Leo Trotzki: Die neue Ära der „Sowjetdemokratie“ [Nach Unser Wort. Halbmonatsschrift der IKD, 3. Jahrgang 1935, Nr. 2, Anfang März 1936 (Nr. 54), S. 3] Um wenigstens teilweise den abstoßenden Eindruck zu übertönen, den Stalins Gericht über seine politischen Gegner, unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Terroristen, hervorrief, hat man eine große demokratische Reform verkündet: die Kolchosbauern werden als Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft in ihren politischen Rechten den Industriearbeitern gleichgestellt. Die Lakaien schreien aus diesem Anlass vom anbrechenden Reich der wahren Demokratie (aber was war denn bis gestern?) Das ungleiche Wahlrecht der Arbeiter und Bauern hatte seine sozialen Ursachen. Die Diktatur des Proletariat in Wahlvorrechten der Arbeiter. Die Ungleichheit der Rechte hatte jedenfalls zur Voraussetzung das Vorhandensein von Rechten. Die Sowjetordnung gab den Werktätigen die Möglichkeit, tatsächlich den Schicksal des Landes zu bestimmen. Die politische Macht war in der Hand der Vorhut – der Partei – konzentriert. Durch Sowjets und Gewerkschaften stand die Partei stets unter dem Druck der Massen. Mit diesem Druck ordnete die Partei sich die Sowjetbürokratie unter. Reinster Unsinn ist es, dass die Bauernschaft in zwei, drei Jahren Kollektivierung habe sozial umerzogen werden können. Der Antagonismus Stadt-Land besteht noch immer in seiner ganzen Schärfe. Die Diktatur ist auch heute undenkbar ohne die Vormachtstellung des Proletariats über die Bauernschaft. Doch die Ungleichheit in den politischen Rechten der Arbeiter und Bauern hat ihren realen Inhalt verloren, da ja die Bürokratie den einen wie den anderen die politischen Rechte endgültig genommen hat. Vom Standpunkt der Mechanik des bonapartistischen Regimes hat die Wahlkreiseinstellung so gut wie keine Bedeutung. Die Bürokratie hätte dem Bauern zehnmal mehr Stimmen geben können als dem Arbeiter – im Ergebnis käme doch dasselbe heraus, denn alle miteinander und jeder im Besonderen haben sie letzten Endes nur ein Recht: ihre Stimme Stalin zu geben. Die geheime Abstimmung mag auf den ersten Blick als ein wirkliches Zugeständnis erscheinen. Wer aber wird sich entschließen, gegen die offizielle Liste seine Kandidatur aufzustellen? Der mit Hilfe der „geheimen“ Abstimmung gewählte Oppositionelle wird ja doch sogleich nach den Wahlen zum erwiesenen Klassenfeind erklärt werden. Die geheime Abstimmung kann somit etwas Wesentliches nicht ändern. Die ganze Reform ist eine bonapartistische Maskerade, nichts weitet. Die Notwendigkeit einer solchen Maskerade ist ein einwandfreies Zeugnis für die wachsende Verschärfung der Beziehungen zwischen der Bürokratie und den werktätigen Massen. Weder die Arbeiter noch die Bauern brauchen demokratische Fiktionen. Solange Stalin die proletarische Vorhut mit beiden Händen an der Gurgel gepackt hält, solange werden alle Verfassungsreformen bonapartistischer Schwindel bleiben. L T. 10. Februar 1935 |
Leo Trotzki > 1935 >