassen, noch dazu in einem Artikel, der nicht etwa dem Jubiläum des Führers sondern … der Goldförderung gewidmet ist. Andererseits liegt auf der Hand, dass der Artikelschreiber der solcher Kriecherei fähig ist, nichts von einem Revolutionär an sich haben kann. So ist er, dieser ehemalige zaristische Direktor von Großbetrieben, Arbeiterfresser, Bourgeois und Patriot, jetzt Stütze des Regimes, Mitglied des Zentralkomitees und hundertprozentiger Stalinist!

Noch ein Beispiel. Eine der Säulen der heutigen «Prawda», Saslawski, wies im Januar dieses Jahres die Unzulässigkeit der Herausgabe Dostojewskis reaktionärer Romane nach, sowie der «konterrevolutionären Werke Trotzkis, Sinowjews und Kamenews». Wer ist Saslawski? In ferner Vergangenheit rechter Bundist (Menschewik aus dem jüdischen Bund), dann bürgerlicher Journalist, der im Jahre 1917 die abscheulichste Hetze gegen Lenin und Trotzki als Agenten Deutschlands betrieb. In Lenins Artikeln aus dem Jahre 1917 findet man als Refrain den Satz: «Saslawski und Schurken seinesgleichen». So ging Saslawski in die Parteiliteratur ein als vollendeter Typus des käuflichen bürgerlichen Verleumders. Während des Bürgerkrieges suchte er Schutz in Kiew als Korrespondent weißer Blätter. Erst 1923 trat er zur Sowjetmacht über. Jetzt verteidigt er den Stalinismus gegen die Konterrevolutionäre Trotzki, Sinowjew und Kamenew! Von solchen Subjekten wimmelt die Stalinpresse, in der USSR wie im Ausland.

Die alten Kader des Bolschewismus sind zerschlagen. Die Revolutionäre wurden abgelöst von Beamten mit biegsamen Rücken. Das marxistische Denken ist verdrängt von Angst, Schmeichelei und Intrige. Vom Leninschen Politbüro blieb einzig Stalin: Zwei Mitglieder des Politbüros sind politisch gebrochen und zugrunde gehetzt (Rykow und Tomski) ; zwei im Kerker (Sinowjew und Kamenew); einer ausgewiesen und des Bürgerrechts beraubt (Trotzki), Lenin rettete, nach einem Ausspruch Krupskajas, vor der Unterdrückung durch die Bürokratie allein der Tod: da sie ihn nicht ins Gefängnis setzen konnten, sperrten ihn die Epigonen ins Mausoleum. Das gesamte Gewebe der herrschenden Schicht ist entartet. Die Jakobiner wurden von der Thermidorianern und Bonapartisten verdrängt; die Bolschewiki von den Stalinisten.

Für die breite Schicht der konservativen und keineswegs uneigennützigen Majski, Serebrowski und Saslawski, großen, mittleren und kleinen, ist Stalin der oberste Schiedsrichter. Glücksspender und Beschirmer vor eventuellen Oppositionen. Dementsprechend erteilt die Bürokratie Stalin von Zeit zu Zeit die Sanktion des Volksplebiszits. Die Partei- wie die Sowjetkongresse werden nach einem einzigen Kriterium organisiert: für oder gegen Stalin? Gegen können nur «Konterrevolutionäre» sein und mit ihnen wird nach Gebühr verfahren. Das ist die jetzige Machtmechanik. Das ist eine bonapartistische Mechanik, eine andere Bezeichnung ist bisher im politischen Wörterbuch nicht zu finden.

(2. Fortsetzung)

Der Unterschied der Rollen des bürgerlichen und des Arbeiterstaates

Ohne geschichtliche Analogien kann man von der Geschichte nicht lernen. Doch die Analogie muss konkret sein: neben den Zügen der Übereinstimmung darf man die Züge des Unterschiedes nicht vergessen. Beide Revolutionen machten mit Feudalismus und Leibeigenschaft Schluss. Aber die eine kam in Gestalt ihres extremsten Flügels über vergebliche Bemühungen, die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft zu durchbrechen, nicht hinaus, die andere stürzte tatsächlich die Bourgeoisie und schuf den Arbeiterstaat. Dieser grundlegende Klassenunterschied, der der Analogie die notwendigen materiellen Grenzen setzt, ist von entscheidender Bedeutung für die Prognose.

Nach einer tiefgehenden demokratischen Revolution, die die Bauern von der Leibeigenschaft befreit und ihnen den Boden zuteilt ist eine feudale Konterrevolution überhaupt nicht möglich. Die gestürzte Monarchie kann wieder an die Macht gelangen und sich mit den Gespenstern des Mittelalters umgeben. Doch die Wiederherstellung der Feudalwirtschaft liegt nicht mehr in ihrer Kraft. Haben sie einmal die feudalen Fesseln abgestreift, entwickeln sich die bürgerlichen Beziehungen automatisch. Keine äußere Kraft vermag ihnen Einhalt zu gebieten: sie müssen sich selbst den Sarg zimmern, nachdem sie zuvor ihren Totengräber geschaffen.

Ganz anders steht es mit der Entwicklung der sozialistischen Beziehungen. Die proletarische Revolution befreit nicht nur die Produktivkräfte von den Fesseln des Privateigentums, sondern gibt sie auch in die unmittelbare Verfügungsgewalt des von ihr erzeugten Staates. Begnügt sich der bürgerliche Staat nach der Revolution mit einer bloßen polizeilichen Rolle, während er den Markt dessen eigenen Gesetzen überlässt, so tritt der Arbeiterstaat direkt in der Rolle des Unternehmers und Organisators auf. Die Ablösung eines politischen Regimes durch ein anderes übt auf die Marktwirtschaft eine nur indirekte und oberflächliche Wirkung aus. Hingegen würde de Ablösung der proletarischen Regierung durch eine bürgerliche oder kleinbürgerliche die Liquidierung des Planprinzips und in der Folge auch die Wiederherstellung des Privateigentums nach sich ziehen. Zum Unterschied vom Kapitalismus wird der Sozialismus nicht automatisch, sondern bewusst errichtet. Das Vorrücken zum Sozialismus ist unlösbar von der Staatsmacht, die den Sozialismus will oder wollen muss. Unerschütterlich kann der Sozialismus erst auf einer sehr hohen Entwicklungsstufe werden, wo seine Produktivkräfte die kapitalistischen weit überragen, wo jedermanns Lebensbedürfnisse reichlich befriedigt sind, wo der Staat endgültig abstirbt und sich in der Gesellschaft aufgelöst hat Aber das Alles ist noch Sache einer fernen Zukunft. Auf der gegebenen Entwicklungsstufe steht und fällt der sozialistische Aufbau mit dem Arbeiterstaat. Nur wenn man den tiefen Unterschied der Entstehungsgesetze der bürgerlichen («anarchischen») und der sozialistischen («Plan-») Wirtschaft restlos durchdacht hat, sind die Grenzen erkennbar, welche die Analogie mit der Großen Französischen Revolution nicht überschreiten darf.

Der Oktober 1917 hat die demokratische Revolution vollendet und die sozialistische eingeleitet. Die agrarisch-demokratische Umwälzung in Russland wird keine Kraft der Welt mehr zurückdrehen: hier herrscht völlige Analogie mit der jakobinischen Revolution. Aber die kollektivwirtschaftliche Umwälzung und damit auch die Nationalisierung der Produktionsmittel, sind noch keineswegs unverletzlich. Die politische Konterrevolution könnte, selbst wenn sie bis zur Romanowdynastie zurück griffe, den Großgrundbesitz nicht mehr herstellen. Indes würde die Wiederaufrichtung des Regierungsblocks der Menschewiki und Sozialrevolutionäre ausreichen, um den sozialistischen Aufbau in Scherben zu schlagen.

Das Hineinwachsen des bürokratischen Zentrismus in den Bonapartismus

Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Revolutionen und folglich auch den ihnen «entsprechenden» Konterrevolutionen ist außerordentlich wichtig für das Verständnis der Bedeutung jener reaktionären politischen Verschiebungen, die das Wesen des Stalinregimes bilden. Die Bauernrevolution wie die auf sie gestützte Bourgeoisie söhnten sich glänzend mit dem Regime Napoleons aus und hielten sogar unter Ludwig XVIII. stand. Die proletarische Revolution ist schon unter dem jetzigen Regime Stalins tödlicher Gefahr ausgesetzt: eine weitere Verschiebung nach rechts vertrüge sie nicht.

Die in ihren Traditionen «bolschewistische», im Grunde aber von den Traditionen längst abgekommene, ihrer Zusammensetzung und Geistesart nach kleinbürgerliche Sowjetbürokratie ist berufen den Widerstreit zwischen Proletariat und Bauernschaft, zwischen Arbeiterstaat und Weltimperialismus zu regulieren: das ist die soziale Grundlage des bürokratischen Zentrismus, seiner Zickzacks, seiner Kraft, seiner Schwäche und seines so verderblichen Einflusses auf die Weltarbeiterbewegung**. Je unabhängiger die Bürokratie wird, je mehr sich die Macht in den Händen einer einzigen Person zusammenschließt, umso mehr verwandelt sich der bürokratische Zentrismus in Bonapartismus.

Der Begriff des Bonapartismus. bedarf, da er allzu breit ist, der Konkretisierung. Wir bezeichnen in den letzten Jahren mit diesem Namen jene kapitalistischen Regierungen, die unter Ausnutzung des Gegensatzes zwischen dem proletarischen und faschistischen Lager und, unmittelbar gestützt auf den militärisch-polizeilichen Apparat, sich als Retter der «nationalen Einheit», über Parlament und Demokratie erheben. Diesen Verfallsbonapartismus haben wir stets streng unterschieden vom jungen, offensiven Bonapartismus, der nicht nur Totengräber der politischen Prinzipien der bürgerlichen Revolution war, sondern auch Erhalter ihrer sozialen Errungenschaften. Wir bezeichnen diese beiden Erscheinungen mit einem Namen, da sie gemeinsame Züge haben: Im Greise erkennt man den Jüngling wieder, trotz der erbarmungslosen Arbeit der Zeit.

Den jetzigen Kremlbonapartismus vergleichen wir selbstverständlich mit dem Bonapartismus des bürgerlichen Aufstiegs, nicht des Niedergangs: mit dem Konsulat und dem ersten Kaiserreich und nicht mit Napoleon III., noch weniger mit Schleicher oder Doumergue. Für eine solche Analogie muss man Stalin keineswegs die Eigenschaften Napoleon I. zuschreiben: erheischen es die gesellschaftlichen Bedingungen, kann der Bonapartismus sich um Achsen verschiedenen Kalibers herausbilden.

Weitaus wichtiger ist unter dem uns interessierenden Gesichtspunkt die Verschiedenheit der sozialen Grundlagen der beiden Bonapartismen, jakobinischen und sowjetistischen Ursprungs. In dem einen Falle handelte es sich um die Konsolidierung der bürgerlichen Revolution durch Liquidierung ihrer Prinzipien und politischen Einrichtungen. Im zweiten Fall geht es um die Konsolidierung der Arbeiter- und Bauernrevolution durch Zerschlagung ihres internationalen Programms, ihrer führenden Partei, ihrer Sowjets. Bei der Weiterentwicklung der Thermidorpolitik führte Napoleon den Kampf nicht nur gegen die feudale Welt sondern auch gegen den «Pöbel» und die demokratischen Kreise der Klein- und Mittelbourgeoisie, auf diese Weise vereinigte er die Vorteile des durch die Revolution geschaffenen Regimes in den Händen einer neuen bürgerlichen Aristokratie. Stalin schützt die Errungenschaften der Oktoberrevolution nicht nur vor der feudal-bürgerlichen Konterrevolution, sondern auch vor den Ansprüchen der Werktätigen, vor ihrer Ungeduld, ihrer Unzufriedenheit; er zerschlägt den linken Flügel, der die geschichtlich rechtmäßigen und fortschrittlichen Strömungen der nicht privilegierten Arbeitermassen ausdrückt; er schafft eine neue Aristokratie durch weitgehende Differenzierung des Arbeitsentgelts, Vorrechte, Orden usw. Indem er sich auf die obere Schicht der neuen gesellschaftlichen Hierarchie gegen die untere stützt – manchmal umgekehrt – erreicht Stalin die völlige Vereinigung der Macht in seiner Hand. Wie dieses Regime anders nennen, als Sowjetbonapartismus?

Seinem ganzen Wesen nach vermag sich der Bonapartismus nicht lange zu halten: die auf die Spitze der Pyramide gestellte Kugel muss unbedingt auf die eine oder die andere Seite fallen. Doch wie wir sahen, stößt die geschichtliche Analogie gerade hier an ihre Grenzen. Napoleons Sturz ging natürlich nicht spurlos für die Beziehungen zwischen den Klassen vorüber, aber in Ihren Grundlagen blieb Frankreichs soziale Pyramide bürgerlich. Der unvermeidliche Zusammenbruch des Stalinbonapartismus wird sofort den Charakter der Sowjetunion als Arbeiterstaat in Frage stellen. Die sozialistische Gesellschaft lässt sich ohne sozialistische Macht nicht aufbauen. Das Geschick der Sowjetunion als sozialistischer Staat hängt von jenem politischen Regime ab, das den Stalinbonapartismus ablösen wird. Das Sowjetsystem zu erneuern vermag nur die revolutionäre Avantgarde des Proletariats, wenn es ihr wieder gelingt, die Werktätigen in Stadt und Land um sich zu sammeln.

Fortsetzung folgt.1

* Von thermidorianischer Entartung sprechen auch die Menschewiki. Was sie darunter verstehen, ist unergründlich. Die Menschewiki waren gegen die Machteroberung durch das Proletariat. Den Sowjetstaat halten sie auch heute für nicht proletarisch. Wofür sie ihn halten, ist unbekannt. Früher forderten sie die Rückkehr zum Kapitalismus, jetzt – zur «Demokratie» Wenn sie selbst nicht die Vertreter der thermidorianischen Strömung sind, was ist dann überhaupt «Thermidor»? Offenbar eine simple literarische Wendung.

** Die Brandlerianer, darunter auch die Führer der SAP, die theoretisch noch heute Thalheimers Schüler geblieben sind, sahen in der Kominternpolitik nur die «Ultralinksheit», lehnten und lehnen den Begriff des bürokratischen Zentrismus ab. Die gegenwärtige «vierte Periode», wo Stalin die europäische Arbeiterbewegung am Haken der Komintern nach rechts vom offiziellen Reformismus zieht, beweist, wie oberflächlich und opportunistisch die politische Philosophie der Thalheimer, Walcher und Co ist. Diese Leute wissen nicht eine Frage zu Ende zu denken. Gerade deshalb hegen sie so viel Abscheu für das Prinzip: aussprechen was ist, d.h. das oberste Prinzip jeder wissenschaftlichen Analyse und jeder revolutionären Politik.

1Tatsächlich erschien keine Fortsetzung mehr in „Unser Wort“, zur Fortsetzung siehe hier.

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