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Leo Trotzki 19350819 Brief des Genossen Crux an die deutsche Kommission

Leo Trotzki: Brief des Genossen Crux an die deutsche Kommission

[Nach Bulletin der deutschen Kommission des Internationalen Sekretariats der IKL, S. 42-44]

19.8.1935

Werte Genossen!

Ich komme jetzt sehr selten dazu, deutsche Zeitungen zu lesen. Meine Informationen über das innere Leben Deutschlands beziehe ich meistens aus ausländischen Blättern. Daher habe ich ziemliche Hemmungen, an die inneren deutschen Probleme heranzutreten. Auch sind diese Probleme an sich ganz eigenartig. Sie stehen sozusagen zum ersten Male auf der Tagesordnung der Arbeiterklasse. Wir haben daher, so scheint es mir wenigstens, die Diskussion mit der größten gegenseitigen Nachsicht zu führen. Sonst verliert man leicht den Mut, die eigenen Gedanken auszusprechen. Was ich in den folgenden Zeilen sage, kann daher nur hypothetischen Charakter haben.

1.) Das Feuer gegen die SAP und die SAP-freundlichen Elemente, das ist die Vorbedingung für die weitere Entwicklung der deutschen Sektion. Die SAP führt offen Krieg gegen die Vierte Internationale. Sie bemüht sich, deren holländische Sektion zu zersetzen. Man muss die Leitung der SAP als Streikbrecher behandeln. Jedes Kokettieren mit den SAPistischen Tendenzen und Elementen im Sinne von Gehler muss scharf gebranntmarkt werden.

2.) Ich kann mir nicht zu eigen machen, was im 13. § der Thesen des AK über unsere Aufgaben in Bezug auf die Betriebsarbeit gesagt wird. Gerade in Zeiten der tiefsten Konterrevolution bietet die Betriebsarbeit die größten Möglichkeiten. In jedem Betrieb gibt es sicher Gruppen alter sozialdemokratischer, manchmal auch kommunistischer Arbeiter, die einander gut kennen, zueinander volles Vertrauen haben und sich durch einen Wink ganz gut verständigen können. Sie sind jedem Neuen und Außenstehenden gegenüber misstrauisch, zueinander aber haben sie vollständiges Vertrauen. Findet man in ihre Reihen Zutritt, so findet man gleichzeitig ein günstiges Milieu, Deckung vor den Spitzeln, einen Stützpunkt für die weitere Tätigkeit. Daher muss man sich doch auf Betriebsarbeit einstellen. Da man aber sehr schwach ist, so sollte man sich für gewisse Zeit auf den einen oder anderen Betrieb konzentriere: bis man dort Fuß fasst und von dort aus durch die Verbindungen der alten Arbeiter untereinander in andere Betriebe Zutritt findet. Sonst läuft man Gefahr, als rein propagandistische Gruppe, die wichtigsten, ja ausschlaggebenden Prozesse in der Arbeiterklasse zu übersehen und von den Ereignissen überrumpelt zu werden.

Der § 15 spricht in ganz allgemeiner Form von der Notwendigkeit der Verbindung der illegalen mit der legalen Arbeit; und der § 16 verzichtet in dieser Hinsicht auf Rezeptemacherei.

Die illegale Arbeit braucht, wenn sie sich nicht auf bloßes Zeitungslesen beschränkt, indes ein sympathisierendes Milieu. Das kann man nur in den Betrieben finden. Von dort aus kann man auch durch die Erfahrung die Verbindung der legalen und illegalen Möglichkeiten allmählich lernen und praktisch erweitern.

Der § 17 und 18 behandelt die Frage der IV. Internationale und des Defätismus. An die IV. Internationale herantreten kann man jetzt mit Erfolg in erster Linie an Hand der Kriegsfrage. Auch hier heißt es vor allem die Quacksalberei der SAP lächerlich machen; den weltumspannenden Kampf für den Frieden, die Abrüstung, die demokratische Kontrolle der Rüstungen usw. Schlägt man den linken Pazifismus tot, dann ist der Pazifismus im Allgemeinen zunichte gemacht, die Frage des Defätismus muss man jetzt auch ganz konkret stellen. Auch der revolutionäre deutsche Arbeiter will absolut nicht zum Handlanger des französischen Imperialismus werden und dazu treibt der Stalinismus. Die Pieck, Cachin usw. können den deutschen Arbeiter vom Defätismus nur abschrecken. Der defätistisch eingestellte deutsche Arbeiter muss seinen Gesinnungsgenossen draußen suchen, und das sind nur die Bolschewiki-Leninisten. In diesem Sinne wirbt man für die IV. Internationale.

3.) Jetzt zur Kirchenfrage: Ich glaube, dem Wesen der Sache am nächsten zu kommen, wenn ich mit folgendem Zitat aus den Ausführungen der Gen. Dubois [Ruth Fischer] in der Kommissionssitzung vom 15. 7. beginne: Dubois - versteht nicht, wie sich in Nicoles Kopf die furchtbar radikale Losung ,Nieder mit den radikalen Exministern' und die ,Unterstützung der Kirche in Deutschland' reimen kann." Von einer Unterstützung der Kirche kann natürlich keine Rede sein. Es kann sich für uns nur um die Frage handeln, ob wir den politischen Kampf der Katholiken und Protestanten um das Recht, Katholiken und Protestanten zu bleiben und als solche zu handeln, unterstützen oder nicht. Diese Frage ist zu bejahen. Dass wir uns dabei für die Religion und die Kirche nicht positiv engagieren, sondern dabei unsere Gegnerschaft gegen Religion und Kirche soweit es nur geht betonen, ist selbstverständlich.

Es ist mir aber nicht klar, was das mit der Losung ,Nieder mit den radikalen Schuften (nicht nur mit den Exministern)' zu tun hat. Diese Losung ist nichts anderes als die Forderung, die Klassengemeinschaft zu brechen. Da die Reformisten und Stalinisten sich weigern, diesen Bruch zu vollziehen, so werden sie dadurch in den Augen der Arbeiter kompromittiert. Daher ist die Losung ,Hinaus mit den radikalen Bourgeois aus der Volksfront' eine vollständig richtige marxistische Losung im gegebenen Moment. Stellen wir uns aber vor, und das ist nicht so schwer, die Faschisten beginnen morgen (episodenweise haben sie das schon getan) Freimaurerlogen zu stürmen oder radikale Zeitungen zu zerstören. Die Arbeiter werden selbstverständlich auf die Straße gehen, um die Freimaurerloge zu verteidigen helfen. Was ist aber die Freimaurerei? Auch eine Art Kirche, um das freisinnige Kleinbürgertum den Interessen der haute finance gefügig zu machen. Können wir die Freimaurerei unterstützen? Nie und nimmer. Wir können und sollen aber ihr Recht auf Existenz, wenn nötig mit dem Gewehr in der Hand gegen den Faschisten verteidigen. Um dessen fähig zu sein, muss die Arbeiterklasse revolutionär eingestellt und kampffähig bleiben. Der Front Populaire macht dies aber unmöglich. Um daher eventl. auch die Freimaurerei verteidigen zu können, muss man die radikale Bourgeoisie aus dem Front Populaire vertreiben. Es besteht hier auch nicht der geringste Widerspruch. Wenn wir dieses Missverständnis gut aufklären, so können wir, glaube ich, auch der deutschen Kirchenfrage näherkommen

In der modernen Gesellschaft geht die Kirche mit den Interessen des Finanzkapitals, d.h. der herrschenden Gewalt. Ihre Einflusssphäre bleibt aber überwiegend das Kleinbürgertum und der kleinbürgerlich gefärbte Arbeiter, seine Frau usw. Bei der Arbeiterschaft hat die Funktion der versöhnenden und tröstenden Kirche seit langem die Sozialdemokratie übernommen und zu einem bedeutenden Grade die Kirche verdrängt. Das immer mehr zu Boden gedrückte Kleinbürgertum kann auf die Kirche nicht verzichten, insoweit als es Kleinbürgertum bleibt, und darin besteht eben das Wesen des jetzigen Konfliktes in Deutschland, Durch die unerhörten inneren Gegensätze, die unermesslich schärfer sind als in Italien und sich immer mehr verschärfen, treibt die Staatsgewalt zu immer höherer Konzentration. Der faschistische Staatsgötze will und kann keine Konkurrenz dulden. Der Nationalsozialismus will die Religion in sich aufsaugen und seinen Staat vergöttern. Da aber der toll aufrüstende faschistische Staat das Kleinbürgertum immer mehr zu Boden drückt, so kann das Kleinbürgertum auf die mystische Entgeltung der Kirche für die Wunden des Staates nicht verzichten. Sozial gesprochen, ist es nur eine Arbeitsteilung zwischen Kirche und Staat. Jeder rechtgläubige Spießer ist aber jetzt durch diese Arbeitsteilung, die zum politischen Konflikt geworden ist, innerlich zerrissen. Zwei Seelen ach in seiner Brust. Diesen Konflikt heißt es zu schüren und in erster Linie gegen den Staat zu lenken.

Die leitenden Schichten der Bourgeoisie bleiben dabei selbstverständlich nicht abseits. Sie haben die Hitlerbande an die Macht lassen müssen, doch deren Abenteurerpolitik hält sie in ewiger Sorge. Hindenburgs schwankende Haltung bei der Ernennung Hitlers bleibt immer ein Symbol für die Einstellung dieser Schichten. Die Kirche betrachten sie als eine ewige Einrichtung, nach Lloyd Georges Ausspruch als Kraftstation aller politischen (herrschenden) Parteien, die Nazi aber nur als Notbehelf. Daher schüren sie ihrerseits den Kirchenkampf und suchen zu gleicher Zeit zusammen mit den Kirchenfürsten, den vernünftigen" Rahmen nicht zu überschreiten. Wenn wir von „Unterstützung" des Kampfes sprechen, so heißt es in erster Linie Unterstützung gegen den Nazistaat, in zweiter Linie gegen jene Schichten der herrschenden Klassen, die diesen Kampf zugleich schüren und bremsen, um dadurch Hitlers Respekt sich zu wahren.

Losungen wie Trennung von Kirche und Staat, von Schule und Kirche sind natürlich richtig an sich und müssen bei Gelegenheit auch ausgegeben werden. Aber diese Losungen treffen eigentlich nicht ganz recht den Nagel auf den Kopf. Denn es handelt sich um das Recht der Katholiken und Protestanten – ohne Rücksicht darauf, ob die Kirche als solche vom Staat getrennt ist oder nicht – als Protestanten oder Katholiken ihr religiöses Opium zu verzehren, ohne dabei in ihrer Existenz bedroht oder beeinträchtigt zu werden. Es handelt sich in erster Linie um Gewissensfreiheit, dann um Gleichberechtigung ungeachtet der Konfession (Heide, Katholik, Protestant usw.) dann um Vereinsrecht (die katholischen Jugendorganisationen usw.)

Der Streit um das Wort bedingungslos unterstützen scheint mir mehr ein Wortstreit zu sein. Niemand will doch natürlich vorschlagen, dass wir jede Forderung der kirchlich eingestellten Opposition unterstützen sollen. z.B. die Vermehrung des Religionsunterrichtes in den Schulen oder die Erhöhung der staatlichen Subventionen an die Kirche usw. Ich habe das Wert bedingungslos so verstanden, dass wir unsere Pflicht dieser Oppositionsbewegung gegenüber zu erfüllen haben, ohne irgendwelche Bedingungen an die beteiligten Organisationen zu stellen. Das muss man auch für selbstverständlich halten. Welche Bedingungen könnte man denn in der jetzigen Situation stellen, und welche Gegenpartei würde sie akzeptieren? Es heißt nur, wirkliche und wirksame Methoden und Wege zu finden, in den Kampf einzugreifen, die kirchlich-demokratische Opposition zu schüren und zu erweitern, den jungen Katholiken, insbesondere den Arbeitern, in ihrem Kampfe Beistand zu leisten (nicht natürlich der Nazipolizei, die die kirchlichen Organisationen „zerstören" will) usw. So haben wir in Russland immer den Kampf der armenischen Kirche um ihre Autonomie wie den Kampf der verschiedenen bäuerlichen und kleinbürgerlichen Sekten gegen die mit dem Staat verwachsene orthodoxe Kirche in Schutz genommen und zuweilen auch mit großem Erfolg.

Dass die schlummernden Kräfte des Proletariats von dieser, ihrer sozialen Basis nach erwachenden kleinbürgerlichen Opposition gegen den fasch. Staat einen rettenden Antrieb bekommen könnte, ist höchst wahrscheinlich. Sicher ist es natürlich nicht. Sicher wäre es bei Vorhandensein einer starken und klugen rev. Partei. Die gibt aber nicht. Wir stehen erst in den Anfängen. Man muss aber alles tun, was in unseren Kräften ist. In erster Linie hat die Frage eine große erzieherische Bedeutung für unsere eigenen Kader, die vielleicht zu lange eine rein propagandistische Einstellung bewahrt haben. Eine Wendung scheint mir ganz notwendig zu sein. Der Kirchenkampf kann für sie nicht nur den Ausgangspunkt, sondern auch günstigere Bedingungen schaffen.

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