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Leo Trotzki 19351107 Einleitung zu Fred Zellers Broschüre

Leo Trotzki: Einleitung zu Fred Zellers Broschüre

Vorwort zur Broschüre „Der Weg für revolutionäre Sozialisten“

[Eigene Übersetzung nach Leon Trotsky, The Crisis of the French Section (1935-36), New York 1977, S. 61ff.]

Diese kleine Broschüre sollte auf das Wärmste begrüßt werden. Mit anderen großen Teilen der Jugend ist der Genosse Zeller – Sekretär der Jugendorganisation des Seine-Bezirks und aktives Mitglied der Sozialistischen Partei – in der jüngsten Periode den wichtigsten Weg gegangen – vom Zentrismus zum Marxismus. Dieser Weg muss im Vorwort nicht beschrieben werden; die Leser sollten sich der Broschüre selbst zuwenden. Die Leser würden es wahrscheinlich am besten machen, wenn sie sich erst Zellers Darstellung zuwenden, die wertvolles Tatsachen- und politisches Material liefert, und sich dann seiner Einleitung zuwenden, deren Zweck es ist, die drängendsten Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der Ausschluss der Führer der Jugend in Paris und der führenden Mitglieder der Vérité-Gruppe (der Bolschewiki-Leninisten) aus der Sozialistischen Partei ist ein Faktor von größerer Bedeutung. Gegenwärtig findet in allen Ländern Europas angesichts der heranreifenden Kriegsgefahr eine politische Umgruppierung statt. Eine Differenzierung entlang dieser Linien hat in den Reihen des Proletariats begonnen. So wie die äußersten linken Führer der Bourgeoisie den demokratischen Parlamentarismus aufgeben, sobald die Verteidigung ihres Eigentums auf dem Spiel steht, so treten die Opportunisten die Parteidemokratie nieder, sobald ihr Sozialpatriotismus durch revolutionäre Internationalisten bedroht ist. Hierin liegt der Kern der Frage. Dass die Parteiführer alle „Satzungen“ und alle „Normen“ der Demokratie verletzt haben, wurde von Marceau Pivert unwiderleglich bewiesen, der, wie gut bekannt ist, weiter an Statuten glaubt, so wie gewisse naive „Republikaner“ an die Unveränderlichkeit der bürgerlichen Demokratie glauben.

Die traditionellen Sozialpatrioten – Léon Blum, Lebas, Zyromsky und andere – fanden sich nach der Erfahrung des großen Krieges für die „Demokratie“ in einer äußerst schwierigen Stellung. Sie fürchteten die defätistische Kritik der Kommunisten und das Misstrauen der Massen. Aus diesem Grund versuchten sie, de Frage der Vaterlandsverteidigung zu umgehen, ihre Lösung auf nach dem Ausbruch des Krieges zu vertagen, wenn die Werktätigen erneut kalt erwischt würden und es unter dem Deckmantel der Militärzensur viel leichter wäre, die Partei und das Proletariat an den Wagen der Vaterlandsverteidigung zu ketten. Plötzlich – ein Glücksfall! – kam die Sowjetdiplomatie zu der letzten Schlussfolgerung, dass die reformistische Bürokratie Hand in Hand mit der radikalen Bourgeoisie ein viel nützlicherer und zuverlässigerer Verbündeter ist als das revolutionäre Proletariat. Ein Kommando wird in Moskau erteilt, sich bei den Sozialpatrioten einzureihen und sich zusammen mit ihnen bei den Radikalen einzureihen, der linken Partei des französischen Imperialismus. Was für eine frohe Überraschung. Stalin hob Blum mit beiden Händen in den Sattel der Vaterlandsverteidigung. Sicher ging er dabei so energisch vor, dass Blum Angst bekam, er könnte auf der anderen Seite vom Pferd wieder herunterfallen. Daher Blums wehleidige Artikel: „Man kann es nicht so platt machen; man muss vorsichtiger vorgehen; man darf die Linken nicht erschrecken…“ Der Siebte Kongress der Komintern nahm sich Blums Ratschläge zu Herzen und verpackte seine sozialpatriotischen Resolutionen in möglichst große Unklarheit. Was konnte man mehr wollen? Die „Einheitsfront“ ist fast geräuschlos in nationale Einheit herüber gerutscht.

Aber von der Linken kamen plötzlich scharfe, sogar drohende Proteststimmen. Darüber hinaus nicht nur von den Bolschewiki-Leninisten (sie sind ein „Fremdkörper“!), sondern auch von der Mehrheit der Pariser Jungsozialistinnen. Was tun? Mit ihnen diskutieren? Leider leichter gesagt als getan. Wie kann man Argumente zur Verteidigung des sozialpatriotischen Verrats finden? Was kann man dem revolutionären Internationalismus entgegenstellen? Zyromsky versuchte, als Hauptargument die Notwendigkeit der Verteidigung der Sowjetunion aufzuwerfen. Es war, bitteschön, Guesde selbst, der die Notwendigkeit der Verteidigung der Russischen Revolution lehrte … nicht nur die Jugend lacht, sondern selbst die Pioniere beginnen zu lachen, wenn sie dieses Argument von den Lippen von Zyromsky hören. Wir wissen, wie Guesde die französische Demokratie verteidigte: indem er während dem Krieg Minister der imperialistischen Regierung wurde. Auch die Zyromskys haben genau diese selben Methoden im Sinn – dem Wesen wenn nicht der Form nach – wenn sie von der Verteidigung der UdSSR sprechen. Darauf antworteten die revolutionäre Jugend und die Bolschewiki-Leninisten zusammen: wir werden die UdSSR auf die selbe Weise verteidigen, wie wir uns selbst verteidigen, durch einen unversöhnlichen revolutionären Kampf gegen unsere eigene Bourgeoisie.

Angesichts dieser Argumente der Linken hat der äußerste Flügel der Sozialpatrioten keinerlei Wirkung – die Jugend ist für Karl Liebknecht und nicht für Zyromsky. Was kann man da also tun? Unterdrücken, ausschließen, zerschlagen! Wenn man den Flitter der Phrasen beiseite wischt, ist der Ausschluss der revolutionären Internationalisten gleichbedeutend mit einer Maßnahme durch die patriotische Polizei mit dem Ziel der Bewahrung der nationalen Einheit im Falle eines Krieges.

Naive Menschen werden einwenden, dass es hier ein Missverständnis gebe. Denn Chochoy selbst, der neue nationale Sekretär der Jugend ist „auch ein Internationalist“, er ist „auch“ gegen nationale Verteidigung und war doch für den Ausschluss von Fred Zeller und seiner Genossen. Offensichtlich ist der Schuldige … Zeller. Tatsächlich gibt es „Internationalisten“ des Typs Chochoy in der Natur gerade, um Léon Blum bei der Benebelung leichtgläubiger Menschen zu helfen. Der „Internationalist“, der seine Freundschaft mit der sozialpatriotischen Bürokratie über die Pflichten der revolutionären Aktion stellt, ist in Wirklichkeit nur das linke Kettenglied der imperialistischen Kette. Zu gewissen Zeiten braucht das Finanzkapital einen Daladier, einen Henderson, sogar einen Lansbury, um seine Absichten zu verbergen und die Massen zu beruhigen. Sobald sich der Rahmen ändert, verscheucht das Finanzkapital Daladier und ersetzt ihn durch Doumergue oder Laval. Auf die selben Weise braucht die sozialpatriotische Bürokratie während gewisser Perioden Chochoy für bestimmte Operationen, um ihn dann auf der nächsten Stufe zu entfernen und sogar auszuschließen, sollte er versuchen, den Mund aufzumachen. Wer immer diesen gerissenen Mechanismus nicht verstanden hat, bleibt ein blindes Kätzchen in der Politik – auch wenn er einen grauen Bart hat.

Die Zentristen der sogenannten Revolutionären Linken predigen uns, dass sie auch einen Kampf gegen die Ideen des Sozialpatriotismus führen, aber dass sie nicht ausgeschlossen werden. Der Fehler der Bolschewiki-Leninisten und von Fred Zeller liege darin, dass sie sich zusammen mit ihren Genossen nicht auf den ideologischen Kampf beschränkt hätten, sondern zu den Personen ihre Zuflucht genommen hätten und sich Angriffe auf die „angesehenen Führer“ der Partei erlaubt hätten. Das ist kein neues Argument, aber es lohnt sich, darauf einzugehen. Zu einer Zeit, wenn die Sozialpatrioten durch ihre Apparatunterdrückung die kommende Polizeiunterdrückung gegen die Defätisten vorbereitet und möglich macht, beliefern die zentristischen Rationalisierer die Bürokratie mit Argumenten zur Rechtfertigung der Ausschlüsse, ob sie es wünschen oder nicht. Behalten wir das fest im Gedächtnis!

Es ist notwendig, einen Kampf gegen Ideen zu führen und nicht gegen Führer!“ Aber das ist gerade das klassische Argument der „linken“ Menschewiki gegen Lenin während dem Krieg. Es gibt ein deutschen Sprichwort, das auf diesen Fall passt: man muss den Pelz nass machen, wenn man ihn waschen will. Ideen schweben nicht frei in der Luft; sie werden von lebenden Menschen gehegt, Menschen die sich in Organisationen vereinigen und ihre Führer auswählen. Es ist unmöglich, gegen bürgerliche Ideen zu kämpfen, ohne gegen die Führer zu kämpfen, die diese Ideen innerhalb des Proletariats verteidigen und erneut bereit sind, die Arbeiter auf dem Altar des Patriotismus zu opfern. Diejenigen, die sich anders als Chochoy und seinesgleichen, nicht sehnen, sich damit zufriedenzugeben, sonntags in abgeschlossenen Räumen auf der Flöte des Internationalismus zu spielen, um ihre eigenen Seelen zu trösten, diejenigen die die Losung von Marx und Engels „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ ernsthaft anwenden, haben die Pflicht, den französischen Arbeitern offen und mutig zu sagen: Léon Blum, Marcel Cachin, Léon Jouhaux, Monmousseau und Co. führen euch auf den Weg in die Katastrophe! Mag Marceau Pivert der Jugend sagen, ob – vom Standpunkt und den Prinzipien der innerparteilichen Demokratie – ein Sozialist das Recht hat, seiner Partei die Wahrheit zu sagen, d.h. dass die „angesehenen Führer“ einen neuen Verrat vorbereiten. Allem Anschein nach hat er das Recht. Was uns betrifft, nach unserer Meinung, steht die Pflicht revolutionärer Internationalisten über allen Verpflichtungen gegenüber der Parteibürokratie und ihrer „Disziplin“.

Léon Blum, Zyromsky und andere sind überhaupt nicht zufrieden damit, gegen die Ideen von Marx und Lenin zu kämpfen; sie eröffnen eine wilde Kampagne gegen die jungen Führer, die diese Ideen verteidigen. So ist die unausweichliche Logik des Kampfes. Aber die Zentristen weigern sich, das zu verstehen. Die linken Menschewiki rebellierten gegen Lenins „sektiererische“ Methoden, weil sie nur in Worten Internationalisten waren, während sie in Taten ihr unauflösliches Band mit den sozialpatriotischen Führern der Zweiten Internationale fühlten. So hasten auch die Rationalisierer der Revolutionären Linken zwischen den zwei Flügeln, beobachten den Ausschluss der Internationalisten, aber enden ständig dabei sich zu trennen – von den Ausgeschlossenen. Warum? Weil die Ausschließer ihnen politisch näher stehen. Sie halten uns Vorträge, dass mit unseren „sektiererischen“ Methoden (d.h. den Methoden von Marx und Lenin) organisatorische Einheit nie erreicht worden wäre. In der Zwischenzeit „streben die Massen nach Einheit“ und wir dürfen uns nicht selbst von den Massen „wegziehen“.

Vor uns ist hier die ganze Argumentation der unter einem ungünstigen Stern geborenen Führer der SAP,* die, wie man sachdienlich bemerken kann, nie irgendwelche Massen hinter sich hatten, jetzt keine haben und in der Zukunft nie welche haben werden. Wir sagen als Antwort, dass das instinktive Drängen nach Einheit ziemlich oft ein den Massen eigentümliches Drängen ist; aber ein bewusstes Streben nach Einheit auf revolutionärer Grundlage ist der Vorhut des Proletariats eigentümlich. Welche dieser Tendenzen sollten revolutionäre Marxisten unterstützen? Zum Beispiel hat die organisatorische Einheit der Arbeiterklasse in Großbritannien lange existiert. Aber gleichzeitig bedeutete sie die politische Einheit der Arbeiterklasse mit der imperialistischen Bourgeoisie. Der Verräter MacDonald sitzt in der konservativen Regierung von Baldwin; der patriotisch-pazifistische Henderson vertritt die konservative Regierung im Völkerbund bis zu seinem Todestag. Major Attlee, der neue Führer der Labour Party steht für vom Völkerbund unter dem Diktat der Londoner Börse verhängte imperialistische Sanktionen. „Organisatorische Einheit“ unter solchen Bedingungen ist eine Verschwörung der Arbeiterbürokratie gegen die grundlegenden Interessen des Proletariats.

Aber stehen die Dinge in Frankreich irgendwie besser? In den Tagen von Brest und Toulon waren vier bürokratische Apparate (die SP, die KP, die CGT und die CGTU) völlig „eins“ bei der Erdrosselung und Verleumdung des Aufstands, um ein freundliches Lächeln von den Radikalen zu bekommen. Die Einheitsfront in Frankreich wurde von Anfang an in ein Werkzeug der Kollaboration mit der Bourgeoise verwandelt. Die organisatorische Verschmelzung der Organisationen, wenn sie verwirklicht würde, wäre unter den gegenwärtigen Bedingungen nur eine Vorbereitung der nationalen Einheit. Jouhaux und Monmousseau haben schon Gewerkschaftseinheit erreicht, bei der die Interessen des Apparats garantiert, aber Fraktionen verboten sind, das heißt, sie ergriffen im Voraus Maßnahmen, um den revolutionären Sozialismus zu erdrosseln. Wenn Zentristen, die den Rechten hinterherlaufen, zu sehr die Einheit verkünden, müssen Marxisten dringend aufpassen. Einheit zwischen wem? Im Namen von was? Gegen wen? Wenn es keine klaren Definitionen der Ziele und Aufgaben gibt, können die Losungen der Einheit die schlimmste Falle werden. Die Marxisten sind für die Einheit wirklicher Revolutionäre, für die Verschmelzung von kämpferischen Internationalisten, die allein fähig sind, das Proletariat auf den Weg der sozialistischen Revolution zu führen.

Dies ist kein Sektierertum. Marxisten sind diejenigen, die am besten einen Weg zu den Masse finden können, und die, die dazu noch nicht fähig sind, werden es morgen lernen. Die Schule von Lenin ist gerade in diesem Bereich eine große Schule. Wenn die Sozialpatrioten zu einer organisatorischen Vereinbarung unter sich kommen würden (und das ist nicht einfach!) werden die Revolutionäre – innerhalb ebenso wie außerhalb der vereinigten Partei, je nach den Umständen – einen unversöhnlichen Kampf für die Befreiung der Arbeiter von den Ideen und Führern des Reformismus Stalinismus, Sozialpatriotismus etc. führen, gegen die Zweite und Dritte Internationale, die die Agentur des Völkerbunds geworden sind. Der Kampf für eine unabhängige Politik des Proletariats, für die Verschmelzung ihrer Vorhut auf der Grundlage eines marxistischen Programms, für die internationale Einheit der Arbeiter gegen den Imperialismus – dies ist der Kampf für die Vierte Internationale.

In den Ebben und Fluten unserer Epoche, zwischen großen Niederlagen und Desillusionierungen, dem Wachstum der konservativen Sowjetbürokratie, hat sich die älteste Generation beider Internationalen weitgehend erschöpft, ist eine leere Schale geworden und liegt am Boden. Der Aufbau der neuen Internationale fällt hauptsächlich der jungen Generation zu. Die Hindernisse sind groß, die Aufgaben sind gewaltig. Aber es ist gerade der Kampf gegen große Hindernisse, in dem kämpfende Kader gebildet und gestählt werden. Die Jungsozialisten der Seine und nach ihnen auch der Provinzen sollten und können einen Ehrenplatz bei dieser Arbeit einnehmen. Mehr Vertrauen in uns, in unsere Kräfte und in die Zukunft! Die Philister mögen über die Taktlosigkeit, Unbesonnenheit und Übertreibungen der Jugend heulen! Kader einer revolutionären Partei wurden nie in den Ballettschulen oder in diplomatischen Kanzleien geschult. Die Revolution ist nicht nur „taktlos“, sondern rücksichtslos, wenn die Notwendigkeit auftritt. Deshalb hassen die Herren Bourgeois den Leninismus (sie kommen ziemlich gut mit dem Stalinismus klar). Die Sozialpatrioten übersetzen die Ängste der Bourgeoisie in die Sprache von „Sanktionen“, schließen junge Bolschewiki aus der Partei aus, während zentristische Philister deswegen auf … die Vierte Internationale fluchen. Das braucht uns nicht zu sorgen. Alle diese Prozesse finden in der dünnen Schicht der Bürokratie und der Arbeiteraristokratie statt. Wir müssen tiefer in die Massen schauen, die in den Ketten der Krise schmachten, ihre Sklavenhalter hassen, den Kampf suchen, fähig zum Kampf sind und in Toulon und Brest schon ihren ersten Ansturm machen. Diese Massen brauchen weder leere Predigten über Einheit noch den falschen „Takt“ der Salons, sondern klare Losungen und mutige Führungen. Es ist unsere Hoffnung, dass Zellers Broschüre bei der Sache der Schulung der jungen Kader der neuen Internationale einen Dienst leisten wird!

* Die Emigrantengruppen der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) von Deutschland, von der es einen ziemlich beachtliche Zahl gibt, spielen heute die Rolle einer Bremse in der Arbeiterbewegung vieler Länder.

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